Oliver ZöllnerLetzte Sätze

Der musikalische Schlusspunkt

Der musikalische Schlusspunkt „A Day in the Life“ von The Beatles (1967) Erschienen in: Letzte Sätze Von: Oliver Zöllner

‚Letzte Sätze‘ finden sich als letzte Töne auch in der Musik. Ein berühmtes Beispiel ist der dramatische Klavierakkord in E-Dur am Ende des Stückes A Day in the Life, dem letzten Titel auf dem Beatles-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von 1967. Er ist mit 5:03 Minuten Spieldauer das längste Stück, das die Beatles bis dato produziert hatten. Es endet mit einem Ton, der für etwa 40 Sekunden verhallt: Ein synchronisierter Anschlag dreier Klaviere und eines Harmoniums, aufgenommen in den Londoner Abbey Road Studios und in der Abmischung als ein drone (stehender Ton) übereinandergelegt1, beschließt einen thematisch mehrfach geteilten, teils hektisch, teils psychedelisch schwebend anmutenden Song, der die Hörer:innen durch die Höhen und Tiefen eines typischen Tages mitnimmt und die Absurdität des Lebens nachzeichnet. Im Aufbau des Songs folgt der Schlussakkord auf ein längliches orchestrales Glissando und eine dramatische Pause von etwa einer Sekunde Dauer. Er wirkt dadurch sehr eindrücklich. Dieser Schlusspunkt ist seinerzeit für ein Popmusik-Album ein äußerst ungewöhnliches Finale – und ist dies auch heute noch.

Abb. 1: Beatles-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (EMI Parlophone PCS 7027), Foto: Oliver Zöllner

Der im Songtitel aufscheinende „Tag im Leben“ wird mittels assoziativ aufgelisteter Fragmente banaler Alltäglichkeiten aus der Zeitungsberichterstattung narrativ vermittelt. Der Ich-Erzähler mit der Singstimme von John Lennon gibt sie recht spröde und dekontextualisiert wieder: In der ersten Strophe kommt ein junger Mann bei einem Verkehrsunfall ums Leben; in einem Kinofilm hat „the English Army“ gerade einen Krieg gewonnen. Über eine aufsteigende Tonfolge gesungen, besteht der kurze Refrain des Songs aus der Textzeile „I’d love to turn you on“, ein Sprachklischee der zeitgenössischen Hippie-‚Gegenkultur‘ und ein Code für den Konsum psychedelischer Drogen: „If anything predetermined A Day in the Life, it was LSD.”2 Eine andere Stimme zählt von 1 bis 24. Ein Wecker klingelt. Ein in Thema, Tempo und Sound andersartiger Mittelteil des Songs, gesanglich vorgetragen von Paul McCartney, spiegelt nun in knappen Worten recht hektisch einen typischen Tag im Leben und gibt so dem Song seinen Titel: aufwachen, aus dem Bett fallen, die Haare kämmen, eine Tasse trinken; es ist schon spät; den Mantel und den Hut schnappen, noch knapp den Bus erwischen, im Büro ankommen, etwas rauchen und in einen Traum fallen. Der langgezogene Schrei, den man nun in klanglicher Konkurrenz zu orchestralen Fanfaren hört – er könnte ein Angstschrei sein oder ein drogeninduzierter Schrei der Befreiung oder Ekstase –, lässt den Protagonisten in einer anderen Sphäre seltsam gefangen wirken. Der Schrei baut eine Brücke zur zweiten Strophe. Sie fasst lapidar einen Zeitungsartikel zusammen, demzufolge eine Straße in Blackburn in der Grafschaft Lancashire so viele Asphaltlöcher hat, dass deren Hohlmaße mit denen einer Konzerthalle vergleichbar seien. Dies erscheint alles sehr seltsam. Wieder folgt der von John Lennon gesungene kurze Refrain, in dem der Protagonist seinen Wunsch ausdrückt, die Zuhörenden anzuknipsen, also ihr Bewusstsein zu erweitern, auf welche Art und Weise auch immer. Wieder zählt eine Stimme (es ist die eines Assistenten der Beatles) von 1 bis 24, während sich pompöse Orchesterklänge in wachsender Lautstärke in zunehmend höhere Tonlagen schrauben. Es klingt erdrückend. Dann Stille. Dann der zunächst laute, allmählich verhallende Schlussakkord. Das also war „ein Tag im Leben“. Für eine Popmusik-Produktion war dies 1967 in Songstruktur, Arrangement und Sounddesign höchst ungewöhnlich. So mutet es auch bald 60 Jahre später an, nachdem das Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band längst zu einer der großen Landmarken der Popmusik geworden ist. A Day in the Life erscheint in diesem Songkonvolut als ein Titel „which remains among the most penetrating and innovative artistic reflections of its era.“3

