Expertise und ihre Titel
[Dieser Beitrag in der Reihe „Populäre Expertise“ erscheint parallel auf dem KWI-Blog und dem Blog des SFB 1472 „Transformationen des Populären“. Die Langfassung finden Sie hier.]
Titelhäufigkeit als Indikator
Die gesellschaftliche Relevanz wissenschaftlicher Expertise hat sich durch die Sars-CoV2-Pandemie fraglos erhöht. Vielleicht mehr denn je ist solche Expertise allerdings zum Konfliktfall geworden: Wer als Expert:in gilt, wird in unterschiedlichen Milieus unterschiedlich verhandelt, mitunter gar umkämpft: Ist Karl Lauterbach Experte für Epidemiologie oder letztlich ‚nur‘ Politiker mit politischen Interessen? Sind Sucharit Bhakdi und Stefan Homburg als ordentliche Universitätsprofessoren nicht über jeden Zweifel erhaben – oder dürfen sie gar nicht mehr als Fachleute angesehen werden? Die Gründe für solche Auseinandersetzungen mögen absurd erscheinen, geführt werden sie aber dennoch.
Wir haben deshalb explorativ untersucht, wie Expertise in Telegram-Gruppen in Stellung gebracht wird, die explizit und grundlegend politische und wissenschaftliche Mehrheitspositionen im Kontext der Pandemie ablehnen. Dadurch wollten wir genauer verstehen, wie Expertise gegenwärtig dort hergestellt und ausgehandelt wird, wo die tradierten Regeln akademischer Reputationsproduktion ausgesetzt scheinen. Deshalb haben wir uns mit dem sichtbarsten und in großer Zahl gut zu untersuchenden Signum wissenschaftlicher Reputation befasst: Akademischen Titeln.
Unsere Ausgangsbeobachtung war, dass in den einschlägigen Gruppen, in denen offenbar ein grundlegend wissenschaftsfremdes, teils gar wissenschaftsfeindliches Klima herrscht, akademische Reputation trotzdem eine Rolle spielt. In den Gruppen finden sich etwa leicht Beiträge mit regelrechten Titel-Haufen, wie zum Beispiel:
“VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER“ Prof. Dr. Dr. Martin Haditsch, Prof. Dr. Carsten Scheller, Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, Prof. Dr. Stefan Hockertz, Prof. Dr. Jochen A. Werner, Prof. Dr. John lonannidis, Prof. Dr. Yoram Lass, Prof. Dr. Pietro Vernazza, Prof. Jay Bhattacharya, Prof. Erich Bendavid, Prof. Hendrik Streek, Prof. Karin Mölling, Prof. Maria Rita Gismondo, Prof. Frank Ulrich Montgomery, Dr. Jaroslav Belsky, Dr. Klaus Köhnlein, Dr. Bodo Schiffmann, Dr. Joel Kettner, Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Mark Fidigge, Dr. Karl J. Probst, Dr. Jenö Ebert, Dr Géhard Krause, Dr. Yanis Roussel, Dr. David Katz, Dr. Heiko Schönning, Dr. Michael T Osterholm, Dr. Peter Goetzsche.
„NICHT Verschwörungstheoretiker“ Prof. Drosten Lothar Wieler RKI Bill Gates Spahn”1
Die Einteilung in die eigenen Expert:innen und die gegnerischen ist freilich arbiträr an dieser Stelle. Aber Nennung und Auslassen der Titel (wie etwa hier bei Lothar Wieler) wird offenbar strategisch als Praktik der Aufwertung vermeintlicher Allianzen und der Abwertung vermeintlicher Gegner:innen genutzt: Wo so viele Titel sind, können keine „Verschwörungstheoretiker“ sein.
Wird jemand mit Titel genannt, so unsere Annahme, wird damit ein spezifischer Geltungsanspruch für Expertise erhoben. Die übermäßige Präsenz von Titeln ließe sich so als Signal dafür lesen, dass Expertise nicht als selbstverständlich angesehen wird: Wer fraglos Experte ist, dessen Expertise muss nicht aktiv beansprucht werden, sie ist gegeben.
