„Kamala IS brat“
Die Präsidentschaftskandidatur der US-amerikanischen Politikerin Kamala Harris hat in den klassischen wie in den sozialen Medien ein lautes Echo ausgelöst. Als aktuelle Vize-Präsidentin wurde sie von den Demokraten mit einem deutlichen Ergebnis als Nachfolgerin von Joe Biden gewählt, um noch in diesem Jahr für die US-Präsidentschaft zu kandidieren. Harris tritt gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump an.
Die beiden Kandidat:innen verfolgen in ihren Wahlkämpfen sehr unterschiedliche Strategien. Trump hat in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident bewusst zu Spannungen und Polarisierungen in der US-amerikanischen Gesellschaft beigetragen. Bisher setzt er auch in diesem Wahlkampf erneut auf eine provokante Strategie im Umgang mit seinen Konkurrent:innen – eine Vorgehensweise, die ihn bereits einmal zum Erfolg geführt hat. Harris wiederum scheint Trump inhaltlich eine prägnante Position entgegensetzen zu wollen und plant, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche zu einem zentralen Thema ihrer Kampagne zu machen.1 Mit einer klaren Positionierung für ein Selbstbestimmungsrecht für Frauen nutzt Harris selbst ein viel debattiertes Thema in den USA, um Aufmerksamkeit für ihre Vorhaben zu erregen. Harris will zeigen, wofür sie steht – und unterscheidet sich so von der zurückhaltenden Kommunikation eines Joe Biden, der polarisierende Themen in seinen Ansprachen tendenziell auslässt.
Während zum jetzigen Zeitpunkt über den Ausgang der Wahl im November 2024 nur spekuliert werden kann, hat Harris auf Social Media bereits stark gepunktet. Seitens der Republikaner wurde sie für ihre bisherigen Medienauftritte kritisiert, zu oft würde man ihr nicht sehr elegantes, lautes Lachen in Interviews hören, so sagt auch Trump selbst.2 Doch die erhoffte Zustimmung darüber, Harris für ihre Lockerheit als unseriöse Kandidatin zu diffamieren, blieb bisher aus. Im Gegenteil machen sich Unterstützter:innen von Harris die Kommentare über sie zu eigen: mit dem Statement „kamala IS brat“ löst die Sängerin Charli XCX einen Sommertrend für 2024 aus. In ihrem gleichnamigen Album brat singt Charli XCX über ein Frauenbild, das einem angepassten, höflichen Auftreten vollkommen widerspricht. Brat steht vielmehr für ein görenhaftes, freches Lautsein, für ein Aus-sich-Rauskommen und für das Widersetzen gegen Erwartungshaltungen. User:innen auf Instagram und TikTok nehmen diesen Trend auf und „kamala IS brat“ geht viral.
Zusätzlich erlebt das Palmen-Emoji eine Renaissance, da es von Unterstützer:innen der Harris-Community vermehrt genutzt wird. Diese unvorhersehbare (Über-)Nutzung des Palmen-Emojis entspringt einem Redebeitrag von Harris, in dem sie von ihrer Mutter erzählt:
My mother used to – she would give us a hard time sometimes, and she would say to us: ‘I don’t know what’s wrong with you young people. You think you just fell out of a coconut tree? You exist in the context of all in which you live and what came before you.’3

Beide Trends – „kamala IS brat“ und der Coconut-Tree – vervielfachen sich auf Social-Media -Plattformen nahezu zeitgleich. Dadurch entstehen neben zahlreichen Memes auch musikalische Features, in denen Harris’ O-Ton mit dem brat-Song von Charli XCX gemixed wird. Harris und ihr Team wissen den Hype zu nutzen und wandeln ihre Social Media Accounts zeitweilig auf ein apfelgrünes brat-grün um.4
Mit Kontextwissen durch den Wahlkampf
Nun ließen sich diese viralen Momente wie so viele vor ihnen als ein kurzlebiges Phänomen der jeweiligen Saison abtun, doch in Harris‘ Umgang mit der Situation steckt echtes Kommunikationspotenzial für diesen Wahlkampf. Denn mit der Erläuterung „you exist in the context of all“ referenziert Harris eine der Kernaussagen feministischer Epistemologie: Wir alle sind eingebettet in soziale Kontexte, aus denen heraus wir uns formieren und positionieren. Indem wir deutlich machen, von welchem Standpunkt aus wir sprechen, schaffen wir für Zuhörende Transparenz und Kontextwissen: Genau das deklariert auch der offizielle X-Account zur Harris-Kampagen: „providing context“.