Auf einigen Ausgaben des Sgt.-Pepper-Albums, vor allem bei der britischen Originalpressung der Stereoversion4, findet sich nach dem Schlussakkord in der Auslaufrille noch eine etwas rätselhafte, insgesamt rund fünfsekündige Toncollage, die als locked groove (gefangene Rille) endlos läuft, sofern in der Nutzungssituation daheim nicht schon vorher die automatische Tonarm-Anhebung oder Ausschaltautomatik des Plattenspielers aktiv wurde: Vor dem Hintergrund eines extrem leisen hochfrequenten Tons (ein Signalton als Anweisung für Schneidtechniker:innen der Plattenmatrize) und nach einem kurzen Lachen sagt eine klanglich manipulierte, möglicherweise auch rückwärts abgespielte Stimme „Never could be any other way“ als Antwort auf ein schwerverständlich dahingeseufztes „So high“. Diese Wortfetzen werden in der Auslaufrille alle 1,8 Sekunden wiederholt – so lange währt eine locked groove –, und wenn man nicht ausschaltet, vielleicht bis in alle Ewigkeit.

Möglicherweise ist diese Collage ein witzig gemeinter dialogischer Kommentar der Komponisten Lennon und McCartney. Sie wurde in etlichen Märkten nicht mitprogrammiert, also nicht als Modulation in die Rillenschrift aufgenommen, vermutlich wegen eines deutlichen inhaltlichen Bezugs zu psychedelischen Drogen oder aufgrund einer Nachlässigkeit – oder schlicht, weil das Schneiden einer perfekten locked groove einige handwerkliche Mühen bereitet. In den Mono-Ausgaben des Sgt.-Pepper-Albums ist die Collage nicht enthalten, weil John Lennon die Idee zu dieser kleinen Spielerei erst nach der Mono-Abmischung des Albums kam, der streng genommen ersten Werkfassung.5 Sie ist also ein post scriptum zu einem ohnehin sehr final wirkenden Schlusspunkt.

Die recht enervierende Wiederholung der Klangfetzen ist ein durchaus passendes Sinnbild für ein menschliches Leben, das man sich als eine Abfolge von relativ kurzen Abschnitten vorstellen darf, die als Tage immer wieder von vorn beginnen und, wenn wir zurückblicken, meist sehr gleichförmig und nicht selten aufreibend verlaufen, am Ende aber nicht viel bedeuten. Es verweist darauf, dass wir gefangen sind: lebensweltlich in oft seltsamen Bezügen und Abläufen, metaphorisch in the groove, hier konkret in einer Endrille. Für diesen Interpretationsansatz spricht die Tatsache, dass die kurze Collage im Panning-Verfahren abgemischt ist, die klanglichen Elemente also von links nach rechts hin- und herlaufen und dabei immer wieder von vorn beginnen, dem hektischen Leben im Hamsterrad nicht unähnlich, das der Protagonist in den vorangehenden Passagen des Songs schildert: vom Aufwachen bis zu mutmaßlich durch Drogen befeuerten Tagträumen. Diese Banalitäten des Alltags und ihre Sinnlosigkeit im Anblick der Endlichkeit des Lebens sind zum Verzweifeln – und diese Verzweiflung hört man dem mit furiosen Orchesterklängen unterlegten Schreien des Protagonisten an.

Insofern sind die ergänzenden Signale in der Endrille des Sgt.-Pepper-Albums ein klanglicher Kommentar zum grandiosen Schlussakkord von A Day in the Life: Irgendwann muss dieser banale, zugleich überdrehte Wahnsinn des Lebens enden. Zuvor schraubt er sich aber wie in einem orchestralen Crescendo in immer weitere Höhen, dem „Höher, schneller, weiter“ der Moderne folgend. Wir hören letztere in den zitierten Zeitungsmeldungen, die als scheinbar zusammenhanglose fragmentarische sound bytes die Überforderung des Menschen zum Ausdruck bringen. In den sozialen Online-Netzwerken der Gegenwart hat diese Art der Medialisierung einer erdrückenden Simultanität eine noch weiter intensivierte Form gefunden – ein großes und populäres Thema auch bereits um 1967.6

