Till RaetherANGST + | FEAR +

Angst vorm Schreiben

Angst vorm Schreiben Erschienen in: ANGST + | FEAR + Von: Till Raether

Alle Probleme beim Schreiben haben mit Angst zu tun. Diese Probleme sind, in chronologischer Reihenfolge: nicht anfangen können, nicht weitermachen können und nicht aufhören können. In jeder dieser Phasen drohen weitere Probleme, bei denen jeweils wiederum Angst der wichtigste Faktor ist. Zum Beispiel vorher: Was will die leere Seite von mir, und was will ich von ihr, und wer von uns beiden ist eigentlich der Boss? Oder mittendrin: Entweder, ich habe zu viel Angst, dann schreibe ich vorsichtig, farblos, uninteressant. Oder ich habe zu wenig Angst, dann schreibe ich selbstzufrieden, arrogant, ohrenbetäubend. Oder zum Ende, falls es eins gibt, die ängstliche Reue: Wäre es nicht doch noch besser gegangen? Erreicht, was ich geschrieben habe, überhaupt jemanden, und falls ja, verstehen sie mich?

Ich empfinde Schreiben also im Grunde als Angstmanagement. Erst, wenn ich den sweet spot finde zwischen zu viel und zu wenig Angst, gelingt es mir, Dinge zu schreiben, die nicht sofort wieder vom zurückwandernden Löschcursor geschluckt werden wollen, oder die ungelöscht so viel Ungutes akkumulieren, dass der Text zum Erliegen kommt. Wo aber ist dieser sweet spot? Und woher kommt die Angst vorm Schreiben?

Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich Texte zu Ende schreibe und rechtzeitig abgebe, weil ich Angst habe, die auf diese Texte wartenden Menschen im Stich zu lassen und gegen mich aufzubringen. Dies stelle ich unter anderem daran fest, dass ich keine Texte beenden kann, auf die niemand wartet. Es ist eine soziale Versagensangst, eine Angst vor Liebesentzug, die an die Schreibangst gekoppelt ist, und die produktiv wirkt, solange sie größer als diese ist: Der Schreibvorgang findet statt, wenn die soziale Angst, nicht zu schreiben, größer ist als die grundsätzliche Angst vorm Schreiben.

Dorothy Parker hat die elementare Abneigung der Schreibenden gegen das Schreiben in einem Satz formuliert, den ich schon zitiert habe, als ich noch nicht wusste, dass er von ihr ist und nicht, auf Deutsch, von mir: „I hate writing; I love having written.“ Ich denke, diese elementare Abneigung wird verursacht durch Angst vorm Schreiben. Die Angst vorm Schreiben wächst beim Schreiben. Weil beim Schreiben die Möglichkeiten mit jedem Wort und jedem Satz weniger werden. Schreiben beginnt mit unendlicher Freiheit, das Dokument ist leer, man könnte alles hineinschreiben. Und es endet mit maximaler Einschränkung der Bewegungsfreiheit: Das Geschriebene gilt als beendet, indem es in einer Form fixiert wird: Buch, Artikel, Arbeit, Gedicht. Ich war sehr erleichtert, als mir, viel zu spät, Walter Benjamins Satz begegnete, der ausdrückt, was ich vage spürte: „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.“ Der Schreibprozess führt in maximale Erstarrung. Die Vorstellung, die ich vorm Schreiben vom Schreiben hatte, war maximal beweglich. Die Angst kommt also daher, dass mit jedem Wort die Freiheit weniger wird, etwas anderes zu schreiben, und vor allem: etwas anderes geschrieben zu haben. Schreiben ist eigentlich Vernichten von Möglichkeiten und von Freiheit.

Wobei ich das als paradox erlebe. Indem ich Freiheit vernichte, also voranschreibe, eine bestimmte Menge Text schaffe und eine unendliche Menge verwerfe, spüre ich überhaupt erst die Möglichkeit, das, was ich gerade erstarren lasse, überhaupt zu beenden. Es entsteht kurz dieser erwähnte sweet spot, an dem ich merke: Die getroffenen Entscheidungen ermöglichen ein Weitermachen, indem sie mir erlauben, nicht ständig zurückschauen oder umkehren zu müssen. Bei Texten, die auf Plot und Figuren basieren, tritt diese Phase in meiner Erfahrung etwa bei der Hälfte oder nach einem großzügigen Drittel der entstehenden Textmenge ein. Dann habe ich für eine Weile das Vertrauen, dass meine Angst, die falschen Entscheidungen getroffen zu haben, klein genug geworden ist, um den Schreibprozess aufrechtzuerhalten, dessen Motor die Angst ist, nicht rechtzeitig fertigzuwerden und dadurch mir und anderen Ärger zu verursachen. Für eine Weile läuft es wie geschmiert, der Angstmotor ist gut geölt. Es geht fast unbeschwert voran, aber die Möglichkeiten werden dabei ja weiter weniger, mit jedem Kapitel, mit jedem Satz. Zwar entsteht auf der Strecke auch Unvorhergesehenes, aber der interessanteste Geistesblitz ist nicht so faszinierend wie die vage Vorstellung, die ich anfangs einmal hatte. Also holt sie mich irgendwann, vielleicht zum Ende des zweiten Drittels hin, wieder ein, die Angst vor der Fratze der Totenmaske.

