Morten Paul

Verstehen/Verhindern I

Verstehen/Verhindern I Vier Theorieszenen der Faschismustheorie Von: Morten Paul

Dieser Blogbeitrag erscheint in zwei Teilen. Der zweite Teil folgt am kommenden Mittwoch.

Teil 1: 1969, 1923

Frankfurt am Main, 1969: Für Ernest Mandel ist noch Ende der Sechzigerjahre die Sache klar. Rückschläge im Kampf gegen den Faschismus haben für den belgischen Spätkapitalismus-Experten und Résistance-Aktivisten ihre Ursache in den Theorien, die zu seiner Erklärung aufgestellt worden waren:

Der Faschismus konnte sich über zwei Jahrzehnte nur darum erfolgreich entwickeln, weil seine wirkliche Natur nicht richtig erfaßt wurde, weil es den gegen seinen Vormarsch Kämpfenden an einer wissenschaftlichen Faschismustheorie mangelte, weil die vorherrschende Faschismustheorie eine falsche – oder unvollständige – war.1

Zunächst aber bemerkt Mandel eine „frappant[e]“ „Simultaneität“ von Faschismus und den Versuchen, ihn zu verstehen: „Die Geschichte des Faschismus ist zugleich die Geschichte der Theorie über den Faschismus.“ Erklärungsansätze gab es also früh und zahlreich. Verwundern kann Mandel diese Gleichzeitigkeit indes nicht, „[a]us den Flammen des ersten Volkshauses, das die faschistischen Banden in Italien ansteckten, mußte unvermeidlich die Frage aufleuchten: ‚Was ist dieser Faschismus?‘“2 Weil Faschismustheoretiker:innen, zumindest die kritischen, bei der Beantwortung dieser Frage folglich von der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben ausgehen müssen, dann auch um die Verheerungen des Weltkriegs und die Schrecken des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms wissen, wollen sie mit ihrer Antwort in aller Regel außerdem einen Beitrag dazu leisten, diese Gefahr zu bannen. Sie tun das, wie es bei Mandel weiter heißt, „in der verständlichen und durchaus vernünftigen Annahme, man würde den Faschismus umso erfolgreicher bekämpfen können, je präziser man seine Natur erfaßt“.3

Auch der Historiker Ernst Nolte eröffnet zwei Jahre zuvor die Einleitung zu einer der ersten deutschsprachigen Textsammlungen von „Theorien über den Faschismus“ mit der Beobachtung, dass diese Theorien so alt seien wie der Faschismus selbst. Nolte charakterisiert in seiner Darstellung zunächst jedes wissenschaftliche Nachdenken über „lebendige Phänomene geistiger und politischer Art“, und das heißt eben auch und besonders das Nachdenken über das neue Phänomen Faschismus, als eingebettet in ideologische Grundkonzeptionen: Es gibt aus dieser Perspektive nur sozialistische, konservative, faschistische, liberale Theorien. Doch unterscheidet Nolte zwischen „bloßer Polemik“ und „ernsthaften Versuchen des Begreifens“, bei denen der „Terminus ‚Theorie‘ seine Berechtigung behält […]“.4 1965 ist bereits die von dem Sozialwissenschaftler Theo Pirker am Institut für Zeitgeschichte herausgegebene Dokumentation Komintern und Faschismus 1920–1940 erschienen. Etwa zeitgleich mit Noltes Reader veröffentlicht der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth außerdem den Band Faschismus und Kapitalismus, der unorthodoxe marxistische Stimmen kompiliert. Das Genre Textsammlung spielt dann auch eine wichtige Rolle in der Verbreitung und Kanonisierung dessen, was ab Mitte der Sechzigerjahre die Bezeichnung Faschismustheorie erhält. Doch für Mandel, für den die Faschismustheorie ja der Bekämpfung des Faschismus dienen soll, liegt in der Vermehrung solcher Bände zugleich eine seltsame „Inkongruenz“. Dem Eindruck, dass da etwas nicht ganz passt, kann sich womöglich auch heute nur schwer erwehren, wer in der Buchhandlung vor dem entsprechenden Bücherstapel steht, der sich angesichts aktueller politischer Entwicklungen in immer abenteuerlichere Höhen schraubt: Die vielen Erklärungen haben den Faschismus gerade nicht verhindern können.