Unsere Erwartung war deshalb, dass jemand mit hohem akademischem Rang, aber fragwürdigen Argumenten wie Bhakdi oder Homburg, häufiger mit Titeln genannt wird als jemand wie Christian Drosten, dessen Expertise breit anerkannt, in den untersuchten Telegram-Gruppen aber bestritten wird. Wir haben deshalb in den Telegramgruppen die Korrelation ausgewählter Professor:innennamen mit ihren Titelnennungen im zeitlichen Verlauf untersucht.
Für die Auswertung standen uns Daten aus 980 deutschsprachigen Telegram-Gruppen und -Kanälen2 zur Verfügung, die wir von März 2020 bis Juni 2021 gesammelt haben. Kriterium für die Aufnahme ins Sample war, dass in den Gruppen explizit und umfassend politische und wissenschaftliche Mehrheitspositionen im Kontext der Sars-CoV2-Pandemie abgelehnt wurden. Innerhalb dieses Samples von 17 Millionen Nachrichten haben wir 1,3 Millionen identifiziert, in denen Namen von deutschsprachigen Expert:innen erwähnt werden – also Personen, die entweder innerhalb der Gruppen oder im breiteren medialen Diskurs jenseits dieser Gruppen als Expert:innen gelten.3 Innerhalb dieser 1,3 Millionen Telegram-Posts haben wir nach Titeln wie „Prof.“ und „Dr.“ (mit ihren jeweiligen Varietäten) gesucht.4
Ergebnisse
Daten und Analyse unserer Exploration finden sich hier. Dabei zeigten sich auffällige Korrelationen zwischen der Fragwürdigkeit der Argumente von „Anti-Expert:innen“ wie Sucharit Bhakdi und der Häufigkeit ihrer Titelnennungen. Falls außerhalb der Gruppen breit akzeptierte Expert:innen wie Christian Drosten mit Titel adressiert wurden (was relativ selten vorkam), geschah dies häufig entweder ironisch oder wenn damit signalisiert wird, aus welchem Status man ihn durch einen vermeintlich wirksamen Angriff auf eine Expertise zu entheben meint. Wichtiger als die Inszenierung von Expertise wurden im Verlauf der Analyse deshalb Praktiken ihrer Abwertung.
Dabei zeigt sich eine große Vielfalt des Titelgebrauchs. Mitunter wurden Titel ironisch genutzt, als Symbol für demokratiefernen Elitarismus oder als Marker eines vermeintlich besiegten Gegners im Kontext sozialer Degradierung. Dies ist keine Neuerfindung der Telegram-Gruppen, sondern zeigte im Verlauf der Analyse populäre Vorläufer.
Relativ neu erschien allerdings eine Praktik die wir als „Spiegelung“ benannt haben, die rollengetreu ein ganzes Set von alternativen Expert:innen zu den Etablierten aufbauen. Die Popularität wissenschaftlicher Expertise geht dabei mit einer Popularität wissenschaftlicher Anti-Expertise einher, und es stellte sich die Frage, ob es sich dabei um ein durchgängiges Muster öffentlicher Expertise unter den Bedingungen rezenter Transformationen des Populären handelt. Titel, so unsere Beobachtung, werden mit großem Beachtungsgewinn nicht nur für die Inszenierung von Expertise genutzt, sondern auch für Anti-Expertise, die die Expertise anderer Expert:innen wirksam abwerten kann. Für die Anti-Expertise wurden die Titel in unserem Sample genau genommen sogar am häufigsten genutzt.
Entscheidend scheint dabei aber nicht der Aufbau einer eigenen Expert:innengruppe zu sein, sondern es handelt sich insofern um ein loses Kollektiv der Anti-Expertise, dessen vorderster Zweck die Abwertung etablierter Expert:innen ist. Diese Beobachtung lässt sich quantitativ dadurch stützen, dass die Telegram-Gruppen sich häufiger mit ‚gegnerischen‘ Experten als mit ihren eigenen Alternativen befassen: Wichtiger als die Frage, ob die eigenen Beobachtungen und Geltungsansprüche richtig sind, scheint zu sein, ob die der Mehrheit falsch sind.
