Abstract zu: Gelesen werden
Die Frage „Für wen machen Sie eigentlich Zeitung?“, also welche Leserschaft unterstellen Sie, kann einen als Literaturredakteur einer deutschen Tageszeitung in Verlegenheit bringen. Man beantwortet sie praktisch zwar tagtäglich, allein durch die Auswahl der redaktionell behandelten Themen und Bücher, und regelmäßige Befragungen vermitteln einem auch ein ungefähres Bild der Leserschaft, doch die darunter liegende Selbstverständnisfrage, für wen man eigentlich Zeitung machen möchte und welcher Gruppe von Lesenden man damit zuarbeiten möchte, gerät im Tagesgeschäft oft aus dem Fokus.
Im Rahmen einer Hommage an einen so versierten Feuilletonleser wie den 2018 verstorbenen Essayisten Michael Rutschky kann man feststellen, dass es am produktivsten ist, von einem Verhältnis auf gleicher Höhe von Zeitungsautor*innen und Zeitungsleser*innen auszugehen. Dem stehen aber langfristig wirkende Vorurteile und Einstellungen gegenüber. Im journalistischen Alltag geht man allzu leicht davon aus, dass Leser*innen rein passive Rezipient*innen ohne aktives Lenken des eigenen Leseverhaltens sind: Populäre Romane wie Stoner von John Williams inszenieren das Lesen von Literatur als Erweckungserlebnis und Berührung mit einer höheren Sphäre voller Autorität, und aktuelle Romane wie Streulicht von Deniz Ohde zeichnen nach, wie einschüchternd das Bild des Feuilletons in vielen Biografien, die sich aus sogenannten bildungsfernen Herkünften herausarbeiten mussten, weiterhin ist.
Am Beispiel des Lesekreises, der sich in Berlin um Michael Rutschky gebildet hatte, lässt sich dagegen zeigen, wie fruchtbar und auch beglückend ein pragmatisch an Erkenntnissen, Ideen und Hintergründen orientierter Umgang mit Büchern sein kann. Zu den Hintergründen gehören auch bewusst vollzogene und stets reflektierte Lockerungsbewegungen, die Herrn Rutschky und seinen Kreis sich von den biografischen Prägungen etwa durch das Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer haben entfernen lassen. Auch gab es keine Abwertungsmechanismen vermeintlich minderwertiger Kultursparten wie Kino oder Fernsehen.
Interessant ist, dass es in Deutschland kaum eine passende Semantik gibt, um die Erfahrung des Glücks eines solchen pragmatisch-produktiven Umgangs mit Büchern, wie sie der Lesekreis um Herrn Rutschky bereitstellte, und das Positive an diesen Lektüreerfahrungen kitsch- und stolperfrei aufzuschreiben. In gefährliche Nähe rücken schnell solche Wendungen wie Entschleunigung oder Wellness für die Seele. Dabei lässt sich mit Autoren wie Wolfgang Ullrich und Sascha Michel festhalten, dass Bücherwissen, richtig verstanden, eher ein Herd der Unruhe und Kontingenz und eben gerade keine kontemplative Quelle der Ruhe ist. Der Trost, den Lesen bereithält, auch das kann man mit Michael Rutschky sehen, kann dann aber an die letzten Dinge heranreichen: An die Teilhabe an der Erfahrung, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Die Langfassung dieses Beitrages in der Reihe „Unterstellte Leseschaften“ finden Sie hier.
SUGGESTED CITATION: Knipphals, Dirk: Abstract zu: Gelesen werden. Illusionen, Erfahrungen und Vermutungen eines Literaturredakteurs, in: KWI-Blog, [https://blog.kulturwissenschaften.de/abstract-zu-gelesen-werden/], 21.07.2021