Bei Mandel wird nun genau die von Nolte festgestellte Abhängigkeit der Theorie von einer Weltanschauung oder Ideologie zum grundsätzlichen Problem, wenn er festhält, viele Faschismustheorien hätten eher eine „konkrete Funktion in der fortlaufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ ihrer Zeit erfüllt, als die ihnen gestellte Frage nach dem „Was“ des Faschismus auch nur versucht, ernsthaft zu beantworten. Was ihm dabei Ende der Sechzigerjahre vor Augen steht, verrät die Fußnote 3: Die „sogenannte ‚Totalitarismustheorie‘“ mit der in ihr häufig vorgenommenen Parallelisierung von Nationalsozialismus und Stalinismus, Faschismus und Kommunismus, deren Beliebtheit im Westeuropa und in den USA der Nachkriegszeit Mandel dementsprechend aus dem Anschwellen und Abebben der Blockkonfrontation herleitet.5 Ironischerweise wird Nolte in den Achtzigerjahren mit seiner These, der Holocaust sei dadurch erklärbar, dass die Nationalsozialist:innen „sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten“6, noch einmal besonders kräftig in dieses Horn blasen und den Historikerstreit auslösen. Doch schon die anthropologische Erklärung des Faschismus aus einem „aggressiven Zug[]“ in der menschlichen Natur, wie Nolte sie Mitte der Sechzigerjahre vorlegt, wird Gegenstand von Mandels Spott, wenn er sie mit Molières Der eingebildete Kranke als Gemeinplatz und Tautologie ausweist.7

Abb. 1.: Ernest Mandel beim Kongress „Kapitalisme in 70-er jaren“, Katholische Hochschule Tilburg 1971, http://hdl.handle.net/10648/aba2eb04-d0b4-102d-bcf8-003048976d84

Für Mandel gibt es nämlich durchaus eine tatsächlich wissenschaftliche und deshalb auch im Kampf gegen den Faschismus hilfreiche Faschismustheorie, die noch dazu bereits früh vorlag: Leo Trotzki nehme „unter jener kleinen Zahl von Theoretikern, die Wesen und Funktion des Faschismus richtig erkannt haben […] ohne Zweifel den ersten Platz ein“. Zentral für diese Bewertung ist dabei nun genau Trotzkis Weiterentwicklung der Marx’schen Gesellschaftskritik. Es handelt sich bei Trotzkis Faschismustheorie also, wie nun wiederum Nolte, der Ende der Siebzigerjahre angesichts der Dominanz dieses Ansatzes verzweifeln wird,8 spöttisch angemerkt haben könnte, um eine marxistische Faschismustheorie. Deren Überlegenheit über andere Theorien liegt nach Mandel „vor allem in ihrem ‚totalen‘ Charakter, d. h. in dem […] Versuch, alle Aspekte gesellschaftlicher Tätigkeiten als miteinander verbunden […] zu erfassen“.9 Dabei verbinde Trotzki auch in seiner Analyse des Faschismus in einer für seinen Marxismus insgesamt charakteristischen Weise „objektive[] und subjektive[] Faktoren in der Theorie des Klassenkampfes wie beim Versuch, ihn praktisch zu beeinflussen.“10 An diesem Punkt – der Frage der subjektiven Faktoren – schleicht sich in Mandels Darstellung allerdings eine Bedingung für den Erfolg von Theorien ein, der mit ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit nur mehr vermittelt – wenn überhaupt – zusammenhängt: „Die Theorie allein kann die Geschichte nicht machen, dazu muß sie die Massen ergreifen.“11 Nur: Genau das gelang Trotzki mit seiner Theorie bekanntlich nicht einmal im kommunistischen Lager. In einem gewissen Sinne ersparte ihr dieser Umstand den Realitätscheck, was zur Attraktivität knapp dreißig Jahre später wohl beiträgt. Der Stoßseufzer, den Mandel am Ende seines Textes ausstößt, wirkt jedenfalls naiv – wenn man ihn nicht selbst als Element einer auf Wirkung abzielenden Rhetorik liest: „Wie leicht wäre es gewesen auf Trotzkis Mahnung zu hören und das Unheil zu vermeiden.“12