Mit dem Ansatz, die eigene Position zu reflektieren, hat Nancy Hartsock in den 1980er-Jahren die feministische Epistemologie angestoßen. Basierend auf der Annahme, dass marginalisierte Gruppen von ihren (Unterdrückungs-)Erfahrungen geprägt sind, können sie diversere Standpunkte in Wissenschaft und Politik einbringen.5 Obwohl eine feministische Standpunkttheorie seit ihrem Aufkommen viel debattiert und kritisiert wurde (wie kann man von dem einen Standpunkt sprechen?), ist der Kerngedanke, die eigenen Erfahrungen zu kontextualisieren und zu kommunizieren, weiterhin Bestandteil feministischer Epistemologie. Die Untersuchungsperspektiven haben sich ausdifferenziert; von dem Zugang zu Institutionen für Frauen hin zu den Inhalten und Methoden, mit denen Wissen in Wissenschaften und Politik generiert wird. Gefragt wird danach, über welche Praktiken Wissen entsteht und wer entscheidet, was sich zu wissen lohnt. Dadurch entstand unter anderem auch das Konzept des situated knowledge, also eine Form situierten Wissens, um deutlich zu machen, dass Wissen nicht losgelöst von denen entsteht, die es untersuchen.6
Angesichts einer Wahlperiode, in der ein erneuter Trumpismus7 droht – eine verkürzte sowie verdrehte Darstellung von Fakten, die auf die eigene politische Position zugeschnitten ist –, könnte eine politische Kommunikation im Sinne einer feministischen Epistemologie so eine relevante und zugleich herausfordernde Neuerung repräsentieren. Denn um eine feministische Form politischer Kommunikation wirksam zu gestalten, müssten sich die US-Wähler:innen auf eine differenzierte Darstellung von Wissen einlassen und das kategoriale Ja/Nein-Denken verlassen. Eine Kommunikationsstrategie im Verständnis einer feministischen Epistemologie würde bedeuten, Wissen als weniger objektiv und eindeutig zu begreifen, und wohlmöglich auch darauf hinzuweisen, über welche Wege sich Informationen und „Fakten“ in wirtschaftlichen Machtdimensionen verstricken. Doch diese Offenheit gegenüber unsicherem Wissen ist gerade in US-Wahlkämpfen nicht die gewohnte Art und Weise, für die Präsidentschaft des Landes zu kandidieren. Schon vor dem Trumpismus sind die Wahlkampfkampagnen für die US-Präsidentschaft von eindeutigen Positionierungen geprägt – das zeigt sich schon daran, dass man sich entweder den Republikanern oder den Demokraten zuordnen muss, um seiner Stimme Gewicht zu verleihen. Es entsteht der Druck, sich dafür oder dagegen zu positionieren: für oder gegen Einwanderung, für oder gegen Abtreibung. Eine Auswahl über viele Parteien, die wie in Europa die politische Ausrichtung diversifizieren und tatsächliche Chancen auf Repräsentation im Parlament besitzen, sucht man in den USA vergeblich.
Eine differenzierte Kommunikationsstrategie im Verständnis einer feministischen Epistemologie erscheint im US-Wahlkampf zwischen Trump und Harris somit zunächst kontraintuitiv. Man würde denken, ein popularisierender Trump benötige eine ebenso stark vereinfachende Harris, um die Wähler:innen mit eindeutigen Meinungen zu überzeugen. Gleiches gilt auch für Social Media, denn eine politische sowie wissenschaftliche Kommunikation, welche die Kontextbedingungen von Wissen und Informationen mit kommuniziert, steht konträr zu polarisierenden und popularisierenden Kommunikationsmustern, wie sie sich in Memes wiederfinden und wie sie von Algorithmen gefördert werden.
