Samir SellamiVisual Literacy

Queere Überwältigungspädagogik

Queere Überwältigungspädagogik Anmerkungen zu einem körperbetonten Bildseminar Erschienen in: Visual Literacy Von: Samir Sellami

„Bitte nicht anfassen!“ – mit dieser Warnung wird der Mensch im Abendland von Kindesbeinen an auf den korrekten Umgang mit Kunst geeicht. Hinter der Verhaltensregel verbirgt sich jedoch zugleich ein Bestimmungsversuch dessen, was Kunst überhaupt ist: Nicht genug, dass man sie nicht anzufassen hat, dass man sie nicht anfassen darf, macht ihren Wesenskern aus. Am Anfang vieler Kunstrezeptionslaufbahnen steht so eine raffinierte Verflechtung von Verhaltensregel und Wesensbestimmung, von sittlichem Gebot und ästhetischem Urteil, eine Verflechtung, aus der sich der spätere Bezug zur Kunst nicht mühelos herauslösen kann. Es liegt daher nahe, an genau dieser Engführung von Anstand und Ästhetik anzusetzen, um die eingerosteten Routinen unseres Umgangs mit Kunst aufzulockern.

Anfassen und aufkratzen

Besonders clever und unterhaltsam tut das derzeit die französische Ausnahmeschauspielerin und studierte Kunsthistorikerin Hortense Belhôte in ihrer TV-Produktion Merci de ne pas toucher (2020–22), die man in zwei Staffeln mit je zehn Episoden in der Arte-Mediathek findet. Der Titel ist ironisch zu verstehen, geht es der Serie doch gerade darum, kanonisierten Gemälden europäischer Meister durch übergriffiges Berühren, Betasten, Befingern die enzyklopädische Patina aufzukratzen. Eine Folge dauert rund vier Minuten und verläuft in ungefähr so: Für ein paar Sekunden erscheint auf dem Bildschirm ein Bildausschnitt aus dem reichen Fundus der klassischen europäischen Malerei, irgendwo zwischen da Vinci und Gustave Courbet. Schon im zweiten Moment verrät die Regie, dass es sich bei dem abgefilmten Bild doch nur um eine Reproduktion des Originals gehandelt hatte, gedruckt in niedriger Auflösung auf ein T-Shirt, eine Tischdecke oder eine Tapete. Aus den Trümmern des vorgegaukelten Originals, einer zerrissenen Postkarten-Venus von Velázquez zum Beispiel (Ep. I.6), tritt triumphierend das kräftig ausgeleuchtete Gesicht von Hortense hervor. In den verbleibenden Minuten verfolgt sie als leicht überdrehte, sehr wortgewandte und atemberaubend attraktive Kunstlehrerin das Projekt, ihre Zuschauer*innen mit allen Mitteln der performativen Verfremdung in die Geheimnisse des jeweiligen Werks einzuweihen. Im Handumdrehen erfährt man Bemerkenswertes über Entstehungsgeschichten, Stile und Sujets, über historische Tabus und unbelehrbare Wünsche von Auftraggebern. Und über die genialen Manöver der (fast immer männlichen) Künstler, diese Wünsche und Tabus (nicht immer ungestraft) außer Kraft zu setzen.

Abb. 1 Hortense Belhôte / Cécilia de Arce: Merci de ne pas toucher, Ep. I.2, „Vilain petit canard“, arte tv 2020 – Intro