Als Hörer:in des Beatles-Songs ahnt man: Diese Überforderung kann nicht gutgehen, da steuert etwas auf einen Bruch zu, einen Kipppunkt. Der Schlussakkord von A Day in the Life ist in akustischer Form just dieser finale Punkt: der Tod, in dem das Leben bestenfalls noch ein wenig nachhallt, einem Nachruf in der Zeitung nicht unähnlich. In der Rückschau gibt es im Leben vielleicht ein paar gute Momente. Der Song will seine Hörer:innen zu wahrhaft Zuhörenden machen: Überdenke dein Leben.7 Der Schluss von A Day in the Life ist so auch als ethisch formuliertes memento mori der Sorge um sich selbst und somit gegen Tendenzen der Entfremdung vom Selbst zu lesen. Hier bleibt das Lied allerdings seltsam unscharf, indem es den Konsum von Drogen als Mittel des Eskapismus andeutet. Was genau der Protagonist des Beatles-Songs geraucht hat („had a smoke“), das ihn von anderen Welten, alternativen Realitäten oder einem besseren Leben tagträumen ließ, erfahren wir nicht. Das Zeitkolorit des Entstehungsjahres 1967 lässt aber erahnen, dass es auch etwas anderes als Tabak gewesen sein könnte. Drogen als Ausflucht können schnell zu einer Sackgasse des Lebens werden. Im Kontext des „Summer of Love“ und der „Flower Power“, deren Hochzeit Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band bis heute als „a distillation of the spirit of 1967“8 markiert, zeichnete sich das bereits ab. Nachgeborene mögen sich vor allem an bunte Kleidung und Blumen im Haar erinnern. Doch war 1967 jenseits aller Hippie-Romantik, zu der es heute verklärt wird, politisch ein eher düsteres Jahr. Die Revolte der ‚Blumenkinder‘ zielte gegen die vielfältigen Gewaltformen und gesellschaftlichen Verkrustungen ihrer Gegenwart ab. Der Zweite Weltkrieg („the war“) war noch sehr präsent, der Protest gegen den damals hoch aktuellen Vietnamkrieg war das große Thema der studentischen Revolte und der Antikriegsbewegung.9 Es war eine bedrückende Gegenwart.

Der harsche Schlussakkord, den der dröhnende Klavieranschlag am Ende von A Day in the Life setzt, ist im Kontext des Sgt.-Pepper-Albums mit seinen vielen komplexen und teils sonisch überwältigenden Einzeltiteln somit auch ein konzeptioneller Rückbezug auf eine Reduktion von Klang. Dieser Schlusspunkt konfrontiert den Menschen auf existentialistisch brutale Weise mit der Illusion eines sinnvoll gelebten Lebens. Pläne und Konzepte, die wir haben, werden zerstört oder abrupt beendet. Übrig bleiben sinnlose, lächerliche Statistiken wie die von den Hohlmaßen der Asphaltlöcher einer Straße in Lancashire oder trockene Berichte wie der vom Unfalltod des Sohnes eines Mitglieds der feineren Gesellschaft: ein nur halb gelebtes Leben, von dem in der nüchternen medialen Aufbereitung kaum mehr bleibt als ein kurzes Innehalten. So bitter, dass auch der sangliche Protagonist darüber lachen muss. Vielleicht überfliegt man einen solchen Zeitungsartikel in 40 Sekunden: ein letzter Satz, ein nur kurzer Nachhall.

References

  1. Vgl. Lewisohn, Mark (2013): The Complete Beatles Recording Sessions: The Official Story of the Abbey Road Years, London: Bounty Books, S. 97−99.
  2. MacDonald, Ian (1997): Revolution in the Head: The Beatles’ Records and the Sixties, 2. Aufl., London: Fourth Estate, S. 202.
  3. Ebd., S. 205.
  4. The Beatles (1967): Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. EMI/Parlophone (UK), Katalog-Nr. PCS 7027, Matrizen-Nr. YEX.638-1.
  5. Wonneberg, Frank (2016): Endrille, in: Ders.: Vinyl Lexikon. Fachbegriffe, Sammlerlatein, Praxistipps, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, S. 105.
  6. Vgl. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man, New York/London/Toronto: McGraw-Hill.
  7. Vgl. Bowers, Peggy J. (2006): She’s a Woman: The Beatles and the Feminist Ethic of Care, in: Michael Baur und Steven Baur (Hrsg.): The Beatles and Philosophy: Nothing You Can Think That Can’t Be Thunk, Chicago/La Salle: Open Court, S. 59−69, hier S. 68.
  8. MacDonald 1997, S. 220.
  9. Vgl. Hofacker, Ernst (2017): 1967. Als Pop unsere Welt für immer veränderte, Ditzingen: Reclam; Perry, Charles (1984): The Haight-Ashbury: A History, New York: Random House, S. 4f.

SUGGESTED CITATION: Zöllner, Oliver: Der musikalische Schlusspunkt. „A Day in the Life“ von The Beatles (1967), in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/der-musikalische-schlusspunkt/], 13.01.2025

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20250113-0830

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