Doch vielleicht ist es paradoxerweise genau das: eine feministische, situierte Form politischer Kommunikation, die eine erneute Trump-Ära verhindern könnte. Situiert würde mit Blick auf die politische Kommunikationsweise von Politiker:innen bedeuten, die Erlebnisse und Erfahrungen des eigenen Lebens in Reden und Auftritten einzubinden und sich damit, so wie Harris es bereits praktiziert, vor Wähler:innen wie Gegner:innen vulnerabel zu zeigen. Und neben der Reflexion und Kommunikation des eigenen Standpunkts repräsentiert Situiertheit auch die Fähigkeit, für eigenen Handlungen und Positionen klar Verantwortung zu übernehmen, wie Donna Haraway es 1988 formulierte: „[…] this essay is an argument for situated and embodied knowledges and an argument against various forms of unlocatable, and so irresponsible, knowledge claims. Irresponsible means unable to be called into account.“8
Das Beispiel „kamala IS brat“ zeigt, dass die Kontextualisierung und Situierung des eigenen Standpunkts auf Social Media funktionieren kann, wenn man Vorwürfen und Anfeindungen – wie eine Frau für ihr Lachen zu kritisieren – nicht mit der gleichen Wut begegnet, sondern daraus etwas anderes, Unerwartetes schafft. Wenn man, wie das Team um Harris, die punktuellen Social Media Trends aufgreift und in politische Kampagnen einbindet, um auch junge Wähler:innen im politischen Geschehen anzusprechen. Indem Harris ihrer Strategie treu bleibt, sich nicht dem Konformitätsdruck beugt und weiterhin über Kontextwissen und Coconut Trees punktet, ließen sich so vielleicht sogar die Vorstellungen darüber, wie Politikerinnen (sic!) zu sein haben, langfristig verändern.
References
- Sherman, Carter (2024): Harris was strongest at debate when talking about abortion while Trump relied on tired old lies, in: The Guardian [https://www.theguardian.com/us-news/2024/sep/11/abortion-harris-trump-debate], 11/09/2024 (letzter Zugriff: 19.09.2024).
- Wünsch, Silke (2024): Warum Kamala Harris‘ Lachen eine Geheimwaffe ist, in: DW [https://www.dw.com/de/warum-kamala-harris-lachen-eine-geheimwaffe-ist/a-69917562], 14/08/2024 (letzter Zugriff: 19.09.2024).
- Lowe, Lindsay (2024): Kamala Harris‘ coconut tree meme is going viral (again). What does it mean?, in: Today [https://www.today.com/popculture/news/kamala-harris-coconut-tree-meme-rcna163005], 22/07/2024 (letzter Zugriff: 19.09.2024).
- Faguy, Ana (2024): The internet is enthralled with Harris. Will that get her more votes?, in: BBC [https://www.bbc.com/news/articles/cn3897kdmpeo], 24/07/2024 (letzter Zugriff: 19.09.2024).
- Hartsock, Nancy (1983): The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism, in: Sandra Harding und M.B. Hintikka (Hrsg.): Discovering Reality. Feminist Perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology, and Philosophy of Science, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, S. 283–310, https://doi.org/10.1007/0-306-48017-4_15.
- Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives, in: Feminist Studies, Heft 14, Nr. 3, S. 575–599, https://doi.org/10.2307/3178066.
- Deutschlandfunk Nova (2021): Trumpismus. Ein Politikstil zeigt die Schwächen moderner Demokratien, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/trumpismus-ein-politikstil-zeigt-die-schwaechen-moderner-demokratien, 20/02/2021 (letzter Zugriff: 19.09.2024).
- Haraway 1988, S. 583.
SUGGESTED CITATION: Domgörgen, Frauke: „Kamala IS brat“. Kamala Harris‘ Social Media Kommunikation aus Sicht feministischer Epistemologie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/kamala-is-brat/], 14.10.2024