Einfach Vergnügen?
Das Cover zeigt das Plakative, das Poppige, den Konsum. Jovana Reisingers Pleasure ist leuchtend gelb eingebunden, zentral zwischen den roten Schriftzügen (Großbuchstaben) sitzt ein Bild von Charlotte Adam. Sie ist Künstlerin, hatte schon ein „Gastspiel“ in der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin1 und es gibt eine Homestory über sie. Ihr Wohnstil sei inspiriert von Sex and the City und auch die Designeinblicke offenbaren Topoi eines Millennialsgeschmacks: Byredo-Duft, die 36 Hours der New York Times, Diptyque-Kerze, Snoopy-Tischlampe und Smeg-Wasserkocher.2 Das Coverbild ist ein Ausschnitt aus ihrem Hopper zitierenden Stillleben Nachtschwärmer.3 Man kann es als Druck kaufen, „[j]eder Print wird durch Charlotte Adam signiert und individualisiert“, 300 Euro, schmuck.4 Die Künstlerin kommt in Reisingers Text selbst vor. Im Kapitel über die Essiggurke ist sie die Absenderin einer gurkenzierenden Karte, das entsprechende Kunstwerk ist auf Instagram zu sehen.5

Das Bild auf dem Cover von Pleasure zeigt eine Coca Cola-Flasche, Pommes rot-weiß in Pappschale und mit Plastikgabel, ein Kärtchen, wohl mit Adams Namen darauf (auf Original und Druck ist es blanko), und dazu die Chanel Classic Flap Bag in Beige, in den 1980ern von Karl Lagerfeld entworfen. Billig trifft auf Teuer, Zucker auf Fett, auf Gold, auf Leder. Eine solche Chanel-Tasche kann man derzeit bei 1st Dibs für knapp 10.000 Euro kaufen.6 Adam schreibt auf Instagram:

Sie zeigt einen mit mehreren Exemplaren von Pleasure sowie Austern drapierten Tisch, Reisingers blau manikürte Finger träufeln Zitrone über die Austern, in einer anderen Sequenz sprudeln Champagnerbläschen neben aufgestellten Pleasure-Exemplaren und einer rosa Kelly Chanel-Tasche, in einer anderen signiert Reisinger Adams Buchexemplar: „ohne dich wäre das Buch nicht so schön“.7 Adam und Reisinger frönen dem Genuss der Buchpublikation mit Markierung kulturellen (Schaubühne, Verlagshaus, Buch) und ökonomischen Kapitals und performen die in Pleasure ausgestellten Genüsse: Kleidung (Chanel) und Essen (Austern). Sie bieten sich selbst und einer die sozialen Medien konsumierenden Menge Vergnügen, teilen bzw. erzählen öffentlich dieses individuelle Vergnügen, angstfrei vor Exposition, Statusverlust oder -zuschreibung etwa der eines Snobs (wie Paul Buckermann im Auftakt der Guilty Pleasures-Blogreihe erörtert). Die Narration der pleasures wird selbst zum Vergnügen und zugleich zum Mittel der Vermehrung ökonomischen Kapitals – Adam bewirbt ihre Nachtschwärmer-Edition gleich mit, das Theater sei an dem Abend ausverkauft, was das Verlangen nach einer weiteren Lesung und dem Buchkauf womöglich potenziert (und damit den finanziellen Output).