Denn tatsächlich wären auch Trotzkis Einlassungen der Zwanziger- und Dreißigerjahre, die Mandel hier als geschlossene, wissenschaftliche Theorie des Faschismus beschreibt,13 wohl besser als Interventionen in eine laufende Diskussion, um den Umgang mit dem neuen politischen Gegner zu verstehen.14 Mandel verweist in diesem Zusammenhang durchaus auf andere „Ansätze“ zu einer „marxistischen Faschismustheorie“ in der Zwischenkriegszeit wie den Clara Zetkins, die allerdings ebenfalls den erbitterten Fraktionskämpfen zum Opfer gefallen seien, wenn auch nicht alle Verfasser:innen das Schicksal Trotzkis teilen, der 1940 im mexikanischen Exil von einem sowjetischen Agenten ermordet wird.15 Doch auch Mandel zieht 1969 nicht im luftleeren Raum Bilanz in Sachen Faschismustheorie. Während der realexistierende Kommunismus schon lange in bürokratischen Diktaturen erstarrt ist und in der blutigen Beendigung des Prager Frühling einmal mehr sein eigenes imperialistisches Gesicht zeigt, machen aufmerksame Beobachter:innen des Zeitgeschehens auch in den Ländern des kapitalistischen Westens Anzeichen des Autoritarismus aus. In der Bundesrepublik verkörpern sie sich insbesondere in der Diskussion um die atomare Nachrüstung der Bundeswehr und die Notstandsgesetzgebung, aber auch Hakenkreuz-Schmierereien, antisemitische Vorfälle und Wahlerfolge der 1964 gegründeten NPD geben Anlass zur Sorge. War der Faschismus dabei zurückzukehren? Max Horkheimers zunächst 1942 in einem Gedächtnisband für Walter Benjamin veröffentlichter Text „Autoritärer Staat“ zirkuliert in zahlreichen Raubdrucken und wird zur Schlüssellektüre.16 Denn zugleich beginnen Student:innen, Arbeiter:innen und Lehrlinge wieder Marx zu lesen. In Westdeutschland habe, so heißt es dann auch bei Mandel, die „Renaissance des schöpferischen Marxismus […] das Interesse an der Faschismustheorie […] stark belebt […]“.17 Doch von beidem, Marxismus wie Faschismustheorie, gibt es mittlerweile zahlreiche konkurrierende Versionen. Dass davon die korrekte ergriffen wird, ist für Mandel umso entscheidender. In diesen „fortlaufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen“, auf dem „Markt für Marx“ (Adelheid von Saldern), findet Mandels Plädoyer für Trotzkis Faschismustheorie seinen eigenen Ort.

Auf Deutsch erscheint der Text dann auch zunächst als Einleitung in die zweibändige Ausgabe von Trotzkis Schriften über Deutschland, die die Europäische Verlagsanstalt 1971 veröffentlicht. Mandel selbst gehört zu diesem Zeitpunkt seit fast dreißig Jahren dem obersten Leitungsgremium der Vierten Internationale an, die nach dem Ausschluss Trotzkis aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion angesichts der nun unangefochtenen Herrschaft Josef Stalins in der Dritten Internationale gegründet worden war. Die Europäische Verlagsanstalt wiederum wird im November 1946 unter Beteiligung des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds in Hamburg ins Leben gerufen. Sie publiziert Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus besonders früh. In den Sechzigerjahren, mittlerweile von der Elbe an den Main gezogen, entwickelt sich die EVA zu einem Forum der Neuen Linken. Die von dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth herausgegebene Textsammlung zum Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus erscheint ebenfalls hier. Diese Bücher prägen den studentischen Blick. Doch warnt Mandel in seinem Vorwort eindringlich davor, die eigene Gegenwart allzu leichtfertig als faschistisch zu charakterisieren. Der „starke Staat“, der sich derzeit besonders repressiv zeige, sei zwar äußerst bedrohlich und daher bekämpfenswert. Die undifferenzierte Verwendung des Faschismusbegriffs drohe aber zur „Begriffsverwirrung“ zu führen: „Wenn man diese ersten Scharmützel bereits für den Anfang der Entscheidungsschlacht erklärt […] [,] schläfert man die Wachsamkeit der Massen vor der entsetzlichen Gefahr [ein], die ein mit der viel weiter fortgeschrittenen Technik bewaffneter Faschismus heute darstellen würde“.18 Der Faschismusvorwurf, so ließe sich diese innerlinke Manöverkritik Mandels zuspitzen, nutzt sich als Instrument der politischen Rhetorik schnell ab. Das könnte sich in Zukunft rächen. Die Keime eines neuen Faschismus erblickt Mandel nämlich in dem um sich greifenden Rassismus dieser Jahre durchaus.

