Tim SchanetzkyMehr oder Weniger | More or Less

2023/1923

2023/1923 Die Inflation der Inflationsbücher Erschienen in: Mehr oder Weniger | More or Less Von: Tim Schanetzky
Abb. 1: Büchertisch © Jacob Eder, 2022.

Signatur der Gegenwart ist die Polykrise: Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation, Klimakrise, Großmachtkonkurrenz, Flüchtlingsströme, Gefahren des Populismus. Der Begriff bezeichnet das kumulative und sich wechselseitig verstärkende Zusammentreffen von Krisenphänomenen. Man könnte von Zukunftsangst sprechen, einem Gefühl, das derzeit auch vom historischen Sachbuch bewirtschaftet wird. 2023/1923 ist deshalb nicht einfach nur ein weiteres hundertjähriges Jubiläum, sondern eine Relevanzbehauptung: Gleich ein Dutzend Sachbücher erschien über das Inflationsjahr 1923 – ein „Lehrstück für die Gegenwart“ und eine Zeit, die „unserer heutigen mehr gleicht, als uns lieb ist“. Das Zusammentreffen von Ruhrbesetzung, Inflation, Separatismus, wankender Demokratie und Putschplänen von links wie von rechts erinnere doch „in manchem fatal an die Gegenwart“.1

Es steht zwar nicht in diesen Klappentexten, aber sofort rutscht einem ein „irgendwie“ dazwischen. Wenn damals viel Krise war, muss 1923 dann nicht „irgendwie“ für unsere krisenhafte Gegenwart relevant sein? Wirklich überraschend ist diese Unschärfe nicht, wenn man die Debatte über die „Jubiläumitis“2 und das Jahreszahlenbuch kennt. Erst kürzlich monierte Caspar Hirschi, dass die Verdichtung komplexer Ereigniszusammenhänge auf ein einziges Jahr zulasten der Analyse gehen müsse; die Form blockiere jede diachrone Perspektivierung und mache historische Interpretation unmöglich. Der Bezug zur Gegenwart bleibe Behauptung, und alle Titel stünden, so Hirschi, in „stummer Widersprüchlichkeit nebeneinander. Fast jeder präsentiert sich so, als gebe es nur ihn.“3 Und wenn Niklas Luhmann einst über Ulrich Gumbrecht spottete, dieser habe zeigen wollen, was 1926 „so alles passiert“ sei, dann gilt das auch heute noch für die Mehrzahl der jetzt erschienenen Bücher: Erklären wollen sie nichts; Unmittelbarkeit ist alles. „Ein Jahr spricht für sich“, behauptet eine regionalhistorische Quellensammlung im Untertitel.4 Und wo Jahre sprechen, da werden selbst die Gliederungen obsolet. Folglich haben acht von zwölf Büchern gar kein Inhaltsverzeichnis, sondern einen Kalender: Januar, Februar, März, April…

Am Mehr der Ereignisse, Wahrnehmungen, Tagebucheinträge, Brief- und Pressezitate berauschen sich alle diese Bücher, weil Rastlosigkeit die Prämisse ihrer Darstellung ist. Liest man nur eines und erwischt zufällig eines der besseren (etwa Christian Bommarius), dann gelingen unterhaltsame Einsichten. Sobald man aber mehrere dieser Bücher liest, schwirrt einem nur noch der Kopf. Das liegt auch an der Masche mit dem Stakkato kurzer Sätze, denn wenn 1923 viel passierte, braucht es 2023 wenigstens eine atemlose Sprache. Der Rest ist Handwerk: Das Fakten- und Datengerüst stammt aus der Ereignis-Chronik, die Wikipedia mit zwei Klicks für jedes beliebige Jahr liefert, und die nötigen Zitate beschafft man sich bei Harry Graf Kessler und all den anderen Künstlerinnen und Literaten, die Tagebücher oder Briefe hinterlassen haben. Prägnante Zitate wiederholen sich ebenso verlässlich wie die trostlosen Reportagen. So hangelt man sich von Klischee zu Klischee, etwa beim November-Putsch: „Um elf Uhr stürmt Hitler in die NSDAP-Zentrale an der Schellingstraße, angetan mit zerknittertem Trenchcoat, die Nilpferdpeitsche in der Hand, und will Hermann Göring sprechen. Doch der ist mal wieder spät dran.“5 Später berichtet Peter Süß live aus dem Bürgerbräu-Keller: „Jetzt wirft Hermann Göring seinen Gummimantel über einen Stuhl, wuchtet seinen massigen, ordensgeschmückten Leib auf das Podium und bellt die Leute in Kommandoton an: ‚Volksgenossen! Heute beginnt die Nationale Republik!’‘“ Immerhin braucht es keinen Relotius-Moment, weil das Dementi gleich mitgeliefert wird. Die Buchherstellung hat das vom Autor frei nacherzählte Gummimantelfoto im Text platziert: Es zeigt keinen massigen Göring, sondern den noch halbwegs schlanken 30-Jährigen.

