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Hoch oder runter?

Hoch oder runter? Der Aufzug Erschienen in: WORTATLAS Von: Julika Griem

Seit den 1860er Jahren ist es technisch möglich, auch Elfenbeintürme nicht nur über Treppen zu erklimmen. Mechanische Aufzüge, wie Stefan Hirschauer in einem lesenswerten Aufsatz zusammengefasst hat, begannen sich im 19. Jahrhundert dank der Innovationen der automatischen Notbremse, des elektrischen Antriebs und der Seilrolle durchzusetzen, wenn auch auf unterschiedliche Weise: In Europa dienten sie zunächst eher dem Komfort, in Amerika der zeitsparenden Aufwärtsbewegung in den frühen Wolkenkratzern.Trotz ihrer Effizienzversprechen musste die neue Technologie anfangs z. B. der Angst vor Schwindel entgegenwirken, indem man „lift boys“ anheuerte und mit Design-Reminiszenzen an vertraute Fortbewegungsmittel erinnerte.

In alten Universitäten galt es, die Aufzüge in eine Architektur zu integrieren, die häufig um repräsentative Treppenhäuser zentriert war – wie z. B. im Sophie Scholl-Gebäude der Münchener LMU. In den Reform-Hochschulen platzierte man Fahrstühle selbstverständlicher im Alltag der Studierenden und Lehrenden. Auch die zwölf Stockwerke der um 1955 entworfenen Zwillingstürme der Universität Stuttgart in Bahnhofsnähe werden von jeweils sechs Aufzügen erschlossen. Höher als 50 Meter ging es hier Anfang der 1960er allerdings nicht hinaus, weil alteingesessene „signature buildings“ der Stadt nicht ‚übertrumpft‘ werden durften. Aber auch schon zwölf Etagen und sechs Aufzüge lassen einen vor den Kabinentüren überlegen, auf welche Weise man am schnellsten ans Ziel gelangt. Und wen man vielleicht in der kleinen Kapsel nicht treffen möchte. Oder ob man dem Schritt-Appell des Fitness-Trackers folgen und daher das Treppenhaus benutzen sollte.

Dass Aufzüge einerseits zum Alltag gehören, andererseits aber eine keineswegs selbstverständliche soziale Situation darstellen, hat Hirschauer ebenfalls in dem erwähnten Aufsatz ausgeführt. Er entwirft, in Anlehnung an Harvey Sacks und Erving Goffman, eine „sociology with elevators“. Im „Nicht-Ort“des Fahrstuhls gehe es darum, die Ko-Präsenz unter Fremden so auszuhalten, dass auch auf engstem Raum „civil inattention“ praktiziert werden kann: „to be disregarded means to be trustworthy“.„Elevators“, so Hirschauer, „put casual encounters between strangers into slow motion.”Deswegen eignet sich gerade diese Mikro-Praxis besonders gut dazu, das komplexe verinnerlichte Verhaltensprotokoll zu beleuchten, über das wir auf den meisten unserer Aufzug-Fahrten nicht mehr nachdenken: Wer tritt als erster ein und aus? Wie gelingt es, Rücksicht zu nehmen und Distanz zu wahren, Neugier zu zügeln und Augenkontakt ebenso zu vermeiden wie Irritation angesichts eng aneinander gerückter Körper? Welche Konversation ist in dieser Lage situationsadäquat?

Die in der Fahrstuhl-Kabine verdichteten Anforderungen gelten auch an Universitäten, wo sie die Grundaufgabe, sich im öffentlichen Raum mit Unbekannten zu arrangieren, institutionenspezifisch konkretisieren. Zwar gilt die Universität als ein Ort, an dem aus Zufalls-Begegnungen jene „serendipity“ entstehen soll, wie sie gelingende Forschung und Lehre braucht: Die nicht gesuchten Funde, die uns zu konzentrierterem Nachdenken und intensiveren Diskussionen anregen. So sehr Wissenschaft und Bildung auch Verfahren der Verfremdung als epistemisches Grundprinzip benötigen, so befremdlich können aber auch in der akademischen Welt unverhoffte Begegnungen im Fahrstuhl ausfallen. Längst nicht für alle Studierenden wird es eine angenehme Vorstellung sein, mit der Prüferin die Kabine zu teilen, und unter den Kolleg*innen wird es einige geben, denen man lieber ins Treppenhaus entkommt.