Die populärsten Anti-Experten der hier untersuchten Telegram-Szene sind aber nicht bloß ‚auch Experten‘ mit irgendwelchen Titeln, sondern gewissermaßen Aussteiger aus medizinischer Wissenschaft und Gesundheitspolitik. Dadurch können sie leicht als ‚Alternative‘ zu etablierten Experten dargestellt werden und verfügen über große narrative Macht: Sie sind nicht nur diejenigen, die sich als ‚Alternative‘ benennen lassen, sie bieten auch Gründe dafür, dass die Fundamentalkritiker:innen mit ihren teils irrationalen Argumenten in der Minderheit sind: Der wissenschaftliche Outsider innerhalb der Wissenschaft, der gegen den Widerstand der Kolleg:innen eine bahnbrechende Erkenntnis durchsetzt, ist selbst Teil eines sehr etablierten Wissenschaftsnarrativs. Dass sie in der Minderheit sind, wäre gemäß dieser narrativen Logik nicht unüblich, sie sind ja einer größeren Sache auf der Spur, der die Mehrheit sich (noch) verweigert – wie so viel große Figuren der Wissenschaftsgeschichte.
Die populären Anti-Experten verfügen deshalb über mächtige narrative Ressourcen: Sie können durch ihren per Biografie und Titel bezeugten Insiderstatus glaubhaft machen, dass in Wissenschaft und ihrer Kooperation mit Politik grundsätzlich etwas nicht stimmt. Auf diese Weise kann dann jede wissenschaftlich anerkannte Erklärung abgewertet werden. Aussteigerfiguren wie Wodarg und Bhakdi entfalten dadurch im pandemischen Kontext ein narratives Potenzial, dessen Praktiken und Folgen erst noch zu untersuchen wären.
References
- Post vom 12. April 2020, 12:00 Uhr, Telegram-Gruppe u.a. “unzensiert”.
- Der Unterschied zwischen Gruppe und Kanal ist, dass in Gruppen prinzipiell alle Teilnehmenden Nachrichten posten können und in Kanälen nur deren Betreiber:innen. Jenseits dieses explorativen Blogposts wäre eine stärkere Differenzierung zwischen beiden sinnvoll, da dabei teils sehr unterschiedliche Kommunikationspraktiken vorherrschen (Kommunikation in Gruppen ist etwa stärker ungeplant). Für den vorliegenden Text vernachlässigen wir diese Unterscheidung aber.
- Damit soll kein Urteil unsererseits über deren Expertise verbunden sein. Ob es sich allerdings um als Expert:innen beanspruchte Personen handelt ist, genauso wie die Kategorisierung der Telegramgruppen, Ergebnis unseres Urteils als Beobachter:innen der Telegram-Gruppen und als Teilnehmende des medialen Pandemie-Diskurses. Ausgelassen haben wir dabei etwa internationale Expert:innen wie Anthony Fauci, der auch häufig adressiert wird, für die vorliegende Exploration aber noch weitere Vergleichsdimension nötig gemacht hätte.
- Gezählt wurde dabei, wenn ein Titel unmittelbar vor dem Expert:innennamen steht – oder mit einem Wort Entfernung (sodass auch die Fälle berücksichtigt werden, in denen auch Vornamen erwähnt werden). Ob mehrere Titel (z.B. „Prof. Dr.“) oder nur einer (z.B. „Prof.“) genannt werden, macht keinen Unterschied.
SUGGESTED CITATION: Paßmann, Johannes; Schories, Maria; Hammer, Luca: Expertise und ihre Titel. Kurze Exploration ausgewählter Telegram-Gruppen im Kontext der SarsCoV2-Pandemie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/expertise-und-ihre-titel/], 14.02.2022