Doziert wird das alles nicht in herkömmlichen Klassenzimmern, sondern eingebettet in scheinbar alltägliche, aber szenisch überakzentuierte Settings: in knallfarbige Autowerkstätten und Friedhofsanlagen, Bioläden und Burgerbuden. Das verschafft Hortense, während sie ihre messerscharfen Bildanalysen abfeuert, die Gelegenheit, allerlei Nebentätigkeiten zu verrichten: mit bunten Bällen zu spielen, Fleisch anzubraten, tropische Früchte zu streicheln. Damit ist der Bewegungsdrang der Erzähldynamik allerdings noch nicht gestillt, vielmehr cruisen im Hinter-, Mittel- und manchmal sogar Vordergrund unübersehbar queere Kompliz*innen über den Screen, stellen in knappen Outfits ihre taufrische Haut zur Schau und schauen in einer geschulten Mischung aus Langeweile und Lässigkeit ein paar Grad neben das Kameraauge hinaus in eine vielsagende Leere. Was auch immer dann noch geschieht – ein Werkvergleich, ein Infrarot-Blick in die Tiefenschichten aus Zensur und Übermalung, zurückgehaltene Tränen beim Waxing, ein Cuddle Fight im Waschsalon – nach vier bis fünf Minuten beschließt jede Episode ein mal mehr, mal weniger mimetisches tableau vivant. Im Kontrast zur quirligen Aufgekratztheit, die ihm vorausging, bringt das Schlussbild die Darsteller*innen, Kulissen und Requisiten des jeweiligen Clips zu einem kontrastiven und kontemplativen Ruhemoment zusammen: Manets Olympia stützt sich auf ein Netz mit Fußbällen (Ep. I.7), Leda küsst statt einem Schwan ein Quietscheentchen (Ep. I.2).

Abb. 2 Links: Belhôte / de Arce: Merci de ne pas toucher, Ep. I.2, „Vilain petit canard“, arte tv 2020 – Schlussbild | Abb. 3 Rechts: Belhôte / de Arce: Merci de ne pas toucher, Ep. I.7, „Gazons“, arte tv 2020 – Schlussbild

 Die Lust am Bild

Abgesehen von ihrem enormen Unterhaltungswert inspiriert die Serie zum gründlicheren Nachdenken über ein häufig vernachlässigtes Verhältnis: zwischen Kunsterfahrung und Kunstvermittlung, Ästhetik und Pädagogik. In den folgenden Abschnitten will ich, ohne systematischen Anspruch, ein paar bescheidene Fragen beleuchten, die sich aus dieser Perspektive ergeben: Mit welchen Manövern gelingt es der Serie, die sinnliche und analytische Dimensionen des Bildbeschreibungsprogramms zu synchronisieren? Inwiefern schreibt sie sich dabei in eine Genealogie queerer Ausdrucksformen und Wahrnehmungspraktiken ein? Und an welcher Haltung zum kulturellen Erbe arbeitet eine solche queere Pädagogik?

Alle zwanzig Episoden zeichnen sich aus durch einen entschiedenen Interessensüberschuss für die libidinösen Energien, die in ihre Bildvorlagen eingegangen und aus ihnen herauszulesen sind. Damit korrespondiert häufig bereits die Motivwahl: sich ineinander verfangende barocke Körper, überall nackte Haut, transparente Textilien und vielsagende Blicke, raffiniert verschlüsselte (Homo)Erotik, Sex. Das Bild „Leda und der Schwan“ des venezianischen Malers Paolo Veronese ist Thema der zweiten Folge der ersten Staffel. Es zeigt eine nackte Frau und einen Schwan, eng verschlungen in halbliegender Position. Im engeren Sinn pornografisch ist die Umsetzung einer Episode aus Ovids Metamorphosen nicht, aber doch deutlich genug: Der Schnabel des Schwans steckt schon tief im Mund der Frau mit den geröteten Wangen, ihre rechte Hand umfasst den Unterkörper des Vogels und rückt ihn näher an ihren Genitalbereich heran. Um den Vorrang der Lust gegenüber den Symbolen zu behaupten, greift Hortense auf ein denkbar einfaches Verfahren zurück und zoomt in schneller Schnittfolge Bildausschnitte heran. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Umgebung der Bildmitte den Akt der Liebenden nicht nur begleitet, sondern mitvollzieht. Für einen Moment fällt das Gewicht des Blicks ganz auf die weichen und gleichzeitig straff gespannten Kissen, die feinen Stoffe und Accessoires, die „enorme theatrale Draperie“ (Ep. I.2), nur scheinbar im Hintergrund. Bei Veronese, und nicht nur bei ihm, schießt die nicht in Symbolgestaltung zu beruhigende Sinnlichkeit („la vigoureuse sensualité“, Ep. I.4) aus dem vermeintlichen Beiwerk an die Oberfläche. Die Farbe wird Fleisch; Geheimnis und Mystik sind, lange bevor sie zu Geistigem verdampfen, des Leibes.

