Schatten in der Nacht
Wenn Kinder Angst haben, dann sitzen sie im Bett. Die Decke über dem Kopf. Zwei weit aufgerissene Augen lugen darunter hervor. Die Schatten von Monstern tanzen an der Wand. Wenn Kinder Angst haben, klammern sie sich am Bein von Mutter oder Vater fest. Oder sie schmiegen sich in den Arm von Mama-Papa, große Augen voller Tränen. Und wenn nicht Mama-Papa, dann doch das Kuscheltier im Arm, ersatzweise der Familienhund.

Das sind die Bilder der Angst, die uns Tag für Tag begegnen – im Internet, in Zeitungen und Magazinen, in Ratgebern. Auf Instagram und Facebook eher weniger. Denn wer fotografiert seine Kinder schon, wenn sie Angst haben, und postet das dann? Wenn Kinder Angst haben, sind Eltern dafür da zu trösten und zu beruhigen. So wie es die veröffentlichten Bilder zeigen, die natürlich nicht ‚authentisch‘ sind, sondern sorgsam konstruiert. Kinderängste sind ‚harmlose‘ Ängste. So scheint es. Doch manche Kinderängste lassen sich nicht so leicht beruhigen. Sie werden zur ‚Angststörung‘. Laut ICD-10 liegt eine Angststörung vor, wenn Ängste der Situation nicht angemessen erscheinen, wenn sie exzessiv werden, sich verselbstständigen, das Leben einschränken. Immer mehr Kinderärztinnen und Jugendpsychiater schlagen derzeit Alarm, dass infolge von Coronapandemie und Lockdown Angststörungen unter Kindern und Jugendlichen zunehmen, ebenso wie Depressionen und Essstörungen. Bereits zuvor gehörten Angststörungen zu den vier häufigsten Diagnosen, aufgrund derer eine Richtlinienpsychotherapie begonnen wurde.2 Ob es unabhängig von Corona langfristig einen Trend nach oben gibt, ist umstritten.
Keine Daten, aber Geschichten zur Angst präsentiert die Kinderliteratur. Darum klärt ein Blick auf die Kinderliteratur zwar nicht die Frage, ob Angststörungen im 20. Jahrhundert zugenommen haben. Sie zeigt jedoch, wie sich Vorstellungen über Angst geändert haben. Mehr noch: Vorbilder spielen eine große Rolle für den kindlichen Umgang mit Angst. Gerade weil Kinder zwischen Realität und Fiktion weniger scharf unterscheiden als Erwachsene, können literarische und filmische Gestalten prägende Vorbilder sein. Sie führen emotionale Verhaltensweisen vor, die Kinder spielerisch ausprobieren und sich mimetisch aneignen.3 Geschichten, ob vorgelesen oder selbst gelesen, hatten also Einfluss darauf, „wie Kinder fühlen lernten“4. Davon waren bereits Kinderärzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts überzeugt, die deshalb für eine sorgsame Auswahl kindlicher Lektüren plädierten. Der Österreicher Adalbert Czerny, seit 1913 Pädiatrie-Professor an der Berliner Charité, mahnte die Eltern, durch die von ihnen ausgewählten Geschichten „den Kindern keinen Begriff von Angst und Furcht beizubringen, da diese nachhaltig und ungünstig auf ihre Psyche einwirken“ könnten.5 Dieser Ratschlag fiel in eine Zeit, die Erziehung zunehmend zur Expertensache erklärte – und den Rat von Ärztinnen und Psychologen für maßgeblich hielt.