Ich unterhalte mich mit einer Kollegin über die Angst vorm Schreiben, und wir stellen fest: Das Schreiben hört nie auf. Nicht als biographische, händische Tätigkeit, sondern das Schreiben an einem bestimmten Text. Wenn wir Bücher schreiben, schreiben wir sie mehrfach: einmal ganz zuerst, ganz im Wortsinne der Kommunikation von „Ich schreibe gerade ein Buch“. Dann nochmal mit dem Lektorat zusammen, wenn wir redigieren und ändern. Dann, wenn wir mit dem Bleistift über die Fahnen oder mit der Kommentarfunktion in das PDF gehen, obwohl das Buch in dieser Phase als „eigentlich fertig“ gilt. Ich schreibe das gedruckte Buch aber sogar noch weiter, bevor ich die erste Lesung daraus mache: indem ich mit Streichungen und Ergänzungen am fertigen Buch weiterschreibe, oder, wie ich es für mich nenne, darin herumfuhrwerke. Ich schreibe sogar noch während des Lesevorgangs vor Publikum weiter: Jeden Abend lese ich ein anderes Buch, ich füge Wörter ein, lasse Stellen weg mit Blick auf die Uhr oder weil jemand in der dritten Stuhlreihe komisch guckt. Ich tue das aus Angst vor der Benjaminschen Totenmaske. Selbst wenn die Lesungsphase vorbei ist und ich das Buch nicht mehr zu Hand nehme, schreibe ich es dennoch weiter. Es verändert und entwickelt sich in meiner Erinnerung, ich kann es nicht loslassen. Als Kind habe ich einmal eine Armbanduhr, die mein Vater mir im Urlaub geschenkt hatte, in die Schublade gelegt, als sie nicht mehr ging, in der vagen Hoffnung, sie würde sich von selbst reparieren. Einige Wochen später, als ich sie, mit einem unguten Gefühl, aber durch Zufall, hinten in der Schublade wiederfand, lief sie tatsächlich wieder. Vielleicht gefiel der Batterie die Temperatur in der Kommode besser, oder das Uhrwerk setzte sich durchs Zuschlagen der Schublade wieder in Gang, keine Ahnung. Es war ein magischer Moment, den ich jedes Mal aufs Neue herbeisehne. Meine scheinbar fertigen Bücher stehen im Regal, aber im Hinterkopf hoffe ich, sie werden sich im Regal von selbst reparieren. Weil ich Angst habe, sie könnten es nicht tun, schreibe ich neue, die es vielleicht besser können.

Ich habe wenig Berührung mit der akademischen Rezeption und Analyse von Geschriebenem. Neulich war ich zum ersten Mal Vortragender bei einer literaturwissenschaftlichen Tagung, es ging um Kriminalerzählungen der Gegenwart. In der Pause erfuhr ich, dass es Schriftsteller*innen gibt, die gezielt zu literaturwissenschaftlichen Tagungen über ihr Werk, ihr Schaffen gehen. Sie hören dort den Vorträgen zu und diskutieren mit, sie sind Ehrengäste und Gegenstand zugleich. Ich fand die Vorstellung bizarr. Aber indem ich über Angst vorm Schreiben nachdenke, ändert sich meine Einschätzung, und ich frage mich, ob nicht selbst hinter dieser Handlung statt Eitelkeit oder Anerkennungsfreude vielmehr Angst vorm Schreiben steckt. Angst vorm Weiterschreiben der anderen, sozusagen. Wenn man nicht hingeht, muss man fürchten, nicht beobachten und vielleicht beeinflussen zu können, wie andere am eigenen Werk weiterschreiben, indem sie es deuten und befragen.

Insofern gibt es, denke ich, eigentlich kein „having written“ im Sinne von Dorothy Parkers Zitat. Es gibt unterschiedliche Härtegrade von Angst vorm Schreiben. Diese Angst aushalten zu können, empfinde ich als großes Glück, als Talent und Übungssache so wie das Schreiben selbst. Mein größtes Ziel dabei ist, dass die Leser*innen den Texten so wenig Angst wie möglich anmerken – oder nur ganz selten, in Selbststilisierungen oder Bekenntnissen wie diesem.

SUGGESTED CITATION: Raether, Till: Angst vorm Schreiben, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/angst-vorm-schreiben/], 21.06.2021

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20210621-0830

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