Kai BremerLetzte Sätze

„please open the curtains“

„please open the curtains“ Über Sarah Kanes letztes Drama „4.48 Psychosis“ Erschienen in: Letzte Sätze Von: Kai Bremer

Der letzte Satz von Sarah Kanes 4.48 Psychosis verheißt nicht weniger als ein neues Schauspiel: „please open the curtains“.1 Nicht ein Spiel im Spiel wird angekündigt, sondern ein Spiel nach dem Spiel. Durs Grünbein hat diesen Satz in seiner nicht unumstrittenen Übersetzung von Kanes letztem Stück als Appell an ein Kollektiv formuliert: „bitte öffnet den Vorhang“.2 Im Original ist hingegen nicht eindeutig, wen die Instanz, die sich im letzten Satz (oder Vers?) äußert, anspricht. Den Respondenten, mit dem es u.a. seine Medikation durchgesprochen hat? Das andere Ich, über das das Sprecher-Ich im vorletzten Satz festhält: „It is myself I have never met, whose face is pasted on the underside of my mind“?3 Oder doch eine Gruppe von Menschen, wie es Grünbeins Übersetzung nahelegt? Bühnenarbeiter:innen vielleicht? Oder das Publikum?

„please open the curtains“: Für sich klingt der Satz wie eine ironische Reaktion auf Brechts berühmte Verse aus dem Epilog in Der gute Mensch von Sezuan: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Man könnte lachen, zumindest schmunzeln über diesen letzten Satz – wäre da nicht das Wissen, dass er eine bittere Summe nicht nur von Kanes Schreiben, sondern auch ihres Lebens ist.

Als die Zuschauer:innen der Premiere von 4.48 Psychosis am Royal Court Jerwood Theatre in London am 23. Juni 2000 diesen letzten Satz hörten, wird vermutlich allen im Zuschauerraum die Bedeutung der Autorin für die jüngere britische, ja die gesamte europäische Dramatik bewusst gewesen sein. Kane war in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre der Star der neuen britischen Dramatik, die der Theaterkritiker Aleks Sierz erfolgreich als ‚In-Yer-Face Theatre‘ gelabelt hat.4 Stücke wie Kanes Erstling Blasted (1995) oder Mark Ravenhills Shopping and Fucking (1996) hatten nicht nur wegen der hemmungslosen Darstellung von oft sexualisierter Gewalt auf der Bühne provoziert. Die Stücke forderten auch ästhetisch heraus. Besonders die von Kane. Sie hat in nicht einmal einem halben Jahrzehnt die Formsprache der europäischen Dramatik in ihren insgesamt fünf Stücken bilanziert und gleichzeitig weiterentwickelt. Ihr Erstling Blasted hinterfragt nicht nur die Grenzen der Darstellbarkeit von sexualisierter Gewalt, sondern zugleich auch die Normkraft der aristotelischen Einheiten. Phaedra’s Love (1996) diskutiert – punktuell durchaus komisch – die Aktualität eines antiken Stoffes unter den Bedingungen der Gegenwart. Cleansed (1998) wirkt angesichts des Personals zunächst vergleichsweise konventionell, ehe sich die Figuren laut der Nebentexte derart physisch annähern bzw. sich ersetzen, dass eine naturalistische Inszenierung des Textes ausgeschlossen scheint: „Grace now looks and sounds exactly like Graham.“ Spätestens mit ihrem dritten Stück greift Kane also auch postdramatische Impulse auf und integriert sie in die britische Kammerspielästhetik. Das gilt noch deutlicher für ihre letzten beiden Theatertexte. Obwohl der Nebentext von Crave (1998) von den ‚Charakteren‘ des Stücks spricht, tragen die Figuren nicht einmal mehr einen Namen. Sie werden lediglich durch Buchstaben benannt: C, M, B und A. Nicht zuletzt deswegen erinnern die Dialoge in Kanes viertem Drama an die Konversationsstücke des frühen Peter Handke. Ob hier tatsächlich vier Personen sprechen oder z.B. nur vier Stimmen einer Persönlichkeit, bleibt unklar. In 4.48 Psychosis erschüttert die ostentative Unbestimmtheit des Textes dann endgültig das Verstehen. Kane verzichtet nun gänzlich auf konkrete Sprecherinstanzen. Der Text ist eine Folge von Sätzen und Worten, zum Teil sogar nur noch Zahlen, die auf den Druckseiten arrangiert zu sein scheinen und dadurch optisch eher wie ein langes Gedicht und nicht wie ein Drama anmuten. Zwar stehen vor einigen Sätzen Spiegelstriche, sodass wiederholt nahegelegt wird, den Text von verschiedenen Darstellenden sprechen zu lassen. Der Nebentext regelt aber lediglich Sprechpausen, nicht hingegen die Verteilung der Sätze zwischen den Darstellenden. Inhaltlich legen einige Satzfolgen nahe, dass hier ein Ich mal mit sich selbst, mal mit einer psychiatrisch versierten Figur oder Instanz über die eigenen Empfindungen und Medikationen spricht. Eine konsistente Handlung lässt sich aber nicht festmachen.