Als Mandel, der 1944 in das Konzentrationslager Flossenbürg deportiert worden war, 1972 einen Ruf an die FU Berlin erhalten soll, verhängt Hans-Dieter Genscher, damals Innenminister der sozialliberalen Koalition, kurzerhand ein Einreiseverbot.19 Der Radikalenerlass ist da erst seit wenigen Tage öffentlich bekannt. Der Aufbruch von 1968 erlahmt, während die Karriere des Faschismusbegriffs in der tagespolitischen Auseinandersetzung Fahrt aufnimmt. Mandels Faschismus-Auffassung steht damit an einem Wendepunkt der Theorie. Denn einerseits geht Mandel noch von einer wissenschaftlichen und korrekten Faschismustheorie aus und misst ihr höchste Bedeutung für die antifaschistische Praxis bei. Er findet eine solche Theorie in einer Position der marxistischen Diskussion der Vorkriegszeit. Diese Diskussion erlebt im Zuge der studentischen Radikalisierung der Sechzigerjahre eine erstaunliche Konjunktur und wird zum Gegenwartsschlüssel. Doch andererseits ist die aufklärerische Koppelung aus Verstehen und Verhindern, die Mandel zu Beginn seines Textes noch einmal emphatisch aufruft, angesichts des Zeitalters der Extreme (Eric Hobsbawn) bereits brüchig geworden. Auch Mandel muss sie im Fortgang seines Texts immer weiter zurücknehmen, bis der schließlich in dem eher hilflosen Appell mündet, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Moskau, 1923: Auch eine der ersten Analytiker:innen des Faschismus nimmt ganz selbstverständlich einen direkten Zusammenhang zwischen richtiger Erkenntnis und erfolgreichem Handeln an.20 Benito Mussolinis sogenannter Marsch auf Rom ist noch nicht einmal ein Jahr her, Adolf Hitlers kläglich scheiternde Nachahmung im Münchener Hofbräukeller steht kurz bevor, als das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale am 20. Juni 1923 folgenden Satz hört: „Es liegt auf der Hand, dass wir diesen tückischen Feind umso eher überwinden, je klarer und schärfer wir sein Wesen und die Auswirkungen seines Wesens erkennen.“21 Clara Zetkin ist an diesem Frühsommertag so krank, dass sie in den Moskauer Plenarsaal getragen werden muss. Gegen jede dort herrschende Gepflogenheit spricht sie sitzend. Was hatte die 65-Jährige dazu veranlasst, die beschwerliche Reise nach Russland dennoch anzutreten? Es ist die Befürchtung, dass die Weltführung der Kommunist:innen den neuen politischen Gegner, der in den Nachkriegsjahren wie aus dem Nichts um sich gegriffen hatte, sträflich unterschätzt. Zeit ihres Lebens würde die Sozialistin und Frauenrechtlerin als prominente Politikerin der Kommunistischen Partei Deutschlands der Sowjetunion folgen. Die einzige gelungene Revolution durfte auch dann nicht gefährdet oder infrage gestellt werden, wenn ihre Fehler offensichtlich waren.22 Doch in dieser Rede drückt sie deutliche Differenzen aus. Während bislang die an der Horthy-Diktatur in Ungarn gewonnene Überzeugung vorherrschend gewesen sei, dass es sich beim Faschismus um nichts anderes als »gewalttätige[n] bürgerliche[n] Terror« gegen die Arbeiter:innenbewegung handele, beharrt Zetkin trotz aller Ähnlichkeit der „blutigen terroristischen Methoden“ darauf, dass diese Auffassung dem Faschismus verfehle.23 Die Faschismustheorien schreiben so von Beginn an selbst an einer Theoriegeschichte der Faschismustheorie mit: Denn wer aufgrund dieser falschen Auffassung annähme, den Faschismus rein militärisch besiegen zu können, täusche sich – mit fatalen Folgen. Das stelle nämlich die enorme Anziehungskraft, die der Faschismus bis in die Arbeiter:innenschaft hinein ausübe, nicht in Rechnung.

