Die Medizin – eine Checklisten-Disziplin
Vom Beginn des Studiums bis hin zur klinischen Routine im Krankenhaus ist die Form der Liste ein tägliches Arbeitsinstrument für Mediziner*innen: Multiple-Choice-Tests, Anamnesebögen, Medikations- und Therapiepläne sowie Diagnostiktabellen sind allseits vorhanden. Sogar eine medizinische Fachbuchreihe trägt bezeichnenderweise den Titel Checkliste1. Bevor wir über diese ausgeprägte Neigung zur Liste herablassend schmunzeln, erinnert uns Atul Gawande, Chirurg und Professor an der Harvard Medical School in seinem Checklist Manifesto2 daran, dass angesichts der Komplexität der Aufgaben und der Begrenztheit menschlicher Kapazitäten die Kontrolle und Hilfestellung, die von einer simplen Checkliste ausgeht, nicht zu überschätzen ist. Das einfache Instrument der Checkliste vermeidet die Fehler, die trotz Erfahrung und Expertise durch punktuelles Vergessen und Unaufmerksamkeiten entstehen. Sie sind „als Medien der Orientierung und Techniken der Organisierung für die Gesellschaft unverzichtbar“3. Listen prägen indessen nicht nur den klinischen Alltag, sondern auch die Sichtweise des medizinischen Personals auf Patient*innen.
Beginnen wir mit dem Anamnesebogen. Die gelisteten Fragen, die kreisrunden Kästchen zum Ankreuzen, die kleinen Linien, auf denen Allergien notiert werden können, oder auch die Abfrage der sogenannten Familiengeschichte sind ein Mittel, mit dem behandelnde Ärzt*innen sicherstellen wollen, dass sie alle nötigen Vorkenntnisse haben, um in Diagnose und Behandlung keine Fehler zu machen. Idealerweise können die gelisteten Fragen als eine Art Gesprächsleitfaden dienen. Zugleich haben diese Listen das Potential, ausschweifende Leidensgeschichten zu unterbinden. Die gelisteten Fragen machen aus einem vermeintlich offenen Gesprächsablauf eine geschlossene Agenda. Das Formular sorgt darüber hinaus für eine klare Gesprächshierarchie: sobald das medizinische Personal den Fragebogen ergreift, hat es die Gestaltungsmacht über das folgende Gespräch. Wie in einer Anhörung vor Gericht oder in einem Verhör, rücken Ärzt*innen gegenüber ihren Patient*innen in die dominante und autoritäre Position des Interviewers. Diese Rollen- und Machtverteilung ist insbesondere angesichts der hilfsbedürftigen Lage von Kranken heikel. Sie wird verstärkt durch den Umstand, dass erkrankte Menschen diese Interviewsituation nicht selten aus der liegenden Position – etwa aus einem Krankenbett heraus – erleben, an welches das medizinische Personal herantritt und auf den oder die Patient*in herabblickt.
Diese Fragebogenkultur ist schwer in Einklang zu bringen mit dem Prinzip der Narrative Medicine, in deren Bestreben das Motto „Honoring the Stories of lllness“4 fest verankert ist. Die Ärztin und Literaturwissenschaftlerin Rita Charon, die als Begründerin der Disziplin gilt, erläutert, dass es bei der Praktizierung der Narrativen Medizin in nuce darum gehe, die Geschichten kranker Menschen anzuerkennen und sich von diesen bewegen zu lassen. In welcher Hinsicht bietet die Fragebogenkultur der Medizin Raum und Möglichkeit für einen solchen Umgang mit den Krankengeschichten?
Diese Frage beschäftigt auch die Dramatikerin Margaret Edson in ihrem Einakter Wit (1999). Im Zentrum der Handlung steht Dr. Vivian Bearing, Professorin für englische Literatur des 17. Jahrhunderts, die an einem Ovarialkarzinom leidet. Ihr behandelnder Arzt, Jason Posner, gibt sich als einer ihrer ehemaligen Studenten zu erkennen. Als Biomediziner sei er dazu angehalten gewesen (bevor er sich an der Medical School einschreiben konnte), auch Kurse in den Geisteswissenschaften zu besuchen, um ihn zu einer ausgewogenen Forscherpersönlichkeit zu machen („You can’t get into medical school unless you’re well-rounded“5). Nach diesem kurzen Rückblick auf Jasons Vergangenheit wendet er sich Vivians Anamnesebogen zu und es wird schnell klar, dass Jason Posner ohne den Interviewleitfaden völlig aufgeschmissen wäre. Jasons nervöse Vorankündigung des folgenden Prozedere („Good. Now. I’m going to be taking your history. It’s a medical interview, and then I give you an exam”6) impliziert, dass der jüngere Mann nun in der Position ist, die ältere Frau, seine ehemalige Professorin, zu befragen und ihren Körper bzw. den Fortschritt ihrer Krankheit zu evaluieren. Mit der Autorität des klinischen Systems ausgestattet („Everyone’s an expert, armed with a handy checklist“7), hat Jason als Gesundheitsexperte die Kontrolle über die Situation, während Vivian auf ihre Rolle als Patientin reduziert wird. Vivian fühlt sich schwach, um nicht zu sagen miserabel. Dennoch hält der Arzt sich akribisch an das in dieser Situation absurde Protokoll der Frageliste, wenn er sich erkundigt „How is your general health?“ und die Schwerkranke antwortet grotesker Weise mit einem einsilbigen „Fine“. Das Gespräch wirkt wie eine Farce, ein Stück im Stück, in dem Jasons zuvor zitierte „well-roundedness“ ironisch widerlegt wird. Seine Entscheidung, einen Teil der aufgelisteten Fragen auszulassen („We know you are an academic. … So we don’t need to talk about your interesting work“8) lässt seinen blinden Fleck evident werden: Jason ist nicht an seiner Patientin als Person interessiert, sondern als Fall.