Immer wieder findet die Serie Wege, das bei Veronese & Co. entdeckte Prinzip von der sinnlichen Gleichberechtigung aller Bildelemente in die eigene Videoästhetik zu übersetzen. In der Leda-Episode tritt plastisch hervor, dass Hortenses feinsinnige Texte nicht nur als Bildunterschriften zu verstehen sind, sondern in ihrer ganzen metaphorischen und metrischen Pracht eine animierte Umgebung schaffen, die mit ihren Gegenständen korrespondiert: Klangliche Resonanzen imitieren die Fleischlichkeit der Farbe und transportieren die Absicht, dass es um mehr geht als nur um Information und Illustration. Und über eine Serie emphatisch gedroppter Alliterationen, die das Herz einer jeden Sprecherzieherin höherschlagen lassen, findet die Selbstermächtigung der Stimme gegenüber der bloßen Information ihren Höhepunkt in einer Sequenz, die einen kleinen Textteil der Leda-Episode als ASMR-Gedicht aussendet. Mitsamt rot lackierten nail extensions, die an der Mikrofonhaut knuspern.

Abb. 4 Belhôte / de Arce: Merci de ne pas toucher, Episode I.2, „Vilain petit canard“, arte tv 2020 – ASMR als Lehrmittel

Queere Pädagogik

Das Verhältnis der Serie zu Kanon und Tradition erscheint auf den ersten Blick fast schon verdächtig affirmativ; inwiefern lässt sich da von einer queeren Ästhetik oder gar Pädagogik sprechen? Zunächst ist festzuhalten, dass Hortenses Bildbeschreibungen die Geschichte der europäischen Malerei unheilvoll begleitende Faktoren wie Misogynie und Sexismus, Zensur, Geheimhaltung und Doppelmoral nicht unterschlägt: Goyas nackte Maja muss durch das Kaschierbild ihrer bekleideten Doppelgängerin verhüllt werden (Ep. II.9), Courbets „Ursprung der Welt“ verschwindet in den Privatsammlungen eines osmanischen Fürsten oder Jacques Lacans (Ep. I.8), Artemisia Gentileschis künstlerische Karriere (die einzige weibliche Malerin, die die Serie behandelt) beginnt nach einer Vergewaltigung (Ep. II.4).

Die Bilder der Tradition kritisch zu lesen, heißt mindestens, die in ihnen sedimentierte Geschichte von Gewalt und Exklusion konstant mitzulesen. Wie Hortenses Bildbeschreibungsprogramm vorführt, kollidiert dieser Anspruch jedoch nicht mit der Libertinage des Blicks, den die Serie ausschweifend feiert. Hier ist es nicht die Beschränkung der Sinnlichkeit, sondern das Sich-Einlassen auf ihre knisternde Impulsivität, die den Boden für einen zeitgemäßen, schambefreiten Umgang mit dem kulturellen Erbe und all seinen Altlasten bereitet. Die Geheimnisse der großen Meister, auch die dunklen, findet man nicht erst hinter den Bildern, sondern zu einem großen Teil schon in dem, was sie gleichzeitig unverblümt und raffiniert verschlüsselt zu sehen geben. Die Mission zumindest dieser queeren Anleitung zum Bilder-Lesen besteht damit weniger im Enthüllen von Missständen, die hinter der prächtigen Fassade ihr Unwesen trieben und von ihr verstellt werden soll(t)en. Sie besteht vielmehr darin, noch einmal und unter veränderten Bedingungen frisch zu entdecken, was im Prinzip immer schon gesehen werden konnte – und auch gesehen wurde!