Ebenso selbstbewusst ist Reisingers Rubrizierung von Pleasure als „Manifest“ („für den Glamour“), die direkt auf dem Cover abgedruckt ist. Stefan Rieger schreibt, ein Manifest unterliege „nicht gängigen Kriterien textueller Rationalität“, darin bestehe „seine epistemologische Funktion“, sein Modus sei „eine oft affektiv vorgetragene Unbescheidenheit“, die Inhalte unterlägen „nicht in der gewohnten Weise Kriterien der Objektivierung, der Plausibilität, der Kohärenz und der Nachprüfbarkeit“, „[i]n Absetzung zu wissenschaftlichen Rationalitäten und erzählerischen Konventionalitäten“ schaffe es sich „seine eigenen Geltungsbedingungen“.8 Das „Manifest“ von Jovana Reisinger, Wirtshaustochter, Aufsteigerin, Künstlerin, Kolumnistin (Themen: Menstruation und Single-Dasein), Instagrammerin, Klassismuskritikerin, Feministin, Provokateurin und selbst ernannte Tussi9, reflektiert Fashioning, soziale Stratifikation, gesellschaftliche Subversion, Kulturbetrieb und Vergnügen primär aus individueller, affektiver Perspektive. Das Private wird öffentlich gemacht, die drei Kapitel lauten: „Ich ziehe mich an,“, „… um essen zu gehen.“, „Und im Anschluss schlafe ich.“ Als Fluchtpunkt dieser Narration von pleasure dient die eigene Transgressionsgeschichte. Herkunft ist nicht nur per se essentieller Aspekt von (guilty) pleasures und der Frage, wer sich wann, wie und warum Schamlust bzw. deren Inszenierung ob des Trashkonsums leisten kann und darf. Bei Reisinger ist sie auch die omnipräsente Begründung für das eigene konsumierende Vergnügen. Die Erzählung der Frau in ihren Mittdreißigern ist vor allem eine Auseinandersetzung mit der Klassendistinktion im Spiegel der eigenen Aufsteigerbiographie. Das wiederum provoziert die Frage, ob sich Reisinger auf ihrer Herkunft aus dem Arbeitermilieu ausruht, indem sie den weiten, milieukreuzenden Weg zu Erfolg und Anerkennung als Plazet für schamloses und genussvolles Vergnügen anführt. So „fluffy“ das Konzept von guilty pleasures ist, so die Worte einer KWI-Kollegin, so locker-flockig und zugleich problematisch ist Pleasure. Das Buch kritisiert Klassismus, aber inszeniert doch signifikant den Willen nach Anpassung an eine ‚Oberschicht‘, eine ‚Elite‘, forciert Aneignung, die am Ende apolitisch wirkt, auch weil sie eine rein individuelle Vorstellung ist. Es kritisiert nicht die Verschwendung, die mit dem Streben ‚nach oben‘ einhergeht, es plädiert nicht für Bildung, es beschreibt Konsum. Unweigerlich – das mag spießig klingen – drängt sich die Frage auf, warum man im Kontext von Klimakrise, wachsender sozialer Ungleichheit und Populismus ein Buch lesen sollte, in dem sich eine junge Frau gnadenlos selbst inszeniert, von Maniküreterminen, Lunchdates bis Bettgeschichten.
Pleasure gehe es, so die taz, um „jenes Spiel mit den Codes und Stereotypen, um Distinktion und Selbstdarstellungsmethoden“10, fokussiert wird in der Rezension die Selbststilisierung der Autorin, die einen durchaus herausfordert. Sind Lautstärke, Grellheit und Launigkeit ironisch? Bei Stichworten wie Barbie oder Paris Hilton würde Reisinger einen sogleich des Kurzschlusses überführen: Barbiecore sei durchaus (auch) feministisch und sage nichts über das Denkvermögen pink Gekleideter, Paris Hilton als geniale Inszenierung nutze messerscharf die Stil-/Geschmacks-Bedürfnisse einer konsumierenden, kommunizierenden und fotografierenden Masse. Teresa Präauer überlegt, vielleicht sei die Welt in ihrem bizarren Roman Oh Schimmi (2016) über Schimmi Schamlos, eine „White-Trash-Wunderwelt, in der […] Nagelstudios glänzen“, „in der Konsumgüter wichtig, Kleidungscodes unumgänglich und Übertreibung die Norm ist“, ihr „guilty pleasure“.11 In diese Welt führt Pleasure, aber Reisinger stellt ihr Ausleben gerade als schamloses Vergnügen aus. Die Räume sind ähnlich: „Meine Nägel sind fertig. Sie sind obszön, geschmacklos und hinreißend sexy. Vor allem aber sind sie ein Zeichen meiner Selbstfürsorge. In den 60 Minuten ihrer Produktionszeit gebe ich meine Hände ab, kann nicht arbeiten, nichts erschaffen, niemandem dienlich sein.