‚Genau‘ ist das neue ‚Ähm‘
‚Ähm‘, ‚sozusagen‘, ‚einfach‘, ‚also‘, ‚tatsächlich‘ und ‚soll heißen‘ sind Füllwörter. Negativ besetzt seit dem 17. Jahrhundert, wo sie aus metrischen Gründen dem Vers zugefügt wurden, um dem Reim auf die Sprünge zu helfen.1 Negativ besetzt auch heute, wo Kurse angeboten werden, um es ein für alle Mal loswerden zu können, dieses unnütze Etwas, was aussagelos rumlungert in der Labermasse und nur ein Atavismus der eigenen Unsicherheit zu sein scheint, von dem man sich am besten ersatzlos trennt.
An einer Hochschule, an der ich angestellt war, konnte man so einen Kurs buchen: Er versprach kurzen Prozess zu machen mit dem ‚Ähm‘, da es ausnahmslos unsicher, unprofessionell und unglaubwürdig wirken würde. So viele un-s, die mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht aufgefallen waren. Füllwörter waren für mich wie hörbarer Atem, eine Melodie, die Gedanken verband und Anderen die Möglichkeit gab, ihnen zu folgen. Wenn man sich nicht vollends als Erfüllungsgehilfe gescripteter Protokolle begreifen wollte, war Unsicherheit im Satz eine Selbstverständlichkeit, nichts, was man beseitigen konnte oder sollte. Als ich die Tipps las, die netterweise in der Kursvorschau eine machbare Lösbarkeit des ‚Ähm‘-Problems suggerierten, kam ich selbst ins Stocken: ‚Kurze Sätze‘ stand da. Man sollte am besten in kurzen Sätzen sprechen. Kleine Pausen würden so automatisch entstehen, Pausen, die das ‚Ähm‘ überflüssig machen müssten. Ich versuchte es eine Zeit lang, bildete kurze Sätze und versuchte, jedes Komma in meinem Kopf in einen Punkt zu verwandeln. Klappte nur so bedingt, ich liebte dann doch die Konditionalsätze zu sehr, wollte meine ‚falls‘, ‚soferns‘ und ‚wenns‘ nicht opfern und verstand nach wie vor nicht, warum. Aber ich war problembewusster geworden und dachte an die ‚Weichmacher‘, so ein anderes Synonym, wenn sie mir begegneten.
Lange dachte ich überhaupt nicht mehr dran, bis eine Kolumne in der Zeit mich wieder mit der Scham verband, die das Füllwort wohl automatisch an der Hand führt (Abb. 1).

Hier schien man schon durchtherapiert, schien den „Virus“ überwunden zu haben. Statt ‚Ähm’, ‚sozusagen’ oder ‚gewissermaßen’, alles Zeichen der Unsicherheit, sagte man jetzt ‚genau‘, schien demnach Sicherheit zu vermitteln und das Gesagte zu bestärken. Aber wie der Kolumnist Andreas Bernard bin auch ich der Meinung, dass ‚genau‘ oft nur ein inneres Nicken ist, eine Reaktion von Menschen, die ‚Ähm’-Kurse gemacht haben, aber trotzdem Füllworte brauchen. Verständlich, wenn man bedenkt, wie martialisch im Internet dem Füllwort begegnet wird. Ein anderes, völlig willkürliches Beispiel: „Füllwörter sind das Unkraut der Sprache und sollten vernichtet werden.“ Aber auch Unkraut wird immer weiter wuchern, wenn man seine Wurzeln nicht entfernt. Und die Wurzel des Füllworts ist Zeit. Zeit, die man braucht, um logische Satzketten zu bilden, Zeit, die Nachdenken heißt. Klar, lieber Herr Bernard, Zeit kann man auch markieren, sie als Pause stehen lassen, da bin ich ganz bei Ihnen. Aber Stille im mündlichen Vortrag, die vom nervösen Sprecher nicht als Loch wahrgenommen wird, muss wahrlich gelernt sein.
Der Soziologe Tilman Allert geht in seiner Deutungshoheit noch einen Schritt weiter: Für ihn ist das ‚genau‘ ein Bologna-Phänomen (Abb. 2):

Die Folgen einer Hochschulpolitik, die den Studierenden den Zweifel ausgetrieben hat. Kein tastendes ‚Ähm‘ mehr, nur noch knallhart anverwandeltes Fremdwissen, genau. Keine Zeit, nur Aussagen.2 Dabei sind es diese Gesten des Aussagens, rhetorische Kunstmittel, die – wenn man Dietmar Dath glauben mag – im Übermaß über den Kunstzweck die Kunst der Masche ausliefern.3 Denn auch auf Englisch darf man dem ‚right‘, mit oder ohne stimmhebendes Fragezeichen, eben nicht antworten. Ebenso wenig, wie man dem Sprecher das ‚genau‘ um die Ohren fliegen lassen darf, indem man ihm Ungenauigkeit nachweist. An diesem Füllwort Stufe 2, das ebenso inflationär auftritt, nervt vor allem, dass es eine Kommunikation beginnt, die sie gleichzeitig verweigert, indem sie zum Selbstgespräch wird. Ein innerer Monolog wird nach außen getragen und dennoch nicht mit einer Antwort versehen. Ich will nicht diejenige sein, die sich Mühe gibt, ständig unter den Umständen zu leiden. Aber auch ich wünsche mir langsam ein gut gebrauchtes Hindernis wie das ‚Ähm‘ zurück.
References
- Überliefert vor allem aus der französischen Literatur, wo das Füllwort Cheville genannt wurde.
- Vgl. Allert, Tilman (2017): Gruß aus der Küche. Soziologie der kleinen Dinge, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 28–34. Ich danke Steffen Siegel für den Hinweis.
- Vgl. Dath, Dietmar: Diese Masche müsste mal geröntgt werden, in: FAZ 24.08.2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kulturforscherin-sianne-ngai-ueber-kunstpraxis-und-affektwirtschaft-16917341.html.
SUGGESTED CITATION: Schürmann, Anja: ‚Genau‘ ist das neue ‚Ähm‘. Eine kurze Chronik der Füllworte, in KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/genau-ist-das-neue-ahm/], 14.01.2021