Die Tatsache, dass er Vivian nicht wirklich zum Sprechen ermutigt, dass er nicht aktiv zuhört und dass er die Fragen so schnell wie möglich durchgehen will, lässt eine Reihe von Missverständnissen entstehen:
Jason. Thyroid. Diabetes. Cancer?
Vivian. No – cancer, yes.
Jason. When?
Vivian. Now.
Jason. Well, not including now.
Vivian. In that case, no.9
Dieses Dialogfragment demonstriert, dass auf listenartige Stichworte begrenzte Diskurse nicht unbedingt mehr Präzision oder Effektivität bieten. Aus Gründen der Effizienz wird die sprachliche Interaktion auf eine Ansammlung unverbundener Substantive reduziert. Die zunehmende Verkürzung der verbalen Kommunikation auf Stichworte („Ever had heart murmurs? High blood pressure? […] Stomach, liver, kidney problems? […] Venereal Diseases? Uterine infections?“) zeigt, inwieweit das Format der Checkliste zunehmend Einfluss auf das Gespräch gewinnt und es am Ende dominiert.
Das Format des Anamnesebogens manipuliert seine Nutzer*innen zu einer Abhak-und-Ausfüll-Mentalität: die Liste zu vervollständigen, alle Häkchen zu setzen, wird zum eigentlichen Ziel, die Wahrnehmung des kranken Menschen, zu dessen Fürsorge und Wohlbefinden die Checkliste letztlich dienen soll, gerät aus dem Blick. Der Checklist-geleitete Umgang zwischen Ärzt*innen und Patient*innen degradiert in diesem Fall Vivian zu einem reinen Auskunft-Medium. Sie wird von ihrem Arzt wie ein ‚Bordcomputer‘ behandelt, über den die nötigen Informationen abgefragt werden können.
Nach dem Interview wird Vivian wie eine seltene Spezies unter dem Objekthalter flach ausgebreitet, fest eingespannt und für weitere Untersuchungen vorbereitet: „He helps her lie back on the table, raises the stirrups out of the table, raises her legs and puts them in the stirrups, and puts a paper sheet over her”10. Die zitierte Regieanweisung suggeriert, dass das Prinzip der Zerlegung eines großen Ganzen in seine Einzelteile sich nicht nur auf die Wahrnehmung des erkrankten Menschen als „Stomach, liver, kidney“ überträgt, sondern auch die Behandlung, Pflege und Begleitung der Patientin in ein checklistartig abhakbares Prozedere transferiert wird, bei dem die kleinschrittige Abfolge von Einzelhandlungen (raise the stirrups, raise her legs, put them in the stirrups) derart dominiert, dass Patient*innen in ihrer Ganzheitlichkeit aus dem Blick geraten. Dieses „aus dem Blick geraten“ greift Edsons Regieanweisung auf, wenn sie erläutert, dass der Arzt die Patientin mit einem Papiertuch abdeckt. Die Liste zerlegt die Patientin auf sprachlicher Ebene (in Kriterien, Körperdaten, etc.) und diese Fragmentierung prägt anschließend die Wahrnehmung des behandelnden Arztes.11 Diese Reduzierung von Patient*innen auf dysfunktionale Körperteile artikuliert auch der kalifornische Comiczeichner Brian Fies in seinem Graphic Memoir Mom’s Cancer (2006).

