Kathrin Yacavone

Ja, wo ist sie denn, die Fotografie?

Ja, wo ist sie denn, die Fotografie? Zur Fotografie und ihren Institutionen Von: Kathrin Yacavone

Dass die Fotografie in vielerlei Hinsicht ortlos ist, gehört zu den Binsenweisheiten der Fototheorie und -geschichte. Blickt man auf die Anfänge der Fotografie im 19. Jahrhundert zurück, so wird schnell klar, dass sie von Beginn an ein vielfältig anwendbares Medium war und aus verschiedenen Blickwinkeln auch als solches verstanden wurde. In seiner berühmten Ansprache zur Verkündung der neuen Erfindung in der Pariser Académie de Sciences im August 1839 fasst der Physiker und Astronom François Arago den Nutzen der Daguerreotypie (das erste kommerzialisierbare Verfahren der Fotografie) in vier zentralen Punkten zusammen: als eine neue Erfindung und Bereicherung für die Öffentlichkeit, als ein Hilfsmedium für künstlerisches Schaffen, als ein schnelles Aufzeichnungsmedium und schließlich als neues Instrument der Wissenschaften.

Wenn auch weitsichtig und vorausschauend, so erfasst Arago dennoch nur einen Teil der bereits wenige Jahrzehnte später stark ausdifferenzierten Anwendungsgebiete der Fotografie. Denn bereits in den 1850er Jahren machte sie einen Großteil der visuellen Kultur in Frankreich und Europa aus: als kommerzielle Porträtfotografie, Reisefotografie, durch dokumentarische Anwendungen im Bereich der Botanik, Geographie oder, um die Jahrhundertwende dann, im Bereich der Kriegs- und Pressefotografie. Außerdem kam sie in der Medizin, Psychologie oder Identitätsdokumentation zum Einsatz. Und natürlich auch im Bereich der Kunst: nicht nur im weiten Feld des künstlerischen Nutzens der Fotografie (bspw. als étude d’après nature und Vorstudie zum eigentlichen Werk), sondern auch als eigenständige Kunstform. Diese sicherlich unvollständige Liste der fotografischen Ausdifferenzierungen ließe sich bis ins Zeitalter der Digitalisierung fortsetzen, wobei sie dort vielleicht nicht in erster Linie an Vielfalt, sicherlich aber an Geschwindigkeit und Quantität gewinnt. In digitalen Zusammenhängen werden auch die vielbeschworenen, aber institutionell wenig gewürdigten Formen des demokratischen Nutzens der Fotografie und der fotografischen Bilder deutlich – ein Gebrauch, der historische und künstlerische Fotografie zumindest quantitativ überwiegt und die mit Fotografie beschäftigten Institutionen vor große Herausforderungen stellt.

Foto der Seite eines Gebäudes, auf dem ein Foto eines aufgerissenen Auges angebracht ist.
Abb.: Bart van Kersavond, „The Wrinkles of the City“, Berlin, April 2013; artwork by JR.

Kurzum, die Fotografie entsteht nicht nur an ganz unterschiedlichen Orten, sondern wird auch in den verschiedensten Organisationsformen und Institutionen gesammelt, archiviert, restauriert, digitalisiert, zugänglich gemacht und ausgestellt. Fotografische Bilder finden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen und Archiven, in Bibliotheken, Museen und Kunstorganisationen, in wissenschaftlichen und historischen Archiven und staatlichen Einrichtungen, in Zeitungs- und Medienarchiven, in Archiven von Bild- und Nachrichtenagenturen sowie in privaten Sammlungen und natürlich in den Sammlungen von Fotograf*innen selbst. Schließlich begegnen wir der Fotografie (größtenteils sogar) auf mobilen Datenträgern, auf Smartphones, Computern, Servern und in digitalen Clouds. Einige dieser letztgenannten Orte fungieren nicht nur als Speicher-, sondern auch als Aufnahmemedien. Auch wenn diese von Fotoinstitutionen ausgeblendet werden und Fotografie oft nur als finales Bildprodukt erscheint – der dominanten Tradition der Fotogeschichte entsprechend, die Apparate im Sinne der technischen Ausrüstung marginalisiert –, erschöpft sich die Fotografie nicht in ihren Bildern, sondern beinhaltet mindestens auch die technischen Apparate der Aufzeichnung. Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die Fotografie in vielen der genannten Orte auch eine Funktion als unterstützendes bzw. dokumentierendes Medium hat, d. h. sie tritt auch als Reproduktionsmedium bspw. von Kunstwerken oder, genereller, zur Dokumentation von nicht-fotografischen Sammlungen in Erscheinung. Diese vielfältigen Orte zusammenfassend lässt sich in Abwandlung von Urs Stahels Rede zum 10. Jubiläum des Fotomuseums Winterthur die bereits im Titel angeführte Frage stellen: Ja, wo ist sie denn, die Fotografie?1