Abb. 2: Clara Zetkin (2.v.r.) neben Alexandra Kollontai beim dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Moskau 1921, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zetkin_Kollontaj_Comintern.jpg

Verantwortung dafür trügen nicht zuletzt die Kommunist:innen selbst, die die Massen enttäuscht hatten, als die Revolutionsversuche außerhalb Russlands scheiterten oder gleich ganz ausblieben. Heute, wo die Alt-Right das Schreckgespenst des Kulturmarxismus in grellen Farben malt und die selbsternannte Mitte sich darüber in Hufeisentheorien übt, während linke Politik zunehmend defensiv wird, ist dieser nicht ganz einfache geschichtsphilosophische Gedanke Zetkins vielleicht erneut erwägenswert: Dessen Pointe ist nämlich, dass es sich beim Faschismus nicht um die Rache der Bourgeoisie am sich erhebenden Proletariat handle, sondern um die historische Strafe dafür, die Chance auf Revolution nicht ergriffen zu haben. An ihre Stelle konnte der Faschismus sein „scheinrevolutionäres Programm“ von einer Nation jenseits der Klassengegensätze und ihrer Verwirklichung durch einen autoritären Staat setzen: „Er wurde Asyl für politisch Obdachlose, für sozial Entwurzelte, für Existenzlose und Enttäuschte“.24 Zetkins Schlussfolgerung? Man muss den Faschismus auch politisch und ideologisch bezwingen. In ihrer Rede konfrontiert Zetkin deshalb ausführlich die Versprechen der italienischen Faschist:innen mit der Umsetzung in Regierungshandeln und zeigt so die eklatanten Unterschiede zwischen beidem auf. Darin drückt sich zwar noch ein ungebrochener Glaube an Aufklärung als Mittel im politischen Kampf aus. Doch um in diesem Kampf zu bestehen, das erkennt Zetkin bereits zu diesem Zeitpunkt, sollten die Kommunist:innen mehr anzubieten haben „als die Verteidigung des Brots“.25 Sie müssen auch Orientierung stiften, die Zetkin hier in Begriffen wie Weltanschauung und Hoffnung fasst. Deren Adressat:innen kann außerdem nicht mehr allein das Industrieproletariat – der natürliche Ansprechpartner für Kommunist:innen – sein. Um ihr Ziel zu erreichen und den Faschismus zu bezwingen, solle sich die kommunistische Agitation vielmehr darum bemühen, all jene zu erreichen, die sich für die Versprechungen des Faschismus empfänglich gezeigt hatten – nicht zuletzt, damit die am Ende nicht noch die Kampftruppen des Faschismus stellen. Dabei registriert Zetkin früh die Bedeutung, die etwa der Bauernschaft oder den Intellektuellen für den Faschismus zukommt. Um aber so unterschiedliche soziale Gruppen zu erreichen, sei es unverzichtbar, auch ihre Sprache zu sprechen. „Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, muss Mohammed eben zum Berg gehen“. Das dürfe man nun aber gerade nicht so verstehen, dass man den Leuten nach dem Mund redet: „Wir dürfen das Wort Goethes nicht vergessen“, heißt es deshalb weiter, „‚[g]etretener Quark wird breit, nicht stark.‘“26 Stattdessen stellt sie sich und der kommunistischen Bewegung die äußerst anspruchsvolle Aufgabe, eine orthodoxe Auslegung des Marxismus an ganz verschiedene gesellschaftliche Kreise zu vermitteln.

Das besondere Augenmerk nicht nur auf der Richtigkeit der Analyse, wie bei Mandel, sondern auch auf der Form, die ihr in Agitation und Propaganda gegeben werden muss, um zu wirken, findet eine Parallele in dem großen rhetorischen Aufwand, den Zetkin in ihrer Rede betreibt, die gehässige Kommentare über ehemalige Genossen genauso enthält wie tiefe Verneigungen vor der russischen Partei und ihrer Revolution. Und doch zeichnet sich in der Rede eine Spannung ab, die auch das kämpferische Pathos nicht mehr kaschieren kann, zwischen der Überzeugung von der Unvermeidlichkeit des Kommunismus, dessen Sieg kurz bevorstehe, einerseits, und andererseits dem Bedenken angesichts des Stockens der Weltrevolution und des Aufstiegs des Faschismus. Diese Spannung verdichtet sich in Zetkins Mahnung, sich nicht von der – von ihr geteilten – Überzeugung, dass der Faschismus schließlich an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen müsse, in Sicherheit wiegen zu lassen. Inständig warnt sie die Genoss:innen davor, sich „durch das historische Begreifen des Faschismus zur Untätigkeit, zum Abwarten, zur Einstellung des Rüstens und des Kampfes wider ihn bestimmen lassen“. Das Begreifen, welches doch am Anfang ihrer Rede über den Kampf gegen Faschismus stand, kann also auch zur Hemmnis für die Praxis werden, wenn es andere, wichtige Aspekte verfehlt: Gerade im „Todeskampf“ schlage das „Ungeheuer“ besonders vernichtend zu.27 Doch mit der zunehmenden Verbreitung der Sozialfaschismusthese, die Grigori Sinowjew, Vorsitzender der Kommunistischen Internationale und für einige Zeit enger Weggefährte Josef Stalins, 1924, also nur ein Jahr nach Zetkins Analyse, vorgelegt, wird schließlich ausgerechnet in der Zeit, in der der Nationalsozialismus seinen Siegeszug antritt, nicht etwa die faschistische Bewegung, sondern die Sozialdemokratie als Hauptgegnerin ausgemacht: Als „gemäßigter Flügel“ und „Zwillingbruder“ des Faschismus sei sie die wichtigste Stütze des Kapitalismus.28

