Oliver RufWORTATLAS

Ausstellungsästhetische Einblicke

Ausstellungsästhetische Einblicke Die Vitrine Erschienen in: WORTATLAS Von: Oliver Ruf

Ein Objekt ist auf den Fluren der meisten Universitäten oft augenscheinlich. Auf der Suche nach dem Büro des Lehrpersonals trifft man auf dieses Artefakt, das dazu bestimmt ist, die Blicke der daran vorbei Gehenden einzufangen und auf etwas zu Zeigendes, Hinzuweisendes zu lenken: Die Vitrine ist als Blickfang und Generator von Einblicken gleichermaßen ein Signum buchstäblicher Universitäts-Begehung. Die an ihr Vorbeigehenden schauen durch die Transparenz ihrer gläsernen Hülle, des Glaskastens, der sie zum produzierten (gemachten) und funktionalisierten (Zweck-)Ding macht, und meist erblicken sie in ihr entweder ältere oder aktuelle Publikationen der universitär Lehrenden und Forschenden.

Abb. 1: Büchervitrine des Instituts für Musikwissenschaft, Universität Bern, https://www.musik.unibe.ch/
Abb. 1: Büchervitrine des Instituts für Musikwissenschaft, Universität Bern, https://www.musik.unibe.ch/

Die Vitrine stellt aber nicht nur eine vertraute Orientierungs-Marke dar, sondern auch eine Art Überraschungs-Ei auf den oft öden Fluren von Universitäten. Unvermutet und in unregelmäßigen Abständen verändert sich ihr Innenleben – oder aber es bleibt über Jahrzehnte hinweg gleich. Wie auch immer es sich verhält, erweist sich die Vitrine in jedem Fall als Erscheinungsform einer ‚Ausstellung‘ von Universitäts-Materialität, womit sie ebenfalls (noch) als Exemplum von Universitäts-Medialität gelten kann – ‚noch‘, da es einerseits zunehmend ‚virtuelle Vitrinen‘ gibt und andererseits die Zahl von Vitrinen und Aushangmöglichkeiten nicht zuletzt durch Brandschutzbestimmungen in den vergangenen Jahren spürbar zurück gegangen ist.

Mittels der ‚traditionellen‘ Vitrine materialisieren sich jene Erzeugnisse, die innerhalb der Universität erstellt werden: angefangen von Sammelbänden und Monographien über historische Dokumente, Gerätschaften, Schädel, ausgestopfte Tiere und ähnliches – jeweils abhängig davon, an welcher Art von Institut, an welcher disziplinären Fakultät bzw. an welchem Fachbereich man sich gerade befindet. Mittels der Vitrine werden diese Dinge zugleich vermittelt – allerdings nicht zwingend über digitale Interfaces, sondern doch noch meist gleichsam verpackt: umgeben von Glas, dreidimensional installiert und für den anschauenden, betrachtenden Blick zurechtgemacht, bewusst ausgestellt.

Abb. 2: Historische Lehr- und Messgeräte an der Professur Bauphysik, Bauhaus Universität Weimar
Abb. 2: Historische Lehr- und Messgeräte an der Professur Bauphysik, Bauhaus Universität Weimar