Hortenses Bildbeschreibungen produzieren etwas anderes als nur Gegennarrative, die sich frontal gegen die althergebrachte Neutralität der Museumskatalogtexte richten. Sie zielen nicht bloß auf Alternativen, sondern auf eine höhere Stufe der Lesbarkeit. Sie umkreisen queeres, traditionskritisches, aber auch verfängliches Bildpotential und erzählen dabei die auf Symbolprogramm und Epochenstil zugeschnittenen Sicht- und Erkenntnisweisen der kunsthistorischen Mainstream-Didaktik spielerisch mit. Dabei profitieren sie von einem rezeptionshistorischen Öffentlichkeitswandel, den sie zugleich verstärken: Die umkämpfte, aber zunehmend normalisierte Präsenz von Queerness im öffentlichen Raum befähigt die Mission, sich für queeres Bilder-Lesen nicht als exzentrische Ausnahme, sondern als verallgemeinerbares Wissensspiel stark zu machen.1 Neben der hyperaktiven Intermedialität der performativen Präsentation2 leisten die gedanklich dichten und stilistisch hochmotivierten Texte einen essenziellen Beitrag zu dieser Überbietungsdidaktik: Weitgehend befreit von Jargon und Fachsprache, aber ohne falsche Zugeständnisse an vermeintlich überforderte Zuschauer*innen, machen sie zu keiner Zeit einen Hehl aus ihrer ultrasmarten Gesinnung.3 Die Lust am Bild und die Lust am Text bestäuben sich gegenseitig.

„Wem soll man da glauben: den Theologen oder den Malern?“

Dass Hortenses équipe wenig bis nichts dem Zufall überlässt, zeichnet sich bereits in der Motivwahl der allerersten Folge ab: Caravaggios „Der ungläubige Thomas“ von 1602. Dargestellt ist eine dramatische Szene aus dem Neuen Testament, Ostern ungefähr 30 nach Christus: Ein Jünger, der später trotz allem geheiligte Thomas, legt seinem frisch auferstandenen Heiland buchstäblich den Finger in die Wunde, um an einen Beweis für dessen Echtheit zu gelangen.

Abb. 5 Links: Caravaggio: Der Ungläubige Thomas, 1601-2, Privatsammlung Florenz (cc) | Abb. 6 Rechts: Filmstill aus Derek Jarman: Caravaggio, 1986, British Film Institute London

Insofern man von einer Pilotfolge erwarten darf, dass sie in die Grundkonflikte der Serie einführt, ist diese Umsetzung geradezu schulbuchmäßig. Caravaggio, spätestens seit Derek Jarman ikonischer Garant für queere Kunstretrospektionen, konzentriert seine Darstellung ganz auf den Moment des Anfassens, das noch in der tausendsten Reproduktion buchstäblich unter die Haut geht: kein Dekor, keine historisierenden Landschaften, nur das elektrisierende Feld der Blicke und Gesten, das in Thomas’ ungläubigem Finger seine ganze Spannung entlädt. Das Motiv des Zweifels kontrastiert dabei drastisch mit einer fast schon aufdringlichen Überzeugungskraft der Bildgestaltung, dem scharfkantigen Spiel aus Schatten und Licht, der Überführung der textlichen Vorlage in nahezu unanfechtbare Sichtbarkeit. Und doch macht sich bei längerem Hinsehen auch immer wieder ein gegenläufiger Effekt bemerkbar: Die jegliche Art von Kontextualisierung von sich weisende Szenerie wird starr und statisch, erscheint plötzlich haltlos und bis ins Unfassliche verklärt.

Für die Theologen ist am Ende nicht entscheidend, ob Thomas in seiner skeptischen Phase die heilige Wunde wirklich berührt; für den Maler, zumindest für Caravaggio, konzentriert sich im Gegenzug alles auf den zweifelnden Finger, der unter die Haut will. Der perspektivischen Diskrepanz zwischen den Theologen und Malern entspricht dabei verblüffend genau der Grundkonflikt zwischen dem, was sich im Ausgang von Titel-Ironie und Caravaggio-Folge als Grundkonflikt der Serie herauskristallisiert: die produktive Spannung zwischen den zwei Imperativen „Noli me tangere“ und „Bitte (unbedingt) anfassen!“. „Wem soll man also glauben“, fragt Hortense, „den Theologen oder den Malern?“ Anders als man erwarten könnte, wird die Frage von der Serie nicht immer zugunsten der Maler beantwortet, wird dem Anfassen nicht der unangefochtene Vorrang gegenüber dem Betrachten eingeräumt, wird Interaktion nicht vorschnell gegen Kontemplation ausgespielt. Wer wissen und lernen will, wie man liest, ob gemalte Bilder oder andere Anachronismen, muss sich damals wie heute auf ein riskantes Spiel einlassen können: ein Spiel aus Nähe und Distanz, Übereifer und Abstumpfung, Zaudern und Sinnlichkeit, Skepsis und Überbietung. Die jede Episode beschließenden tableaux vivants (bekannt nicht nur aus Jarmans Caravaggio-Film, sondern auch aus den Produktionen anderer Ikonen des queeren Kinos, allen voran Pasolini) dienen nicht zuletzt als kleine Erinnerungshaken. Bei aller sie umgebenden performativen Lebendigkeit wohnt den Bildern immer auch eine Tendenz zu Verklärung und Reglosigkeit inne.4