“12 In dem Moment, in dem sie sich im Nagelstudio die Nägel machen lässt, arbeitet sie nicht, ist nicht produktiv in Sinne einer kapitalistisch konturierten gesellschaftlichen Wahrnehmung (wie auch nicht beim Schlafen während eines Stipendien-Programms), aber jemand anderes arbeitet: derjenige, der die Nägel macht. Der (wahrscheinlich die) kommt nicht vor. Eva Marburg merkt an, dass das Buch den Preis der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, der mit dem Konsumhunger zusammenhänge, wenig reflektiere. „Ein neoliberaler Geist weht somit durch den Essay“, ausgestellt werde ein „radikal individueller Wohlfühl-Feminismus mit Mitteln des Konsums […], der letztlich einer Ethik entbehrt“.13
Reisinger macht sich frei bzw. versucht, sich frei zu machen, von plakativen, patriarchalen oder anderen überkommenen Einstellungen, Vorurteilen und Zuschreibungen (etwa über die stilsichere, erfolgreiche Frau/Künstlerin), indem sie diese vorführt, auf die Spitze treibt. Den Bogen zu überspannen, ist nicht grundsätzlich problematisch. Akzentuierung schafft Klarheit. Aber es bleibt fraglich, inwiefern Reisinger das klassistische System (auch der Kulturelite) unterminiert, eine Andersartigkeit präferiert und provoziert, wenn sie am Ende doch die Sprache ihres Herkunftsmilieus ablegt und einem allgemeinen Geschmack der kulturellen und finanziellen Elite folgend Törtchen und Champagner im KaDeWe konsumiert und (noch ein Topos) Austern bei Rogacki in Charlottenburg (und nicht Pasta wie Fran Lebowitz). Der Vorwurf des Moralinsauren liegt auf der Hand, aber: Wie angemessen sind der in Pleasure inszenierte ausschweifende Konsum und die Selbstdarstellung? Reisinger nennt ihr Buch „ein Manifest für den Glamour, eine Lanze für das Rumliegen, die Völlerei, den Kitsch“.14 Das Buch präsentiert vor allem Konsum und weniger Konsumkritik: Kleidung, Essen, Hotels, Einrichtung, Reisen, Partys. Charlotte Adam wurde in einem Magazin beschrieben (und diese Position platziert sie prominent auf ihrer Homepage) als eine Künstlerin, die mit ihrer Malerei den Konsum hinterfrage: „Luxuriöse Designertaschen, ästhetisch dekorierte Esstische, frische Lebensmittel – sie alle sind Protagonisten in Charlotte Adams Stillleben. Trotz der Schönheit und des Genusses, den sie vermitteln, sollen sie auch einen kritischen Blick auf Sehnsüchte und die Konsumgesellschaft werfen.“15 In Reisingers „Manifest“ sieht man diesen (von der Presse Adams Kunst zugeschriebenen) kritischen Blick weniger. In der Vogue sagt sie, das
vermeintliche Schuldbewusstsein im Konsum ist – wird es als ‚Guilty Pleasure‘ wegkokettiert – nichts anderes als eine Pose, ein Augenzwinkern; und immer eine Abgrenzung zu anderen sozialen Gruppen. […] Was gemeinhin unter ‚Guilty Pleasure‘ verstanden wird, verdeutlicht, was prinzipiell als schlechter Geschmack verbucht und als minderwertiger Konsum diskreditiert wird. Diese Stigmatisierung soll als Distinktionsmerkmal dienen […] – und ist damit nichts weiter als klassistisch. Genug der Scham. Nachdem wir das ‚Guilty‘ als hochnäsige Behauptung nun losgeworden sind, kommt das tatsächlich begründete Schuldbewusstsein zurück in den Kontext. ‚Pleasure‘ ist zuallermeist im Konsumieren von etwas begründet. Und Konsum ist, egal wie, eine komplexe Angelegenheit. […] ‚Guilty‘, also schuldbeladen, ist vieles davon auch deshalb, weil die Verfügbarkeit auf der Ausbeutung von Menschen und unserem Planeten beruht.