Argumentativ gelangen viele dieser Bücher über die Illustration von krisenhafter Unübersichtlichkeit nicht hinaus. Daran kann man das Provinzielle kritisieren, wie Nicolai Hannig und Detlev Mares, deren Band dann eindrucksvoll zeigt, dass anderswo auf der Welt noch viel mehr passierte. Aber es bleibt beim Aufeinanderstapeln von Fakten und Ereignissen. Dazu passt, dass auch das Feuilleton bei der Bewältigung des Bücherstapels dazu überging, möglichst viele Kurzkritiken aneinanderzureihen.6 Ausdrücklich gelobt wurde die abgewogene Darstellung von Volker Ullrich, weil sie Ordnung schaffe, sich ansonsten mit Bewertungen aber zurückhalte. Nur: Wären Interpretation und Bewertung nicht gerade wünschenswert, wenn doch Orientierung in der unübersichtlichen Gegenwart gefragt ist? Nur Ralf Georg Reuth (Gefahr von links), Karl Heinrich Pohl (linkes Reformprojekt) und Peter Longerich (Gefahr von rechts) trauen sich das zu – und Mark Jones (Gefahr aus Paris), der diesmal in die Rolle des anglophonen Historikers geschlüpft ist, der den Deutschen den Albdruck des Sonderweges nimmt und auf widrige Umstände plädiert.

Geschichte wird in diesen Sachbüchern wieder zur alleinigen Angelegenheit der großen Männer – im Guten (Stresemann) wie im Bösen (Poincaré). Parlamente, Wahlen, Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Verbände? Fehlanzeige, fast überall. Nur Mark Jones nutzt mit der Gewaltgeschichtsschreibung eine jüngere Methode der Geschichtswissenschaft. Ihr tut er allerdings keinen Gefallen, wenn er in Fitzek-Manier die Brutalität der französischen Besatzungstruppen schildert und knapp 20 Seiten allein auf Vergewaltigungen verwendet. Der Leser ist zuerst bestürzt ob der 137 Todesopfer der Ruhrbesetzung – und staunt, wenn Ralf Georg Reuth die für eine Erfahrungsgeschichte der Gewalt nicht ganz unbedeutende Information nachliefert, dass der Niederschlagung der „Roten Ruhrarmee“ keine drei Jahre zuvor und an denselben Orten fast 1.600 Menschenleben zum Opfer fielen.

Das finsterste Kapitel der Inflationsbücher ist ausgerechnet die Inflation, die in unserer Gegenwart für so viel Unsicherheit sorgt. Wo genau die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede zur Hyperinflation von 1923 liegen könnten – genauer fragt danach keines der zwölf Bücher. Stattdessen dient ihnen die Geldentwertung meist nur als Hintergrundrauschen, dessen Alltagserfahrungen, Abstiegsängste und Absurditäten zwar ebenso eindrücklich wie eingehend geschildert werden. Aber das veranschaulicht nur die damalige Krise, während die Jahreszahlenbücher hier an die Grenzen ihres Genres stoßen: Bekanntlich begann die Geldentwertung schon 1914. Als historisches Phänomen kann man auch die Ereigniszusammenhänge des Jahres 1923 nur erklären, indem man längere Zeiträume in den Blick nimmt. Aber die Bücher greifen nicht nur zeitlich, sondern auch analytisch zu kurz. Wollte man tatsächlich die politisch-gesellschaftlichen Dimensionen der Inflation erklären, bräuchte es neben der Illustration der Alltagserfahrung eben auch die Auseinandersetzung mit Staatshaushalt, Geldpolitik und Außenwirtschaft. Auch der Kenntnisstand des damaligen ökonomischen Wissens wäre von Belang. Und müsste man nicht auch in die zuständigen Institutionen hineinschauen? Die allermeisten dieser Bücher erwähnen nicht die Reichsbank und auch nicht ihren altpreußischen Präsidenten Rudolf Havenstein. Dass die Inflation keine spezifisch deutsche Erfahrung war, demonstriert allein Peter Longerich durch den Vergleich mit Österreich. Man muss schon zur auch für Laien verständlichen Gesamtdarstellung von Sebastian Teupe greifen (die kein Jahreszahlenbuch sein will), um zu sehen, wie die Sparguthaben auch in Frankreich und Italien auf weniger als ein Viertel des Vorkriegswertes zusammenschrumpften und wie die dortigen Sparer, anders als in Deutschland, nie entschädigt wurden.8