Wie nähert man sich der von der Vitrine realisierten ‚Kunst des Ausstellens‘ an universitären Orten? Ein semiotischer Zugang erlaubt die Frage, wie hier eine Art Musealisierungsprozess vollzogen wird, der sich explizit auf außermuseale Gegenstände bezieht,1 d. h. auf wissenschaftliche Texte, gesammelte Werke oder zeitgeschichtliche Dokumentationen. Die Vitrine gerät dabei selbst zum Medium,2 da sie dem von ihr und in ihr Gezeigten überhaupt erst eine Bedeutung verleiht, indem es jenes zur Schau stellt und damit auch zu einem „kulturellen Konstrukt“3 macht. Da somit Zeichenprozesse ausstellungshaft organisiert werden, kann die ‚Arbeit‘ eines Lehrkörpers, wie sie sich – zumindest in der Vergangenheit – vor allem im Outcome wissenschaftlicher Druckerzeugnisse manifestierte, ästhetisch erfahren werden. Gleichzeitig verharren diese Erfahrungen allerdings im Moment der Codierung, da i. d. R. die gezeigten Werke nicht lesbar sind und auch nicht angefasst und schon gar nicht aufgeschlagen werden können; sie bleiben verschlossen, sind nicht unmittelbar zugänglich, nicht im Augenblick der Begegnung rezipierbar: Sie sind ‚nur‘ sichtbar; sie werden ‚nur‘ gezeigt, ‚nur‘ ausgestellt. Es geht deshalb auch bei der Vitrine um eine „Grammatik des Ausstellens“ und um eine „Rhetorik des […] Zeigens“.4 Dieser Moment des Zeigens, wie ihn die Vitrine in der Universität initiiert, lenkt den Blick „auf etwas Drittes“, das den Beitrag zur jeweils betroffenen ‚Scientific Community‘ repräsentiert:

„Der Zeiger ist Mittel, er muss als solches erkannt und beim Wahrnehmungsvorgang ‚herausgefiltert‘ werden. Er kann und muss als solches aber auch in seiner Technizität reflektiert werden. ‚Index‘ heißt der Zeigefinger. Ein ‚Index‘ ist ein Referenzsystem, eine Verweisstruktur – eine Leseliste, Verbot und Lockung. ‚Index‘ heißt auch der Zeichentypus, der als ‚Anzeichen‘, als ‚Folgezeichen‘ zu interpretieren ist.“5

Die Vitrine ermöglicht so als Medium und Objekt der Vermittlung von akademischer Arbeit im Kontext der Universität eine Art ‚Zeige-Auftritt‘, eine deiktische Performance, die den Akt sowohl der Herstellung wie der Darstellung von Wissenschaft betrifft. Mit ihr erhalten Positionen innerhalb eines Diskursnetzwerkes eine Form. Durch den Akt des Zeigens kommt der Vitrine zugleich die Aufgabe zu, die einzelne Universität in ihren Einheiten und Ordnungen beiläufig zu schildern, vielleicht auch aufzufrischen, in jedem Fall aber die Einheit etwa eines Lehrstuhls oder Instituts exemplarisch aufzuführen.6

Abb. 3: Präsentationen der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft.
Abb. 3: Präsentationen der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft.

Vitrinen sind deiktisch verfasste Schaukästen innerhalb einer universitären Leistungskultur, die Produkte vorzeigen, aber auch in Szene setzen. Wie aber setzt man die Arbeit z. B. von Philolog*innen in Szene? Wie kann beispielsweise die Leistung der neuen Edition einer historisch-kritischen Ausgabe exponiert und präsentiert werden? Welche Gesten des Ausstellungsaktes sind sinnvoll? Letztendlich sind dies dramaturgische Fragen, die die performative Dimension des Ausstellens als Vollzug eines Vorzeigens betreffen.7 Die Flure bzw. die Gänge einer Universität geraten so zu – ausgewählten – Bühnen, auf denen verschiedene Rollenverteilungen ausdrücklich und verborgen zu besichtigen sind und diejenigen umfassen, die die Inhalte hergestellt und kuratiert haben. Die Regie aber führen die Objekte an sich, denn es handelt sich um ästhetische (wahrnehmbare, wahrzunehmende) Faszinosa, die an Züge von Vorstellbarkeit gekoppelt sind: Wer hat die gezeigten Texte verfasst? Wer hat die ausgestellten Zeugnisse zusammengetragen? Woher stammen die Sammlungen? Welche Geschichte von spezifischer Universität wird von dies allem installiert? Was sagen die aufgereihten historischen Geräte? Aber auch: Wer reinigt die Vitrinen? Wer wischt den Staub? Wer hat den Schlüssel? Die mit der Vitrine verbundenen Zeichenprozesse sind schließlich nicht von Praxen zu lösen – von denjenigen des Alltags (‚Saubermachen‘) wie von denjenigen der Zugänglichkeit (‚Öffnen‘ und ‚Schließen‘).