Chromatik und Kritik

Merci de ne pas toucher mobilisiert zwei gegenläufige, sich aber gegenseitig stützende Traditionen queerer Selbstdarstellung: auf der einen Seite laut, knallig und in your face, auf der anderen Seite diskret, anspielungsreich, verstohlen und klandestin. Weit wichtiger als die Erschließung revolutionär neuer Aspekte, die in den sogenannten eurozentrischen und auf Hochkultur getrimmten Settings angeblich nicht vorkommen dürfen, ist die Entdeckung dessen, was in ihnen immer schon an unverkennbar queerem Potenzial enthalten war. Mehr als um Revision geht es um Reanimation und Restitution. Das Insistieren auf Unschärfen und Ambiguitäten sticht dabei zuverlässig den identitätspolitischen Furor des Labelns und Benennens aus, und zwar genauso entschieden wie die den Oberflächen verfallene Lust an der Farbe die Ebene von Symbolgestaltung und Mythopoiesis. Zwischen Hortenses gut durchbluteten Fingern begnügt sich Queerness nicht mit der Rolle der Thesenlieferantin einer gut geschmierten Diskursmaschine, sondern operiert als hochempfindsamer Apparat zur Produktion chromatischer Sinnlichkeit. Sinnlichkeit, die die Sinne der Kritik nicht betäubt, sondern erweitert und scharf stellt.

Die Finger als treibende Kraft kann man dabei nicht ernst genug nehmen. Ausgehend von ihrer frivolen Behauptung vom Fingern als hermeneutischem Modus zelebriert die Serie einen anti-phallischen Blick, der die Bildoberflächen neugierig abtastet anstatt nur in sie eindringen zu wollen, um die mysteriöse Wahrheit des Werks zu entbergen. In der Sprache der Sexualpraxis: Ein Triumph von Promiskuität über Penetration. So lässt sich analytisch wie ästhetisch zum Höhepunkt kommen, allerdings ohne den lästigen Druck, ein einseitig definiertes Ziel erreichen zu müssen.