Diese Offenheit der Form wie der Handlung von 4.48 Psychosis ist deswegen heute in der Forschung ein wichtiges Argument für die These, dass Kanes letztes Stück die britische Kammerspielästhetik für die Postdramatik bzw. die radikal episierte Dramatik geöffnet und dadurch entschieden weiterentwickelt hat. Auch wenn die britische In-Yer-Face-Dramatik mittlerweile nicht mehr ganz so oft gespielt wird wie noch vor einigen Jahren, ist ihre Bedeutung und zumal die von Kanes Stücken für die europäische Theatergeschichte der letzten 35 Jahre immens. Derart betrachtet, kann der letzte Satz aus Kanes letztem Drama auch als eine Art Prophezeiung ihrer literatur- und theatergeschichtlichen Bedeutung betrachtet werden. Kane hat einen neuen Akt der britischen Dramatik eröffnet.

Allerdings kann ausgeschlossen werden, dass eine solche Deutung des letztens Satzes Kanes Anliegen war. Und auch den Zuschauer:innen der Premiere von 4.48 Psychosis dürfte eine solche Deutung nicht in den Sinn gekommen sein, als sie ihn hörten. Vielmehr werden wahrscheinlich alle im Publikum (und sicherlich auch alle hinter der Bühne) gewusst haben, dass sich Kane fast anderthalb Jahre vor der Premiere, am 20.2.1999, das Leben genommen hatte. Als sie das Stück nun sahen und hörten, wird sie alle beschäftigt haben, wie Kane in dem Text die Folgen ihres eigenen psychischen Leidens verarbeitet.

Der Titel nennt die Uhrzeit, zu der die Dramatikerin in den Monaten vor ihrem Suizid früh morgens Tag für Tag erwachte, wie sie selbst erklärt hat. Auch thematisiert das Stück ausführlich eine Selbsttötung:

Please don’t cut me up to find out how I died

I’ll tell you how I died

One hundred Lofepramine, forty five Zopiclone, twenty five Temazepam, and twenty Melleril5

Kane nimmt radikaler als wohl alle anderen Dramatiker:innen vor ihr die eigene Biographie – konkret die scheiternden Therapiegespräche, die zunehmende Verzweiflung und Aggressivität sowie schließlich die Absicht, sich selbst zu töten – zum Ausgangspunkt ihres Stücks. Indem der Text zugleich jedoch weder eine konkret zu greifende Sprechinstanz hat, noch erläutert, wie das alles zu inszenieren ist (die wenigen Nebentexte fordern in erster Linie Sprechpausen/Schweigen, aber eben nie eine spezifische Spielweise), verweigert sich Kane einer realistischen Repräsentationsästhetik. Momente ihres eigenen Leidens werden zu Motiven in ihrem Theatertext, ohne dass dieser ihre Geschichte zum Tod erzählt. 4.48 Psychosis wirkt deswegen bis heute vielfach verstörend, weil der Text ungemein intime Einblicke in das Seelenleben Kanes zu geben scheint und diese gleichzeitig abstrahiert. Aus diesem Grund steht jede Inszenierung vor dem Paradox, dass der Text regelrecht fordert, aus dem Schatten der Autorin zu treten – wohlwissend, dass dies angesichts seines schrecklichen Hintergrunds schlicht nicht möglich ist. Viele Dramatiker:innen haben in den letzten 25 Jahren an Kanes Radikalität angeknüpft – oder es zumindest versucht. Autorschaftsreflexionen sind in der Gegenwartsdramatik inzwischen gang und gäbe. Hatte Peter Szondi 1956 in der Theorie des modernen Dramas noch erklärt, dass der Dramatiker im Drama „abwesend“6 sei, so hat spätestens 4.48 Psychosis damit nicht nur gebrochen, sondern einer Dramatik, in der der Theatertext Leben und Schreiben der Autorin bzw. des Autors verhandelt, eine ungeahnte Konjunktur beschert.