Auch in der architektonischen Symbolpolitik von Universitäten spielen Aufzüge eine Rolle. Häufig liefert die Übersicht vor dem Fahrstuhl einen ersten Eindruck davon, wie die jeweilige Hochschule organisiert ist. In vielen Fällen finden wir die Leitungsebene – als ‚Kopf‘ der Einrichtung – hoch oben angesiedelt, mit schönen Aussichten und einem Überblick über das Ganze. Der ‚Bauch‘ einer Universität ist dagegen eher in Bodennähe zu finden; er verteilt sich auf Labors, Rechner-Räume und Archive, Mensaküchen und Werkstätten, Pförtnerlogen und Tierkäfige. Hier herrscht weniger der Rektor als der Hausmeister. Fahrstühle schießen wie Lebensadern durch diese unterschiedlichen Zonen einer Hochschule; sie verbinden, als repräsentative technische „gimmicks“ und schlichte Lastenaufzüge Hierarchie-Ebenen und Vorder- und Hinterbühnen eines materiellen und symbolischen Zusammenhangs. Im Fall der Universität ist zwar viel unternommen worden, um die akademische Institution inklusiver, diverser und agiler zu machen. Wie sehr aber gegenwärtige Hochschulen noch von einer Semantik vertikalisierter Sozialbeziehungen zehren, zeigt sich z. B. in der ubiquitären Rede von „bottom-up“ und „top-down“, mit der viele Entscheidungsträger*innen und Führungspersonen im Wissenschaftssystem versuchen, möglichst viel Dynamik zwischen „upstairs“ und „downstairs“ zu erzeugen.

Weil der Aufzug sich schon seit langem als Allegorie zur Beschreibung sozialer Beziehungen angeboten hat, verwundert es nicht, dass er als „Fahrstuhl-Effekt“ auch von Ulrich Beck und Christoph Butterwegge aufgerufen wurde, um größere gesellschaftliche Zusammenhänge von Modernisierung und Mobilität zu veranschaulichen. Unzählige Action-Filme und Komödien haben Fahrstühle eher als Vehikel der Spannungsbeschleunigung und Affektverdichtung genutzt. In der HBO-Serie Mad Men (2007-2015) fungieren die Aufzüge im Zentrum des New Yorker Bürogebäudes als Seismograph für Exklusion und Aufstieg: Vor und in den Kabinen werden Konflikte so komprimiert, dass die metallenen Schiebetüren wie der Vorhang zu einem Minuten-Drama wirken; und während der Held lebensmüde in den leeren Schacht blickt, erkennen wir im Zeitraffer der Serie immer mehr Vertreterinnen von Minderheiten, die sich den Zugang in die Werbebranche über den Fahrstuhl erkämpfen.

Hier wird Matthew Weiner, der Autor der Serie, zur Funktion der vielen Aufzug-Szenen in Mad Men befragt:

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Einige Kunstwerke gehen noch weiter, indem sie auf verfremdende Effekte setzen. So z. B. Spike Jonze und Charlie Kaufman in ihrem Film Being John Malkovich (1999), in dem der Protagonist ein Büro auf einer Zwischen-Etage zwischen dem siebten und achten Stockwerk erhält, wo er, durch die niedrige Decke gekrümmt, hinter Tapetentüren in das Innere des Schauspielers John Malkovich gelangt.In Colson Whiteheads Roman The Intuitionist, ebenfalls aus dem Jahr 1999, verbinden sich realistische und fantastische Verfahren zur Fiktion der ersten afroamerikanischen Aufzug-Kontrolleurin in einer namenlosen amerikanischen Großstadt. Der Roman liefert eine elegant erzählte Technik- und Sozialgeschichte, Soziologie und Phänomenologie des amerikanischen Aufzugwesens, die wie Hirschauers Aufsatz mit einem Staunen darüber einsetzt, wie sich die Seltsamkeit einer Situation normalisieren konnte, in der sich Menschen in einer kleinen Kiste an einem Seil über einem Abgrund bewegen und dabei durch ein Nichts sausen.6