References

  1. Sehr viel expliziter als in den inhaltsbezogenen Analysen ist die Verwendung von Elementen aus dem Repertoire queerer Ausdrucks- und Lebensformen in der performativen Begleitinszenierung. Eine raffinierte Variation auf die Konfusion von Gender-Zuschreibungen findet sich in Episode I.6, die Velázquez’ Venus im Spiegel bespricht. Im abschließenden tableau vivant kommt es offenkundig zu einem Geschlechtertausch, aber welche Geschlechter tauschen hier mit welchen? Der knabenhaft erscheinende, aber in Wahrheit geschlechtslose Cupido wird ,ersetzt‘ durch die als weiblich eingelesene, ihre Homosexualität an wenigstens einer Stelle explizit erwähnende Hortense (Ep. I.7); die Venus-Rolle übernimmt eine schwarze Person, die man, würde man dazu aufgefordert, als non-binary AMAB (assigned male at birth) einschätzen könnte. Der Primat des Visuellen bzw. der Körper in Bewegung lässt solche Zuordnungsversuche aber letztlich ins Leere laufen, das Rätsel der Pronomen bleibt ungelöst, Queerness hinsichtlich ihrer Identitätsposition diskret.
  2. Intermedialität meint hier nicht nur die Verwendung unterschiedlicher medialer Präsentationsweisen zur Bereicherung der Performance. Die Serie beweist vielmehr ein geschärftes Bewusstsein für Fragen der Medienpraxis und Mediengeschichte, die relativ eigenständig, gewissermaßen im Off der Bildanalysen verhandelt werden. Exemplarisch und besonders eindringlich nacherzählen lässt sich das entlang des Auftakts der Leda-Folge. Das erste Bild zeigt Veroneses „Leda und der Schwan“ als leicht aus der Zeit gefallenen Bildschirmhintergrund. Im nächsten Moment wird das digitale Stillleben durch einen Skype-Call in Unruhe versetzt. Eine spürbar verkaterte Hortense macht sich wie gewohnt an die Aufgabe, ins Bildthema einzuführen, hier die berühmte Szene aus Ovids Metamorphosen, in der sich Zeus, der Harvey Weinstein des Olymps, ein weiteres seiner unzähligen Opfer gefügig macht. Der schleppende Einführungsversuch wird zum Glück der Dozentin abrupt abgeschnitten von dem elektropoppigen Intro, das ein Rudel aus Comic-Händen über den Veronese schneidet, die das Bild (im Einspruch gegen die kunstbürgerliche Verhaltensregel) betasten, befummeln, befingern (vgl. Abb. 1). Nach dem Intro, das nur ein paar Sekunden dauert, erscheint eine neue Hortense in bester Verfassung: frisch geduscht, sauber gekleidet, begeistert und wieder begeisterungsfähig. Auf den Kostümwechsel reagiert eine veränderte Bildregie: Hortense ist nun nicht mehr verkleinert ins Skype-Fenster eingekapselt, sondern nimmt, harmonisch eingefügt in einen makellos kuratierten, jederzeit vorzeigbaren Wohnraumhintergrund, den ganzen Bildraum ein. Damit erzählt die Episode, noch bevor sie sich dem eigentlichen Thema widmet, eine andere kleine Geschichte, und zwar die eines nicht unbedeutenden Wandels im digitalen Kommunikationsverhalten der letzten Jahre: von den unterspannten, ständig stockenden Video-Calls der Generation Auslandsjahr zum durchgefilterten Konferenz-Verhalten im (post)pandemischen Zeitalter. Anders gesagt: die Ablösung von Skype durch Zoom.
  3. In Touching, Feeling (das wegweisende Überlegungen zur Frage der queeren Pädagogik enthält) stellt Eve Sedgwick, eine „personal communication“ ihres Freundes Joseph Litvak zitierend, einen Zusammenhang her zwischen queerer Hypersmartness im Jugendalter und einer später erhöhten Ambiguitätstoleranz: „[I]f a lot of queer energy, say around adolescence, goes into what Barthes calls ,le vouloir-être-très-intelligent‘ (as in ,If I have to be miserable, at least let me be brainier than everybody else‘), accounting in large part for paranoia’s enormous prestige as the very signature of smartness (a smartness that smarts), a lot of queer energy, later on, goes into… practices aimed at taking the terror out of error, at making the making of mistakes sexy, creative, even cognitively powerful.“ Sedgwick, Eve Kosofsky (2003): Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham/London: Duke University Press, S. 147, https://doi.org/10.2307/j.ctv11smq37.
  4. Zu Funktionen und Bedeutungen der tableaux vivants im Film kann man lesen: Barck, Joanna (2008): Hin zum Film – Zurück zu den Bildern. Tableaux Vivants: „Lebende Bilder“ in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld: transcript, https://doi.org/10.1515/9783839408179; Mecugni, Anna (2011): A „Desperate Vitality“: Tableaux Vivants in the Work of Pasolini and Ontani (1963–1974), in: Palinsesti: Contemporary Italian Art Online Journal 1 (2), S. 94–116.

SUGGESTED CITATION: Sellami, Samir: Queere Überwältigungspädagogik. Anmerkungen zu einem körperbetonten Bildseminar, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/queere-uberwaltigungspadagogik/], 27.02.2023

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20230227-0830

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