Philipp WeberMehr oder Weniger | More or Less

Das Mehr oder Weniger der Lust

Das Mehr oder Weniger der Lust Slavoj Žižeks neues Buch: „Die Paradoxien der Mehrlust“ Erschienen in: Mehr oder Weniger | More or Less Von: Philipp Weber

In seinem neuen Buch widmet sich Slavoj Žižek den „Paradoxien der Mehrlust1, mit denen gegenwärtige kulturelle und politische Entwicklungen und Phänomene theoretisch durchdrungen werden sollen. Derzeit ist der Philosoph darum wieder vermehrt in Podcasts, Talkshows und bei kulturellen Veranstaltungen zu Gast – so etwa auch auf der diesjährigen phil.Cologne. Was also steckt hinter dem Medienwirbel um das Buch? Und welche Erkenntnisse hält es bereit für das Jahresthema des KWI: „Mehr oder Weniger“? Zunächst dreht es sich darin – wie von Žižek gewohnt – um Aspekte der Weltpolitik, neue Entwicklungen im Diskurs linker Theoriebildung (die der Autor mit erstaunlicher Souveränität und Tempo zu erfassen, reflektieren und kritisieren weiß), Beobachtungen von popkulturellen Phänomenen (allen voran neuen TV-Serien und Kinofilmen) sowie den Neuerungen um die sogenannte PC culture. Soweit scheint also erstmal alles beim Alten, auch wenn man dem Buch des einstigen enfant terrible des philosophischen Diskurses die Schwierigkeiten anmerkt, mit dem neueren Umgangston öffentlicher Debatten umzugehen.

Im Zentrum des Buchs steht der Neologismus der „Mehrlust“, mit dem sich das Buch der Frage nähern will, „warum wir unsere Unterdrückung genießen“ (241). Diese Paradoxie wurde indessen schon von Judith Butler entfaltet: „The repressive law is not external to the libido that it represses, but the repressive law represses to the extent that repression becomes a libidinal activity.”2 Das fortlaufende Entbehren von Befriedigungen, so ließe sich diese perfide Logik in anderen Worten formulieren, macht das Entbehren auf eine bestimmte Weise selbst genießen. In dieser spezifischen Form der Unterdrückung (bzw. dem ihr inhärenten Genießen) vermutet Žižek nun die „elementare Form der Mehrlust“ (241).

Was also hat es auf sich mit dem merkwürdigen Begriffshybrid? Žižek setzt zur Klärung zunächst mit der Unterscheidung von Begehren und Genießen an: Jaques Lacan hat sich in seiner Fortführung der psychoanalytischen Theorie Freuds u.a. der Objektursache des Begehrens gewidmet und den Trieb als ein Gegenmodell dazu entworfen.3 Kurz gesagt bedeutet das: Während das unbewusste Begehren des Subjekts einem der Sprache stets verlorenen Objekt nachtrachtet, es als Ziel festlegt und letztlich doch verfehlen muss, ist der Trieb die eben dieses verlorene Objekt unermüdlich umkreisende Bewegung. Zwar mag er durchaus auch auf ein Objekt aus sein, doch hat der Trieb ausschließlich in der exzessiven, motorischen Rotation um eine Leerstelle sein Ziel. „Begehren und Genießen können daher nicht in irgendeiner höheren Synthese zusammengeführt werden“, so erklärt Žižek, „und es gibt auch keine fundamentalere Dimension, die beiden Polen verbindend zugrunde liegt – was zuerst kommt, ist lediglich die Lücke selbst, welche die beiden Pole, Mangel und Überfluss, voneinander trennt“ (306).

Das gegenseitige Verfehlen von Begehren und Trieb ist nun von enormer Relevanz in der unbewussten Lusterfahrung im Kapitalismus. Dafür ist zunächst erneut auf Lacan zurückzukommen: Zwar entlehnt dieser seinen Begriff der „Mehrlust“ (den er in seinem Seminar 16, D’un Autre à l’autre, aus den Jahren 1968/69 erstmals vorstellt) vom Marx’schen des ‚Mehrwerts‘, doch geht es ihm nicht etwa darum, eine Synthese oder simple Analogie zwischen Arbeitswerttheorie und Libidoökonomie herzustellen. Eher muss man den Zugang so verstehen, dass die Mehrwertökonomie einen „Kurzschluss“ (Lacan) in der Ökonomie des Unbewussten erzeugt. Die These Žižeks dazu lautet nun: „Dadurch, dass der Kapitalismus auf die Gewinnung von Mehrwert ausgerichtet ist, verändert er die Grundkoordinaten unseres Begehrens“ (311).