Sachinformationen wie diese sind ziemlich ungünstig für die wichtigste Prämisse der zwölf Bücher, wonach ein unmittelbarer Zusammenhang besteht zwischen der deutschen Inflationserfahrung von 1923 und den Sorgen um den Geldwert der Gegenwart: „Eines aber ist sicher: Die Deutschen fürchten die Inflation“, so Jutta Hoffritz. Umfragen bestätigen das immer wieder. Aber sind dafür wirklich Ereignisse verantwortlich, die ein ganzes Jahrhundert zurückliegen? Vielbeachtete Studien sind hier zu klaren Aussagen gelangt: Das angebliche deutsche Inflationstrauma wurde jahrzehntelang vor allem von der Bundesbank beschworen – zur Verteidigung ihrer Unabhängigkeit gegenüber politischer Einflussnahme.8 Und eine repräsentative Befragung von 2.300 Personen unterstrich zwar, dass vier von fünf Deutschen heute über eine Vorstellung von der Weimarer Wirtschaft zu verfügen glauben. Diese ist aber viel zu diffus, um daraus eine geldpolitische Stabilitätsfixierung abzuleiten. In der Erinnerung verschwimmt nämlich die Inflationserfahrung der frühen 1920er-Jahre mit der Massenarbeitslosigkeit der frühen 1930er-Jahre und dem Absturz in die Diktatur von 1933 zu einem einzigen krisenhaften Ereigniszusammenhang.9 Groß ist die Bereitschaft der Inflationsbücher, an diese imaginierte Polykrise der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen; gering ist deren Erklärungskraft für die Gegenwart.

References

  1. Zitate aus den Klappentexten der Bücher von Reuth, Hoffritz und Longerich. Das für diesen Beitrag gelesene Dutzend setzt sich wie folgt zusammen: Jones, Mark (2022): 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin: Propyläen Verlag; Reuth, Ralf Georg (2023): 1923. Kampf um die Republik, München: Piper; Longerich, Peter (2022): Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien: Molden Verlag; Reichel, Peter (2022): Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923, München: Carl Hanser Verlag; Bommarius, Christian (2022): Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, München: dtv; Süß, Peter (2022): 1923. Endstation. Alles Einsteigen! Berlin: Berenberg Verlag; Hoffritz, Jutta (2022): Totentanz. 1923 und seine Folgen, Hamburg: Harper Collins; Hanning, und Detlev Mares (Hrsg.) (2022): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte, Darmstadt: wbg; Pohl, Karl Heinrich (2022): Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Göttingen: Brill, https://doi.org/10.13109/9783666311437; Ullrich, Volker (2022): Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München: C.H. Beck, https://doi.org/10.17104/9783406791055; Grütter, Heinrich Theodor, Ingo Wuttke und Andreas Zolper (Hrsg.) (2023): Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925, Essen: Klartext; Boschmann, Werner (Hrsg.) (2023): Ruhrbesetzung 1923. Ein Jahr spricht für sich, Bottrop: Henselowsky u. Boschmann.
  2. https://public-history-weekly.degruyter.com/2-2014-11/vom-jubilaeum-zur-jubilaeumitis/ (letzter Zugriff: 03.04.2023).
  3. Hirschi, Caspar (2022): Wie Science-Fiction Geschichte wird – und umgekehrt. Zu den Verwandlungen des Jahreszahl-Buches, in: Mittelweg, Heft 36, S. 78.
  4. Boschmann (2023).
  5. Die Zitate hier und im Folgenden bei Süß (2022), S. 7 u. 14; das Göring-Foto ebenfalls auf S. 14.
  6. Probst, Robert (2023): Taumelnde Staatsmacht, in: Süddeutsche Zeitung, 30.01.2023; ähnlich auch Florian Felix Weyh (2023): Sachbücher zum Jahr 1923. Krisen und Aufruhr vor 100 Jahren, Deutschlandfunk Kultur, 05.01.2023.
  7. Teupe, Sebastian (2022): Zeit des Geldes. Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923, Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 244.
  8. Mee, Simon (2019): Central Bank Independence and the Legacy of the German Past, Cambridge: Cambridge University Press, https://doi.org/10.1017/9781108759601.
  9. Haeffert, Lukas, Nils Redeker und Tobias Rommel (2021): Misremembering Weimar. Hyperinflation, the Great Depression, and German collective economic memory, in: Economics & Politics, Heft 33, S. 664-686, https://doi.org/10.1111/ecpo.12182.

SUGGESTED CITATION: Schanetzky, Tim: 2023/1923. Die Inflation der Inflationsbücher, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/inflationsbuecher/], 17.04.2023

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20230417-0830

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