Und weiter:
Bewusster Verzicht ist in den letzten Jahren regelrecht zum Trend mutiert. Kein Alkohol, kein Zucker, keine Carbs, kein Fleisch, kein Ausgehen, Beauty-Trends wie die ‚Clean Girl‘-Ästhetik. Da fühlt es sich durchaus erfrischend an, dass soeben ‚Brat‘16 (übersetzt: Göre) der Trend des Sommers war und sich seine Initiatorin, die Popsängerin Charli xcx, als Spaß liebendes, rauchendes Partygirl inszeniert […]. Auch mich reizt die Absenz der Genussfähigkeit, die durch ein strenges Protokoll ersetzt wird, herzlich wenig. […] Ich gebe es zu: Oft begnüge ich mich mit der Gewissheit, dass ich ja selbst ‚von unten‘, also aus einer Arbeiter:innenfamilie komme und mir dieser Genuss lange verwehrt wurde. Manche Spielarten des ‚Pleasure‘ sind, gerade wenn sie von unten kommen, politisch. Sie sind ein Regelbruch, ein Affront gegen die Vorstellungen des Bildungsbürger:innentums. […] Der Sehnsucht nach Hedonismus muss mit Verantwortung begegnet werden. Wie die aussehen könnte, liegt einer entlarvenden Selbstbefragung zugrunde. Dabei sollte einem der Spaß niemals abhandenkommen; das Bewusstsein und Mitdenken der eigenen Privilegien aber auch nicht.17
Pleasure stellt aber nicht die Verantwortung, sondern den Spaß aus (wie auch der Vogue-Artikel in der Printausgabe mit Austern, lackierten Fingernägeln und Schmuck – einem Foto von Thomas Lagrange / Trunk Archive – garniert wird), benennt zwar die klassistischen Grundlagen von Vergnügen, zelebriert dieses aber vor allem, legitimiert durch die individuelle Aufsteigerbiographie. Bei Reisinger sind es nicht die Diamanten, sondern die Strasssteine. Dussmann zeigt die Autorin auf Instagram beim Signieren von stapelweise Büchern, in eines (oder alle?) schreibt sie: „Strass [in einem Herz, umgeben von kleinen Herzchen] die Diamanten der kleinen Frau“. Aber Reisinger lebt letztlich einen Konsumluxus, den sich nicht nur, einerseits, wenige leisten können (und wollen?), sondern der gerade im Zuge von Fragen der Nachhaltigkeit und sozialer Ungleichheiten unangenehm wirkt. Entgegnen könnte man, Konsum (auch noch marktwirtschaftlich wichtig) sei sowieso oft maßlos und nicht nachhaltig, auch wenn sich die Konsumierenden, anders als Reisinger, öffentlich schicklich zurückhielten, etwa eine Clean Girl-Ästhetik bedienen, die aber teuer erkauft ist (durch Kosmetika von La Mer, Dr. Barbara Sturm etc.). Trotzdem bleibt Pleasure eine Feier des Überkonsums. Die ist nicht ironisch, sondern ernst gemeint. Und weil Pleasure ausschließlich die Perspektive von Reisinger selbst, einer 1989 geborenen Frau darstellt, bleibt die Perspektive begrenzt – nicht zufällig rezensierten bislang vor allem nach 1980 geborene Frauen das Buch (und moderieren Veranstaltungen dazu, wie z.B. Anna Mayr, Autorin von Geld spielt keine Rolle).