Eines der merklichen Defizite des neuen Buchs von Žižek besteht in der Absehung von konkreten begrifflichen Anstrengungen. Sicherlich bestand ein Erfolgsgeheimnis von Žižeks Argumentationsweise stets darin, dass sie philosophisch schwierige Fragen mit großformatigen, popkulturell unterfütterten Thesen arrangierte und beide Elemente in eine treffsichere Pointe goss; doch fehlt dem neuen Buch etwas von der einstigen, so beschwerlichen wie wichtigen Begriffsarbeit. Der Frage etwa: „Was ist Mehrlust also?“ weicht Žižek in gewisser Weise aus, wenn er an Stelle einer terminologischen Anstrengung nur eine knappe (wenngleich ideenreiche) Beobachtung der Dreigroschenoper (1928) von Bertolt Brecht und Kurt Weil liefert, welche den heutigen, heiteren Zynismus der Postmoderne zu antizipieren scheint (306). Im Hinblick auf das System des „Kapitalismus“ vermisst man aber eine historische Differenzierung, ein Abwägen zwischen hegemonialen Spielarten, zwischen religiösem oder säkularem Überbau, zwischen Kunstbetrieb und Kulturindustrie. Stattdessen stellt Slavoj Žižek frei von jeder Historisierung die gewagte These in den Raum, der Kapitalismus sei die „erste und einzige Gesellschaftsordnung, welche das Grundparadox des menschlichen Begehrens in seine Funktionsweise integriert“ (311).

Damit kommt Žižek dessen ungeachtet auf das ominöse „Mehr“ zu sprechen, das nicht nur die eine Hälfte der Begriffskombination „Mehrlust“ ausmacht, sondern auch im Zentrum des Interesses des KWI-Jahresthemas steht. Die gegenseitige Verfehlung von Begehren und Trieb ist dabei erneut von Relevanz, denn das Begehren eines Objekts wissen sowohl der ubiquitäre Warenkapitalismus als auch jener selbst schon mythische pursuit of happiness der Leistungsgesellschaft für sich in Gebrauch zu nehmen – doch modifizieren sie dieses Begehren noch in signifikanter Weise: „Egal, was wir erreichen, es ist nie ‚das‘, immer wollen wir etwas anderes und mehr; das Endziel unseres Begehrens besteht nicht darin, etwas ein für alle Mal zu erreichen, sondern seine Selbstreproduktion in immer umfangreicherer Form endlos zu wiederholen“ (312). Die innere Paradoxie des Begehrens im Kapitalismus macht diesen dann aber nicht etwa anfälliger oder instabiler, im Gegenteil lässt sich behaupten, er konsolidiere dadurch erst seine Macht: „Weil wir das Mehr begehren, das sich jedem Objekt entzieht, sind wir schon durch unsere Ausrichtung auf Lust und Befriedigung dazu gezwungen, erreichbare Befriedigungen um künftiger Befriedigungen willen zu opfern“ (312). Das einzige ‚handfeste‘ Genießen, was dann noch bleibt, so gewinnt man den Eindruck, ist dasjenige, das man dem Kapital selbst zuschreiben kann: Die exzessive Selbstreproduktion und die unermüdlichen Bewegungen der Divisen- und Aktienmärkte sind die wirklich obszönen und triebhaften Momente einer Marktgesellschaft, die sich realiter um den gemeinsamen Mangel herum organisiert.

Für das Jahresthema „Mehr oder Weniger“ des KWI bieten die Ausführungen zur „Mehrlust“ in jedem Fall ebenso provokante wie hilfreiche Anknüpfungspunkte, denn Lacans Psychoanalyse vermag zu zeigen, dass jenes stetig beschworene „Mehr“ des Enjoy Capitalism! ein bislang nur wenig bemerktes Ensemble von Herrschaftspraktiken hervortreibt. Die Wirksamkeit des „Mehr“ der kapitalistischen Gegenwart ist dann eben nicht nur ihr kurzfristiges Glücksversprechen (dem sich schon Herbert Marcuse widmete und welches sich alsbald als Illusion zu erkennen gibt4). Schlimmer noch wirkt, dass wir „als Konsumenten […] im Voraus sehr genau [wissen], dass wir nicht bekommen, was wir uns gewünscht haben, und darum sind wir auch nie wirklich enttäuscht, darum erheben wir kein hysterisches Geschrei, dass man uns getäuscht oder gar betrogen hätte“ (312). Das heißt, die Enttäuschung über die Erkenntnis eines fehlenden Mehr, seine Entlarvung als ein libidinöses „Weniger“, ist gar keine – darin besteht der eigentliche Skandal. Obgleich also im Bereich der Ökonomie des Unbewussten das „Mehr oder Weniger“ keineswegs sich gegenseitig ergänzende Hälften bedeutet, stehen sie in einem strikten Zusammenhang miteinander. Der versprochene Mehrwert bleibt den Konsumierenden dabei allerdings vorenthalten, so kann man sagen, und dafür genießen sie ein „Weniger“, das den Wettbewerb untereinander noch weiter anzutreiben vermag.

References

  1. Žižek, Slavoj (2023): Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten, Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  2. Butler, Judith (1997): The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford: Stanford University Press, S. 55. https://doi.org/10.1515/9781503616295.
  3. Vgl. u.a.: Lacan, Jacques (2015): Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übers. von Norbert Haas. Wien: Turin + Kant, S. 207.
  4. Vgl. etwa Marcuse, Herbert (1966): Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston: Beacon Press, bes. S. 49-69.

SUGGESTED CITATION: Weber, Philipp: Das Mehr oder Weniger der Lust. Slavoj Žižeks neues Buch: „Die Paradoxien der Mehrlust“, In: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/das-mehr-oder-weniger-der-lust/], 10.07.2023

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20230710-0830

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