Abb. 4: Dentalhistorische Sammlung Bonn, Blick in die Sammlung, Foto von Priv.-Doz. Dr. Ernst-Heinrich Helfgen/Universität Bonn
Abb. 4: Dentalhistorische Sammlung Bonn, Blick in die Sammlung, Foto von Priv.-Doz. Dr. Ernst-Heinrich Helfgen/Universität Bonn

Vor der Folie dieser beobachtbaren und ausstellungstheoretisch einordbaren Befunde ließe sich behelfsmäßig eine kleine Typologie der Vitrine als deiktischer Schauplatz von/der? Universität vorschlagen: die Darbietung (1.) der bereits genannten Neuerscheinungen wissenschaftlicher Texte, die in der Mehrzahl monographische Ganzschriften umfassen; die Darbietung (2.) wechselnder Zeugnisse aus den Beständen universitärer Archive; die Darbietung (3.) von Projektergebnissen, die oft aus einzelnen Lehrveranstaltungen entstanden sind und damit einen Theorie-Praxis-Transfer der einzelnen Disziplin verhandeln. Hinzunehmen ließen sich jenseits dieses ‚Vitrinen-Diskurses‘ außerdem Ankündigungen in Schaukästen, die als Informationen über studienganginterne Neuerungen und/oder Bekanntgabe etwa von Prüfungsleistungen, Kontaktmöglichkeiten, Ausfällen usw. dienen.

Abb. 5: AAI-Ausstellung: Schöne Einbände und besondere Formate an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
Abb. 5: AAI-Ausstellung: Schöne Einbände und besondere Formate an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Damit entpuppt sich die Vitrine als Ort, an dem sich stufenweise lernen lässt, die Universität noch einmal anders zu sehen. Gesehen wird dabei nicht nur das, was entsteht (beim Forschen/aus Forschung, im Seminar/während eines Projekts); die Vitrine eröffnet vielmehr auch einen Blick hinter die Bühne, in den Lager- und Aufbewahrungsbereich, in die Katakomben, den Fundus etc. Ans Licht geholt und zurechtgemacht, fixiert und platziert wird damit in der Vitrine auch all jenes, was im Alltag der Universität nicht offensichtlich ist, nicht offen zu Tage tritt, nicht alltäglich zu sehen, zu erblicken ist: deren Entstehungs- und Verbreitungsdimensionen. Doch ist dies nicht eher eine Lieblingsidee der Theorie? Denn dasjenige, was am Ende in die Vitrinen wandert, ist selektiert und zum Zeigen aufbereitet, gerade weil es Leistungen demonstrieren soll. Dennoch legt die Vitrine dadurch Spuren zu den Hinterbühnen, die wir nicht sehen. Die Vitrine, so könnte man sagen, initiiert eine Schnitzeljagd, die zu den vergrabenen und/oder un(an)greifbaren Elementen der individuellen Universität hinleitet.

In der Fülle des Ausgestellten wird auch eine regulative, normative Leitidee der Universität ‚vorzeigbar‘. Die Vitrine fungiert als Paratext, der diese Leitidee mit ‚Input‘ und ‚Output‘ illustriert. Im Mittelpunkt der Vitrine stehen ‚Dinge‘ der Universität, die „semantisch ‚dicht‘ und ‚offen‘“8 zugleich sind, und damit auch mögliche Gründe für ihre Sammlung, ihren Besitz, ihre Zurschaustellung. Der zeigbare Wert – wiederum als Leistungsausweis des je unterschiedlichen universitären Bestandteils – wird auf Zeichenhaftigkeit hin ausgerichtet. Die als Vitrine sichtbaren wie auch ideellen und immateriellen Spuren werden erneut als Codierungen interpretierbar, die es wiederum zu rekombinieren, zu vergleichen und zur Disposition zu stellen gilt. Man könnte auch von „Doppelzeichen“9 sprechen, die gleichzeitig repräsentieren und die „Unmittelbarkeit eines Abdrucks oder Eindrucks“ bewahren.10