In der Nähe der Autorenbuchhandlung Berlin, in der Pleasure im Oktober 2024 ausliegt, findet sich das Hoxton Charlottenburg. Gegenüber der Rezeption hängt Adams Nachtschwärmer-Druck. Das Publikum des Hotels ist eine „youthful, dressed-down crowd along with older business guests, as well as Hoxton groupies“,18 deutsche Schauspieler:innen feiern dort, wie die Vogue weiß19, die Süddeutsche Zeitung kann über die Pyjamas berichten. Man bekommt dort (auch als Nicht-Gast im Shop) welche des Labels Tom Àdam: „Das Material besteht aus nachhaltigem Leinen und wird in Handarbeit in Lettland gefertigt, mindestens so toll ist allerdings die Farbe: late night bordeaux. Nachteil: Wahrscheinlich will man das Zimmer dann gar nicht mehr verlassen (limitiert auf 65 Stück, unisex, 270 Euro, […]).“20 Der Pyjama, zuletzt bei 295 Euro und inzwischen vergriffen, wobei die Limitierung das Verlangen sicher gesteigert hat, sei für diejenigen „who enjoy indulging in the pleasures of life“, so der Designer.21 Günstig ist das alles nicht, weder die Chanel-Tasche noch die Auster, die Reisinger in Berlin isst (zumindest nicht, wenn man dem Schlürfen in der Hauptstadt und nicht an der Atlantikküste nachgeht, wo es die Auster für ein bis zwei Euro gibt), noch der Pyjama, in dem sich Pleasure bestimmt gut lesen ließe. Soll es auch nicht. Es ist Luxus, den sich nur wenige leisten können. Vielleicht ist die Lektüre von Pleasure im Angesicht von hotelzierenden Kunstprints und Leinenpyjamas das wertigste und nachhaltigste/nachhallendste Vergnügen – für den Preis erhält man an der Austernbar des KaDeWe gerade mal drei Gillardeau-Austern Nr. 2.
Pleasure ist auch deshalb ein gutes Beispiel für die Kniffligkeit von guilty pleasures, weil der Modus der eigenen Rezeption eines Objekts gleich mit zur Diskussion steht und damit die Frage nach der Konfession der Schamlust selbst, also: Ist die Lektüre von Pleasure selbst ein guilty pleasure? Man liest trotz aller Wiederholungen weiter, es ist irgendwie catchy. Zuweilen möchte man den Schutzumschlag beim Lesen in der Öffentlichkeit lieber abziehen, aber dann fällt das Buch in seinem leuchtenden Rot fast noch mehr auf. Gerade wenn man Absätze liest wie den im Folgenden zitierten (den auch Sarah Pines in ihrer Kritik unlängst heranzog22) und sich insgeheim dann doch fragt, was entweder derjenige von einem denkt, der einem beim Lesen über die Schulter schaut, oder diejenige, die diese Sätze bereits gelesen hat, ob zugetan oder abgestoßen, und nun Pleasure in den Händen der anderen sieht und sich fragt, wer man so sei (auch Literaturgeschmäcker machen Leute):
Die pinke strassbesetzte No-Name-Clutch – fotzig. Das semitransparente Diesel-Kleid aus behandeltem Tüll – fotzig. Die Gianni-Versace-Seesterne-Kollektion Spring/Summer 1992 – fotzig. Die Donatella-Versace-Seesterne-Kleider aus der Spring/Summer-2021-Kollektion – extrafotzig. Die halterlosen Strümpfe – fotzig. Kleine Törtchen in grellen Farben – fotzig. Schwäne aus Handtüchern auf dem Hotelbett – fotzig. Lipgloss mit Wetlook – fotzig. Das Maison-Margiela-Laufsteg-Make-up 2024 von Pat McGrath – fotzig, in geschenkter Edelunterwäsche auf dem Balkon in der Sonne liegen und diesen Satz schreiben – fotzig.23