Von der Ortlosigkeit zu den Institutionen der Fotografie

Institutionen jeglicher Art lassen sich grundlegend (und sehr generell) mit Durkheim als ‚soziale Tatsachen‘ begreifen, bei denen das individuelle Handeln durch kollektive Rahmenvorschriften geregelt wird. Im Kontext der Fotografie ist es sinnvoll, diese abstrakten Vorstellungen mit einem konkret materiellen-topologischen Verständnis von Institution in Verbindung zu bringen, d. h. mit einem konkreten Ort oder Gebäude.2 Während institutionelle Strukturen menschliches Handeln festschreiben und in vorgeschriebener Weise normieren, so bleiben auch die nicht-menschlichen (Sammlungs-)Objekte in ihnen von diesen Rahmenbedingungen nicht unberührt. Anders gesagt sind Institutionen nicht bloße ‚empty vessels‘ oder transparente Auffangbehälter für fotografische Bilder. Vielmehr binden Institutionen ihre Artefakte in Prozesse der De- und Re-Kontextualisierung ein, wie es Nadine Kulbe in einem jüngst erschienenen Beitrag zu Bildarchiven formuliert hat.3 Institutionen bzw. genauer, Institutionen mit fotografischen Sammlungen und Institutionen der Fotografie sind auch Wissensordnungen mit impliziten oder expliziten Machtrelationen, wie wir spätestens seit Foucault wissen. Sie sind Strukturen mit ideologischen, identitätspolitischen und historisch und funktional kontingenten Auswahlmechanismen, die einer Institutionslogik von Zentrum und Peripherie, von drinnen und draußen, folgen. Und diese Strukturen und Logiken gilt es explizit zu machen und zu untersuchen, und zwar aus beiden Perspektiven: innen und außen.

Natürlich ist es aus fototheoretischer Perspektive, spätestens seit Susan Sontag, ein vielfach gelobter und geschmähter Topos, dass fotografische Bilder immer nur ein Ausschnitt von etwas sind (für Sontag von Realität), wodurch wir für ihre Rezeption stärker noch als bei anderen Bildern auf Kontexte angewiesen sind,4 von denen diese Fotografien wesentlich mitgeprägt werden (wobei diese Kontexte in erster Linie Text und Schrift sind). Wenn das Wissen über Bilder maßgeblich von den Kontexten bestimmt und tradiert wird,5 in denen wir ihnen begegnen, so sind sammelnde oder archivierende Institutionen einer dieser Kontexte, wenn sie auch bisher in fotohistorischen Diskursen eher vernachlässigt wurden. Dieser Vernachlässigung entgegenzutreten und einen auch außerhalb der Kunstfotografie angesiedelten institutionskritischen ‚turn‘ anzuregen, ist ein Ziel des Forschungsprojektes, das am KWI begonnen wurde.

Eine Institutionalisierungsgeschichte der Fotografie, sofern sie nicht nur Sammlungsgeschichte der Kunst-Fotografie sein will, muss bei den Gebrauchsweisen der Fotografie einsetzen, die, wie in der Auflistung eingangs angedeutet, über die Kunst weit hinausgehen; war doch die Kunst-Fotografie – aus einer historischen Perspektive – lange Zeit eher nebensächlich. Mit anderen Worten ist die Kunst eben nur eine unter vielen Gebrauchsweisen von Fotografie. Mit diesem Perspektivwechsel ist die Abkehr von einer Ontologie der Fotografie wie sie im letzten Jahrhundert (von André Bazin bis James Elkins) vorherrschte – und auch noch im Titel von Urs Stahels Rede anklingt – endgültig vollzogen. An ihre Stelle tritt eine ‚Pragmatik‘ des fotografischen Bildes (im philosophisch-linguistischen Sinne), bzw. eine Praxeologie der Fotografie. Aus dieser Sicht eröffnet sich eine Sammlungsgeschichte der Fotografie jenseits der ‚alten Meister‘ wie Helmut Gernsheim die Geschichte der Fotografie 1955 noch zu schreiben wusste.