Die grafische Darstellung (eine parodistische Interpretation des sehr beliebten elektronischen Spielzeugs Operation Game) legt nahe, dass Fies’ Mutter nicht als vollständige Person gesehen, sondern entmenschlicht und entpersonalisiert als ‚Körperobjekt‘ angesehen wird. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Fies den medizinischen Umgang mit seiner krebskranken Mutter anhand eines elektronischen Spielzeugs inszeniert, verweist darauf, dass es eher um eine Art von Reparatur, denn um die Behandlung eines hilfsbedürftigen Menschen geht. Die medizinischen Arbeitsformate – die fein säuberlich aufgelisteten Daten und die Checklisten – übersetzten die Krankheit und auch die Kranken selbst in einen Diskurs, in dem sie kontrollierbar und handhabbar werden (sollen). Gerade in diesem Bestreben nach Kontrollierbarkeit wird zugleich die Ohnmacht deutlich, der die Medizin sich angesichts von Krankheiten wie Krebs nach wie vor ausgeliefert sieht. Mom’s Cancer zeigt, dass medizinische Listen ein Werkzeug sind, um Beobachtungen zu sammeln, körperliche Reaktionen zu bewerten und zukünftige therapeutische Optionen zu planen. Damit wird auch eine medizinische Kultur sichtbar, die Menschen kontinuierlich standardisiert, bewertet und beurteilt.12 Brian Fies bietet eine kondensierte Darstellung der “exams”13, die seine Mutter durchlaufen muss. Die folgende Serie von fünfzehn Close-ups verschiedener Körperteile fängt die im Imperativ festgehaltenen Aufgaben ein, denen die Patientin bei ihren Check-Ups Folge zu leisten hat.

Fies und Edsons Werke machen die in der alltäglichen Verwendung oft unsichtbar bleibende Macht der Liste als kulturelle und epistemologische Form14 sichtbar und somit verhandelbar. Ihre Texte offenbaren, dass ein unreflektierter Einsatz klinischer Checklisten schnell dazu verführt, Patient*innen als Untersuchungsobjekte wahrzunehmen und dementsprechend zu behandeln. Dabei werden subjektives Krankheitserleben und die individuellen und singulären Erzählungen der Patient*innen durch die Routinen und Erkenntnisinteressen der Medizin verdeckt, ausgeblendet und zum Schweigen gebracht.
Viele weitere Aspekte, die in Bezug auf die Macht der Liste im klinischen Spannungsfeld zwischen „Data & Stories“ virulent werden – etwa die Kategorisierungen, Typologien und damit einhergehende Normierungen von Körper und Psyche sowie damit verbundene Stigmatisierungen15 – konnten hier nicht diskutiert werden, sind aber nicht weniger mit der stets politisch wirksamen Form der Liste verbunden.
References
- Die Reihe ist im Thieme Verlag erschienen.
- Gawande, Atul (2010): The Checklist Manifesto: How to Get Things Right. New York: Picador. https://doi.org/10.1016/S2155-8256(15)30310-0.
- Ich zitiere hier aus dem Anschreiben von Julika Griem und Il-Tschung Lim zum Workshop „Die Macht der Listen – die Listen der Macht“ (KWI, 12.-13.11.2021), aus dem diese Blogreihe hervorging.
- Charon, Rita (2006): Narrative Medicine. Honoring the Stories of Illness. Oxford: Oxford UP.
- Edson, Margret (1999): Wit. A Play, New York: Faber and Faber, S. 13.
- Edson, Wit, S. 13.
- Fies, Brian (2006): Mom’s Cancer. New York: Abrams, S. 88.
- Edson, Wit, S. 13.
- Edson, Wit, S. 14.
- Edson, Wit, S. 16.
- Vgl. Couser, G. Thomas (1997): Recovering Bodies: Illness, Disability, and Life Writing. Madison: University of Wisconsin Press, S. 22: „The scientific understanding and efficient treatment of disease achieved undeniable gains at the expense of loss of sight of the whole patient.“
- Vgl. Rüggemeier, Anne (2018): The List as a Means of Assessment and Standardization and Its Critical Remediation in Graphic Narratives About Illness and Care. In: Closure 5, S. 55-82.
- Fies, Brian (2006): Mom’s Cancer. New York: Abrams. S. 17.
- Barton, Roman, Julia Böckling, Sarah Link & Anne Rüggemeier, eds. (2022): Forms of List-Making: Epistemic, Literary, and Visual Enumeration. London: Palgrave Macmillan. https://doi.org/10.1007/978-3-030-76970-3.
- Rüggemeier, Anne (2020): Transformative Listmaking: Challenging Heteronormativity and Ableism in Somatographies. In: Journal of Graphic Novels and Comics, 11:4, S. 475-491. https://doi.org/10.1080/21504857.2020.1757478.
SUGGESTED CITATION: Rüggemeier, Anne: Die Medizin – eine Checklisten-Disziplin. Zwischen Data & Stories im Krankenhausalltag, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/die-medizin-eine-checklisten-disziplin/], 04.05.2022