Nicht zufällig kulminiert die Aufzählung in einer Selbstbeschreibung der Autorin. Und vielleicht war Pat McGraths Porzellanteint-Make-Up für John Galliano bei Maison Margina wirklich „fotzig“. Wichtiger aber: Dass man das Buch bei der Lektüre dieser Sätze über pleasure im Sinne von Sinnlichkeit und Hedonismus mitunter lieber schamhaft vor potenziell Mitlesenden und Wertenden verstecken möchte, verleiht ihm die Qualität eines guilty pleasure. Liest man aber dennoch weiter und verdeckt dabei womöglich auch weder Cover noch die aufgeschlagene Seite, zeigt das den Sieg der Lust über die Scham. Lust am Weiterlesen ist dabei auch eine Art intellektuelles Begehren. Es scheint, als wolle Reisinger ihre Leser:innen herausfordern. (Wer liest eigentlich den Text? Auch Männer, Armutsbetroffene, Kulturkonservative?) Die zitierte Aufzählung lockt und quält. Kennt man die Beispiele? Muss man doch mal kurz googeln? Der DUDEN kennt ‚fotzig‘ nicht („Meinten Sie fetzig, kotzig oder motzig?“), ‚Fotze‘ hat zwei Bedeutungen, die eine „vulgär“ („weibliche Geschlechtsteile, Vulva oder Vagina / [metonymisch, Schimpfwort] verächtliche, sexualisierte Bezeichnung für eine Frau, über die man sich ärgert“), die andere „derb, oft mundartlich“ (abwertend, Synonym zu ‚Fresse‘).24 Auch in der Auflistung ist das Fotzige vulgär. Zugleich erlöst die Autorin ihre Leser:innen in ihrer Schamlust, Lustscham oder auch einfach Scham, indem sie ‚fotzig‘ umdeutet. Sie referiert dann etwa mit dem Impetus eines Autoritätsarguments auf Susan Sontag, an anderer Stelle z.B. auf Maggie Nelson, Alice Hasters und Eva Illouz, um sich abzusichern. Hier, bei diesen theoretischen Referenzen, wird sich die lustschämende oder schamlustige Leserschaft vielleicht wieder aufrechter hinsetzen und das gelb verpackte oder doch schon rot entkleidete Buch offener halten:
Fotzig ist, ähnlich wie Camp, eine Ästhetik, eine Haltung oder eine Sichtweise auf die Welt und ihre Dinge. […] Fotzig als Kompliment ist eine Reaktion auf die Verachtung, mit der dieses Wort Generationen von Frauen entgegengeschmettert wurde. Fotzig ist demnach vielmehr eine Kampfansage an ein kulturanalytisches Empfinden oder gar einen ästhetischen Geschmack, wie es Camp ist, unterliegt aber einer vergleichbaren Bewegung. […] Camp ist in der Geste der Übertreibung dem Fotzigen nicht unähnlich, auch in der Verbindung mit Trash und Kitsch.25
Pleasure fordert einen auch deshalb heraus, weil in dem zwischen Essay und Autobiographie oszillierenden Text eines Selbstverwirklichungsdiskurses das Ich der Autorin so penetrant ausgestellt wird, dass man ihm in seiner drängenden Performanz einerseits zunehmend abgeneigt ist, sich in dieser Abneigung gegenüber dem Trash andererseits frecherweise gleich spießig vorkommt, auch weil Reisingers Klassenkritik sehr berechtigt ist. Dass die Reisinger-Sphäre acryl- und delikatessenreich ist, irritiert weniger als der Eindruck einer Überpräsenz von Überlegungen, wie instagrammable Chanel-Taschen oder wie „fotzig“ die eigenen „‚sauteuren‘ Gucci-Schuhe“26 sind.