Auch an einigen Aufzügen deutscher Universitäten lassen sich verfremdende Momente beobachten. Auf dem Campus der Frankfurter Goethe-Universität im Westend haben sich im zwischen 1928 und 1931 errichteten I.G.-Farben-Gebäude bzw. Poelzig-Bau Paternoster erhalten, die bei Führungen regelmäßig eine Attraktion darstellen. Diese Fahrstuhl-Variante verändert einige der Grundregeln: Der Paternoster lässt maximal zwei Personen gemeinsam fahren, und er erlaubt mangels Türen keine klandestinen Interaktionen im Minutentakt. Er beschreibt eine Kreisbewegung durch das Gebäude und eröffnet in Stoßzeiten eine Art vertikales Miniatur-Theater für die Wartenden. Die in den Querriegeln des geschwungenen I.G.-Farben-Gebäudes lokalisierten Paternoster erfreuten sich größter Beliebtheit. Entsprechend verwundert nahm man 2011 zur Kenntnis, dass der unkomplizierte Verkehr zwischen den Stockwerken nur noch mit einem „Paternoster-Führerschein“ und nicht mehr in Begleitung zu praktizieren sei. Und immer häufiger bot sich angesichts von Reparaturen ein Bild des Stillstands:

Abb. 1: Paternoster im Poelzig-Bau, Copyright Rembert Hueser

Während sich die Paternoster im Poelzig-Bau immer wieder „under construction“ befinden, wurde im Frühjahr 2014 ein Gebäude der Goethe-Universität in die Luft gejagt, das seine ikonische Bedeutung im Westend auf anderen Pfaden erlangt hatte als das neusachliche Juwel auf dem neuen Campus. Der 1971 fertiggestellte AfE-Turm in Bockenheim hatte sich zu einem brutalistischen Objekt von Hassliebe entwickelt. In der Stadtlandschaft Frankfurts markierte er einen Stachel im Fleisch „Mainhattans“, ein betonhartes Bollwerk des Widerstands, mit dem sich die Tradition der Kritischen Theorie gegen die umliegenden Manifestationen der Finanzwirtschaft behaupten ließ. Die spektakuläre Sprengung des maroden Bauwerks wurde daher nicht nur von seinen ‚Bewohner*innen‘ rückblickend als sozial- und hochschulpolitische Zäsur empfunden:

„Der Turm war die bauliche Verkörperung des Übergangs von der quasi-feudalen Ordinarien- zur bürokratisierten Massenuniversität, einer Ausbildungsfabrik gewissermaßen. (…) Im Umzug der in verschiedenen Frankfurter Westendvillen untergebrachten sozial- und erziehungswissenschaftlichen Universitätsseminare in das neue Gebäude manifestierte sich auch das Ende der ‚bürgerlichen‘ Universität als Ausbildungseinrichtung für höhere gesellschaftliche Schichten. Die Studierendenzahlen stiegen stark an. Dies alles war verbunden mit einer erheblichen Veränderung der inneren Strukturen der Hochschulen. Die akademischen Institute, die ein wichtiger Stützpunkt der Ordinarienmacht waren, gingen in den neu gebildeten Fachbereichen auf, die jetzt – nomen est omen – in ‚wissenschaftliche Betriebseinheiten‘ untergliedert waren. Charakteristisch für diese neuen Verhältnisse war zum Beispiel, dass im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften des AfE-Turms im Jahr 1970 die ProfessorInnen kleinere Zimmer erhielten als die Sekretärinnen, weil diese einen größeren Publikumsverkehr zu bewältigen hatten. Das ist inzwischen auch Geschichte.“7