Diesen an traditionelle Kunst- und auch Autorschaftskategorien sich anlehnenden Ansätzen entzieht sich die Fotografie allerdings schon aufgrund ihrer grundsätzlich auf Reproduzierbarkeit angelegten medientechnischen Seinsweise. So haben bereits Elizabeth Edwards und Christopher Morton in einer Art Prolegomenon zu einer Sammlungsgeschichte der Fotografie darauf hingewiesen, dass die Reproduzierbarkeit der Fotografie bzw. ihre fehlende „object singularity“ musealen Sammlungslogiken im Wege stehe.6 Weshalb der Fotokunstmarkt immer auf Verknappung setzt (vom vintage print bis zum NFT). Aus der fehlenden Objektsingularität ziehen Edwards und Morton die methodologische Schlussfolgerung, dass Objektbiografien, wie sie in der Ethnologie oder Kunstwissenschaft geläufig sind (und vor allem auch für Provenienzforschung und Restitutionen eine große Rolle spielen), für die Fotografie wenig fruchtbar wären; denn, so Edwards und Morton, die Fotografie tritt in Sammlungen immer doppelt auf: als Bildinhalt und als Bildobjekt.

Aus meiner Sicht bietet aber gerade die Reproduzierbarkeit, die das multiple Dasein desselben Bildes (in unterschiedlichen Ausführungen) in verschiedenen Sammlungskontexten medientechnisch verursacht, einen Ansatz für ein ‚vergleichendes Sehen‘. Allerdings geht es nicht um den Vergleich zweier unterschiedlicher Bildinhalte (wie es traditionell in der Kunstgeschichte der Fall ist), sondern um die Gegenüberstellung vom gleichen Bild (d. h. Abzüge vom gleichen Negativ) oder Bilderserien in verschiedenen institutionellen Kontexten. Vergleiche auf dieser Ebene geben rege Auskunft über den Wert der Fotografien, der ihnen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten entgegengebracht wird und unterstreicht somit auch mehr oder weniger implizite oder explizite Kriterien und Prioritäten der Sammlungslogik in den jeweiligen Institutionen.

Die Fotografie genauer in ihren institutionellen Kontexten zu verorten und umgekehrt die Effekte der institutionellen Rahmungen auf die Fotografie zu untersuchen, ist Ziel dieses hier vorgestellten Forschungsprojektes. Ein solches Unterfangen scheint besonders im jüngeren Debattenkontext zur Etablierung eines Bundesinstituts für Fotografie7 eine wichtige (foto-)historische Lücke zu schließen, und dient vielleicht auch dazu, die (politische) Debatte mit einem breiteren historischen Fundament zu versorgen.

References

  1. Urs Stahel (2003): Ja, was ist sie denn, die Fotografie? Eine Rede über Fotografie zum 10-Jahres-Jubiläum des Fotomuseums Winterthur, Zürich: Scalo.
  2. Siehe hierzu im Kontext der Kunstmuseen Franziska Brüggmann (2020): Institutionskritik im Feld der Kunst Entwicklung – Wirkung – Veränderungen, Bielefeld: transcript Verlag, S. 36.
  3. Nadine Kulbe (2022): Bildarchive: Wissensordnungen – Arbeitspraktiken – Nutzungspotenziale. Zur Einführung, in: dies., Theresa Jacobs, Ines Keller, Nathalie Knöhr, Marsina Noll, Ira Spieker (Hrsg.): Bildarchive: Wissensordnungen – Arbeitspraktiken – Nutzungspotenziale, Dresden: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, S. 8, https://doi.org/10.25366/2022.44.
  4. Sie schreibt: „Because each photograph is only a fragment, its moral and emotional weight depends on where it is inserted. A photograph changes according to the context in which it is seen.“ Susan Sontag (1977): On Photography, New York: Dell Publishing, S. 105-106.
  5. Steffen Siegel fasst diese weitverbreitete Erkenntnis so zusammen: „Ein Wissen durch Bilder ist ohne ein Wissen über eben diese Bilder nicht zu haben.“ Steffen Siegel (2013): Ich sehe was, was du nicht siehst – Zur Auflösung des Bildes, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58, 2, S. 180, https://doi.org/10.28937/1000106219.
  6. Elizabeth Edwards und Christopher Morton (2015): Between Art and Information: Towards a Collecting History of Photographs, in: dies. (Hrsg.): Photographs, Museums, Collections. Between Art and Information, London: Bloomsbury, S. 8-9.
  7. Eine hilfreiche Zusammenstellung von seit 2019 erschienenen Pressemeldungen und Medienberichten zum Thema versammelt die Plattform der Netzwerk Fotoarchive, siehe https://www.netzwerk-fotoarchive.de/lesenswert/das-geplante-bundesdeutsche-fotoinstitut-pressemeldungen-und-medienberichte.

SUGGESTED CITATION: Yacavone, Kathrin: Ja, wo ist sie denn, die Fotografie? Zur Fotografie und ihren Institutionen, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/ja-wo-ist-sie-denn-die-fotografie/], 17.10.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20221017-0830

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