Blickt man heute auf Kanes Werk zurück, so beeindruckt aber nicht nur, wie souverän sie ihre Dramatik im wahrsten Wortsinn Stück für Stück weiterentwickelt hat – eben bis zum letzten Satz von 4.48 Psychosis. Gleichzeitig fasziniert weiterhin – mehr als 25 Jahre nach ihrem Tod –, wie schlicht und gleichzeitig elegant Kane schreiben konnte. Auch das belegt ihr letzter Satz eindrucksvoll. Theatermetaphorik eignet sich sehr gut, um das Geschehen in der Welt zu analysieren. Das ist spätestens seit Renaissance und Barock bekannt: „All the world’s a stage, / And all the men and women merely players“ (As You Like It II, 7). Kane variiert mit ihrem letzten Satz nicht nur diese Metaphorik auf eine Art und Weise, die aufhorchen lässt. Sie beansprucht durch den Satz letztlich nicht weniger, als ein Stück geschrieben zu haben, das in Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Leiden das Verhältnis von Bewusstsein und Körper thematisiert (man denke an den eingangs zitierten vorletzten Satz des Stücks: „It is myself I have never met, whose face is pasted on the underside of my mind“). 4.48 Psychosis diskutiert in Gestalt eines postdramatischen Welttheaters nicht weniger als die Gültigkeit der cartesianischen Trennung. Freilich zielte das barocke theatrum mundi darauf, Trost zu spenden, indem es Darstellende wie Zuschauende daran erinnerte, dass Gott der eigentliche Autor des Welttheaters ist. Diese Gewissheit ist Kanes Drama selbstredend fremd. Das Ich ist hier ganz auf sich geworfen. Es zieht sich immer mehr aus der Welt auf sich zurück. Ja, das Ich ist zuletzt seine eigene Welt.

Aber gerade deswegen ist der letzte Satz von 4.48 Psychosis so bemerkenswert. Denn er wirft nicht nur die Frage auf, was von Kanes Theater bleiben wird (viel, wie wir gesehen haben). Er stellt auch die Frage, was vom Ich nach dem Tod bleibt. Das Stück gibt auf diese Frage keine Antwort, denn es weiß vom Theater jenseits des Vorhangs (noch) nichts. Aber in Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und Sterben fordert es sein Publikum zumindest auf, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Das Theater Sarah Kanes ist letztlich ein postmodernes memento mori: „please open the curtains“.

References

  1. Kane, Sarah (2001): 4.48 Psychosis, in: Dies.: Complete Plays. Introduced by David Greig, London: Methuen Drama, S. 203–245, hier S. 245.
  2. Kane, Sarah (2002): 4.48 Psychose. Übers. v. Durs Grünbein, in: Dies.: Sämtliche Stücke. Mit einer Einleitung v. David Greig, hg. v. Corinna Brocher und Nils Tabert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 211–252, hier S. 252.
  3. Kane 2001, S. 245.
  4. Sierz, Aleks (2000): In-Yer-Face Theatre. British Drama Today, London: Faber and Faber.
  5. Kane 2001, S. 241.
  6. Szondi, Peter (1978): Theorie des modernen Dramas (1880-1950), in: Ders.: Schriften I, hg. v. Jean Bollack. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9–148, hier S. 17.

SUGGESTED CITATION: Bremer, Kai: „please open the curtains“. Über Sarah Kanes letztes Drama „4.48 Psychosis“, in: KWI-Blog , [https://blog.kulturwissenschaften.de/please-open-the-curtains/], 27.01.2025

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20250127-0830

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