In ihrer semiotischen Verdichtung stellte die Vitrine Beobachtungspositionen für das bereit, was man die ‚Welt‘ der Universität nennen könnte – in dem gläsernen ‚Guckkasten‘ wird diese Welt sinnlich und konzeptionell gerahmt. Die mediale Charakterisierung der Vitrine als eine Art Umgestaltung oder punktgenaue Übertragung beim Übergang zwischen den Sphären des mit ihr Gezeigten lässt erkennen, wie eine vorausgehende kommunikative Intention übersetzt wird: Ihre Form ist nach wie vor Form in einem Medium. So gesehen ließe sich an der Vitrine das ‚vermittelnde Wesen‘ von Universität – ihre eigentliche Vermittlungsfunktion – aufzeigen, deren Realisation stets eine Veränderung des Vermittelten bedingt, und zwar unter dem Vorzeichen der Integration ausdrücklich medialer Optionen.11

Dabei ändert sich die mit der Vitrine realisierte Praxis des Vorzeigens so, wie sich jede Kulturpraxis ändert – von ‚virtuellen Vitrinen‘ war bereits die Rede, die im Zuge der ostinaten Online-Lehre sich zukünftig weiter verbreiten dürften, im Übrigen analog dazu, wie die Leitidee(n) von Universität im Zuge der so genannten Digitalisierung Transformationsprozessen unterliegen.

Aber auch in der sich damit konstituierenden ‚digitalen Universität‘ ist die Vitrine als ‚Lernort‘ aufzufassen, der eine ‚freie‘ Didaktik impliziert: Die Vitrine ermöglicht (real oder digital) den Universitätsbesuch als Objektbetrachtung, um handfest, am konkreten Gegenstand etwas Eigenes zu lernen. Wer sodann Universität ‚vitrinenästhetisch‘ erlebt, knüpft Erinnerungen an solche Einblicke, bindet sie daran zurück, vermag sie an jenen zu kontrollieren, zu relativieren, zu intensivieren, zu präzisieren, zu motivieren. Anders gesagt: Die Vitrine hat ihren Anteil daran, sich die eigene Universitätserfahrung zu weben und am Ende (im besten Fall) eine Beziehung zu stiften.

References

  1. Vgl. u. a. Peter Seibert: „Literatur und Museum. Einführung in das Themenheft“, in: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 2-10, hier S. 9.
  2. Vgl. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004.
    https://doi.org/10.14361/9783839401927
  3. Jana Scholze: „Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen“, in: Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 121-148, hier S. 123.
    https://doi.org/10.14361/9783839408148-006
  4. Hubert Locher: „Worte und Bilder. Visuelle und verbale Deixis im Museum und seinen Vorläufern“, in: Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 9-36, hier S. 12.
  5. Heike Gfrereis/Marcel Lepper: „Vorwort“, in: dies. (Hg.), Deixis (wie Anm. 4), S. 7f., hier S. 7.
  6. Vgl. Gottfried Boehm: „Die Hintergründe des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes“, in: Gfrereis/Lepper (Hg.), Deixis (wie Anm. 4), S. 144-155, hier S. 144.
  7. Vgl. Uwe Wirth: „Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?“, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 53-64, hier S. 54.
  8. Heike Gfrereis: „Von der Apotheose des Dichters hin zur Ausstellung des Sichtbaren. Das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne in Marbach“, in: Sabiene Autsch/Michael Grisko/Peter Seibert (Hg.): Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern, Bielefeld: transcript 2005, S. 221-226, hier S. 226.
    https://doi.org/10.14361/9783839403143-015
  9. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 1999, S. 209.
  10. Aleida Assmann: Erinnerungsräume, S. 209, 211.
  11. Vgl. Uwe Wirth: „Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermittlung“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 222-234, hier S. 222.

SUGGESTED CITATION: Ruf, Oliver: Ausstellungsästhetische Einblicke. Die Vitrine, in KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/ausstellungsasthetische-einblicke/], 17.05.2021

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20210517-0800

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