References
- https://www.kpm-berlin.com/blogs/news/lotti-adam-x-kpm (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.journelles.de/kunst-wohnung-berlin-charlotteadam/ (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.charlotteadam.com/still-lifes (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.herzundblut.com/maison-palm-shop/charlotte-adam-x-herzblut-edition-2 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Adam ist, wie Reisinger, eine Gurken-Freundin, bemalte das KPM-Porzellan mit Gürkchen, hat unten auf ihrer Homepage eines platziert, malt und kategorisiert es neben Cola, Croissant und Haribo-Fröschen als „Craving[] & Object[] of Desire“.
- https://www.1stdibs.com/de/mode/handtaschen/schultertaschen/chanel-klassische-tasche-mit-doppelter-klappe-aus-beigem-lammfell-10-medium/id-v_18773082/?currency=eur&priceBookName=EU&gclsrc=aw.ds&gad_source=1&gclid=EAIaIQobChMI49n2pO_biQMVIJGDBx2NNBbREAQYASABEgKJ3PD_BwE (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.instagram.com/lottiadam/p/DCd4lLxMry3/?img_index=1 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.diaphanes.net/titel/manifest-2912 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Reisinger, Jovana (2022): Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das Patriarchat, in: Vogue Germany [https://www.vogue.de/mode/artikel/subversive-kraft-der-tussi-barbiecore-feminismus-jovana-reisinger], 17/09/2022 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Scheder, Beate (2024): Die Renaissancewoman, in: taz [https://taz.de/Buch-Pleasure-von-Jovana-Reisinger/!6040815/], 16/10/2024 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://fm4v3.orf.at/stories/1772708/index.html (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Reisinger, Jovana (2024): Pleasure, Berlin: park x ullstein, S. 146.
- Marburg, Eva (2024): Jovana Reisinger – Pleasure, in: SWR Kultur [https://www.swr.de/swrkultur/literatur/jovana-reisinger-pleasure-100.html], 17/10/2024 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Reisinger 2024, S. 16.
- https://www.charlotteadam.com/press (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Vgl. hierzu Domgörgen, Frauke (2024): „Kamala IS brat“. Kamala Harris‘ Social Media Kommunikation aus Sicht feministischer Epistemologie, in: KWI-Blog [https://blog.kulturwissenschaften.de/kamala-is-brat/], 14/10/2024 (letzter Zugriff: 15.11.2024), https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20241014-0830.
- Reisinger, Jovana (2024a): Guilty Pleasure? Jovana Reisinger findet, dass man sich für Genuss nicht schämen sollte, in: Vogue Germany [https://www.vogue.de/artikel/jovana-reisinger-pleasure-buch-essay], 18/10/2024 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.cntraveller.com/hotels/berlin/the-hoxton-charlottenburg (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.vogue.de/galerie/falling-into-place-premiere-geburtstagsparty-aylin-tezel (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.sueddeutsche.de/leben/malgosia-bela-hoxton-hanwag-aarke-1.6275130 (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- https://www.tom-adam.com/product-page/the-hoxton-x-tom-%C3%A0dam-pyjama-set- (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Pines, Sarah (2024): Guten Morgen, du Tussi, in: DIE ZEIT [https://www.zeit.de/2024/49/pleasure-jovana-reisinger-frauen-luxus-mode], 20/11/2024 (letzter Zugriff: 05.12.2024).
- Reisinger 2024, S. 58.
- https://www.dwds.de/wb/Fotze (letzter Zugriff: 15.11.2024).
- Reisinger 2024, S. 58.
- Langley-Hunt, Tobias (2024): Zwischen Paris Hilton und Dolly Parton, in: Tagesspiegel [https://www.tagesspiegel.de/berlin/zwischen-paris-hilton-und-dolly-parton-pleasure-premiere-in-der-berliner-schaubuhne-12721466.html], 17/11/2024 (letzter Zugriff: 05.12.2024).
SUGGESTED CITATION: Reiling, Laura M.: Einfach Vergnügen? Coca Cola, Chanel und die Schamlust, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/einfach-vergnuegen/], 29.01.2025