References

  1. Mandel, Ernest (1971): Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki: Schriften über Deutschland, Bd. 1, Frankfurt a. M.: EVA, S. 9–52, hier S. 9.
  2. Ebd.
  3. Ebd., S. 11.
  4. Nolte, Ernst (1984): Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus, in: Ders. (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, 6. Aufl., Königstein: Athenäum, S. 15–75, hier S. 15.
  5. Mandel 1971, S. 11.
  6. Nolte, Ernst (1986): Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.1986.
  7. Mandel 1971, S. 17.
  8. Nolte (1984a): Vorbemerkung zur vierten Auflage [1976], in: Ders. (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, 6. Aufl., Königstein: Athenäum, S. 11–12, hier S. 11.
  9. Mandel 1971, S. 13.
  10. Ebd., S. 26.
  11. Ebd., S. 12.
  12. Ebd., S. 52.
  13. Mandels Text erscheint unter dem Aufsatz-Titel „Trotzkis Faschismustheorie“ 1977 erneut als Broschüre in der Reihe „Internationale Sozialistische Publikationen – Theorie“ im ISP-Verlag.
  14. Vgl. Kellner, Manuel (2005): Kapitalismusanalyse, Bürokratiekritik und sozialistische Strategie bei Ernest Mandel [Diss. Marburg], S. 350.
  15. Mandel 1971, S. 30.
  16. Gringmuth, Sven: Über Ungleichzeitigkeit. Der Raubdruck eines Textes von 1942 als Schlüsselwerk der Gesellschaftsanalyse um 1968: Max Horkheimers Essay Autoritärer Staat, in: Jörg Döring und Morten Paul (Hrsg.): Geisteswissenschaften, populär. Westdeutsche Schreibweisen, Lektürepraktiken, Verlagspolitiken um 1970, Wiesbaden: Harrassowitz [i. E.].
  17. Mandel 1971, S. 13.
  18. Ebd., S. 48.
  19. Will, John (2022): Ernest Mandel in der Berufsverbotspraxis, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Themen [https://www.rosalux.de/news/id/45662/ernest-mandel-in-der-berufsverbotspraxis], 12/01/2022 (letzter Zugriff: 25.09.2024).
  20. Schütrumpf, Jörg (2023): Clara Zetkin – die erste Analytikerin des Faschismus, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung Themen [https://www.rosalux.de/news/id/50572/clara-zetkin-die-erste-analytikerin-des-faschismus], 13/06/2023 (letzter Zugriff: 23.09.2024).
  21. Zetkin, Clara (1960): Der Kampf gegen den Faschismus. Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, in: Dies.: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2: Auswahl aus den Jahren 1918 bis 1923, Berlin [Ost]: Dietz Verlag, S. 689–729, hier S. 689.
  22. Vgl. Zetkin, Clara (2023): Die Briefe 1914–1933, Bd. 2: Die Revolutionsbriefe (1919–1923), Berlin: Karl Dietz.
  23. Zetkin 1960, S. 689f.
  24. Ebd., S. 696
  25. Ebd., S. 725.
  26. Ebd., S. 726.
  27. Ebd., S. 720.
  28. Stalin, Josef (1952): Zur internationalen Lage; in: Ders.: Werke, Bd. 6: 1924, Berlin (Ost): Dietz Verlag, S. 251–269, hier S. 253.

SUGGESTED CITATION: Paul, Morten: Verstehen/Verhindern I. Vier Theorieszenen der Faschismustheorie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/verstehen-verhindern-i/], 25.11.2024

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20241125-0830

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