Weitere unterschiedliche ‚Besetzungen‘ des AfE-Turms sind in dem Band Turmgeschichten (2015) versammelt: „Wenn der Aufzug nach oben schon voll ist, ist aller Anfang schwer.“Nach der Sprengung wurden die nicht immer funktionstüchtigen Fahrstühle noch einmal zu einer Synekdoche für das Ganze des AfE-Turms und seiner Bedeutung in einer sich wandelnden Hochschullandschaft erhoben – im Innern der Kabinen verdichteten sich über Jahrzehnte Slogans und Graffiti zu Legenden des gelingenden und scheiternden Aufstiegs von Individuen, Gruppen und Fachkulturen. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen hat sich einer Aufzugskabine kurz vor der Sprengung bemächtigt und diese als Zeitkapsel auf dem neuen Westend-Campus in Blicknähe des Präsidialgebäudes und des Neubaus für die Sozialwissenschaften aufgestellt:

Abb. 2: Aufzugskabine, Westend-Campus, Copyright Rembert Hueser

 

Abb. 3: Aufzugskabine, Westend-Campus, Copyright Rembert Hueser

Die Fahrstuhlkabine war jedoch noch kürzer zu sehen als die Leasing-Kunst-Objekte, die die Goethe-Universität immer wieder neu auf ihren Rasenflächen installiert. In ihrer vorübergehenden Nachbarschaft zu einer Replik des Schreibtisches von Theodor W. Adorno, der, umrahmt von Merksprüchen aus den Minima Moralia, in einem Glaskasten zu besichtigen ist, lieferte die „green box“ Material, um die Symbolpolitiken zeitgenössischer Hochschularchitektur zu überdenken.

Aufzüge bilden nicht nur in Frankfurt Schauplätze und Artefakte, um den Semantiken, Eigenlogiken und Widerständigkeiten von Universitäten nachzuspüren. Welche Fahrstühle führen auf Lehrstühle, und durchziehen die neuen gläsernen Aufzüge nun Leuchttürme statt Elfenbeintürme? Wir sollten in jedem Fall eine Extrarunde in ihnen drehen, und dabei nicht nur darüber nachdenken, wie sich mit akademischen „elevator pitches“ noch mehr Zeit sparen lässt.

Abb. 4: Copyright Team Oktopus, Stock-Illustration-ID:513490940, iStock Standardlizenz.

References

  1. Stefan Hirschauer. „On Doing Being a Stranger: The Practical Construction of Civil Inattention.” Journal for the Theory of Social Behaviour 35/1 (2005): 41-67. https://doi.org/10.1111/j.0021-8308.2005.00263.x
  2. Das Konzept des „non-lieu“ borgt sich Hirschauer von Marc Augé.
  3. Hirschauer, „On Doing Being a Stranger“, S. 42.
  4. Ebd., S. 42-43.
  5. Der Zugang zu diesem Zwischenreich wird von einer Ortskundigen mit routiniert-unorthodoxen Mitteln hergestellt: https://www.youtube.com/watch?v=T2Y7oo3iB40.
  6. Im Originaltext heißt es: „That they ride in a box on a rope in a pit. That they are in the void.“ Vgl. Colson Whitehead. The Intuitionist. New York: Fleet Books, 2017, S. 5.
  7. Vgl. Turmgeschichten: Raumerfahrung und -aneignung im AfE-Turm. Hg. von Minna-Kristiina Ruokonen-Engler, Lucas Pohl, Anna Dichtl, Jessica Lütgens, David Schommer. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015, hier S. 7-8. Reaktionen auf die Sprengung finden sich auch unter https://www.youtube.com/watch?v=9xsudjTrmv8; eine ästhetisch sehr gelungene Video-Meditation über die Fahrzüge unter https://www.youtube.com/watch?v=vuDJf5lfSpU.
  8. Turmgeschichten, S. 186.

SUGGESTED CITATION: Griem, Julika: Hoch oder runter? Der Aufzug, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/hoch-oder-runter/], 26.04.2021

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20210426-0900

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