Von den neuen Expertinnen wurden weithin akzeptierte Erziehungsmethoden auf den Prüfstand gestellt. Die übliche (Jungen-)Erziehung zur Furchtlosigkeit gehörte dazu. Zum Exemplum diente etwa der achtjährige Max, den Nikolaus Faßbinder 1916 in seinem „Buch für unsere Mütter“ ins Zentrum des Kapitels über Kinderfurcht stellte.6 Max‘ Mutter, nach Faßbinder ohne jede Kenntnis psychologischer Vorgänge, verlacht ihren Sohn und versucht, ihm seine „beschämende Feigheit“ mit Schlägen auszutreiben. Vater und Mutter orientieren sich am Üblichen und schicken Max zur Radikalkur allein in den dunklen Keller. Die Kur geht gründlich schief. Doch zum Glück greift die Tante, ein Alter Ego Faßbinders, ein und sichert Max zu, sie werde immer kommen und ihm beistehen, wenn seine Ängste ihn zu überwältigen drohen. Dieses Wissen bewirkt, „daß er im Augenblicke der Gefahr an Selbstbeherrschung erheblich mehr leistete und im Kampfe gegen das leidige Fürchten tat, was er konnte“.7 Auch Vater und Mutter können für dieses neue Erziehungskonzept gewonnen werden – und nach Ablauf einiger Jahre wird Max tatsächlich ‚furchtlos‘.
Die Erziehungsmethoden änderten sich also, das Ziel blieb allerdings gleich: Furchtlosigkeit. Immerhin aber zeigte sich ein neues Bewusstsein für die potentiell verstörende Kraft von Angst nun auch in der Kinderliteratur. An die Stelle furcht-freier Kinderhelden, die wie Phileas Fogg (Reise um die Erde in 80 Tagen, 1873) die Welt bereisten oder wie Natty Bumppo und sein Freund Häuptling Chingachgook (Lederstrumpf, 1813-1841) den ‚Wilden Westen‘ durchstreiften, traten nun Protagonisten auf, die zeitweise von Angst gelähmt schienen, am Ende aber Mut zeigten: der feige Löwe (Der Zauberer von Oz, 1900), Maulwurf (Der Wind in den Weiden, 1908) oder Colin (Der heimliche Garten, 1911). So mächtig Angst hier auch erschien, letztlich entpuppte sie sich in diesen Geschichten als Produkt der kindlichen (oder tierischen) Phantasie, das wie ein böser Zauber seine Macht verlor, sobald es durchschaut wurde.

Dies änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Angst wurde nun auch in der Kinderliteratur zunehmend real. Es gab Gründe, sich zu fürchten, so zeigten es vor allem Geschichten für Jugendliche. Interessant ist hier ein Seitenblick auf frühe nationalsozialistische Jugendbücher wie Karl Aloys Schenzingers Der Hitlerjunge Quex (1932). Hier ist ganz anders als in den vorher üblichen Geschichten der gewalttätige (und kommunistische!) Vater Quelle einer zerstörerischen Angst, der der Protagonist Heini erst entkommen kann, als er den Weg in die Jugendorganisation der NSDAP findet. Heini wird mutig, das zählt, denn am Ende verliert er doch sein Leben, ermordet durch einen Kommunisten. Die Propagandabotschaft des aus tiefster Angst zum ‚mutigen Märtyrer‘ gewordenen Heini, angelehnt an die Biographie des Hitlerjungen Herbert Norkus, erschien so stark, dass daraus 1933 ein Spielfilm gemacht wurde, für den das Lied Vorwärts! Vorwärts! / Unsere Fahne flattert uns voran von Baldur von Schirach getextet wurde.
In der britischen Fantasy-Literatur tauchten fast zeitgleich Helden auf, die furchtsam waren und gerade deshalb für große Abenteuer geeignet schienen, denn ihre Angst zeichnete sie als empfindsame und mitfühlende Wesen aus. Die bekanntesten (und bis heute beliebtesten) Helden dieser Art sind sicher Bilbo Beutlin und sein Neffe Frodo (Der Hobbit, 1937; Der Herr der Ringe, 1954-1955). Mit ihnen begann der Siegeszug furchtsamer Helden in der Kinder- und Jugendliteratur, denen Furcht manches Mal auch dazu diente, die (un‑)menschliche Qualität ihres Gegenüber zu erspüren (Momo, 1973; Krabat, 1971). Furcht-freie Helden gab es nun fast nur noch in weiblicher Gestalt – und diese waren ohne den Einfluss von besorgten Eltern aufgewachsen, möglicherweise ein Reflex also auf den Behaviorismus à la John B. Watson (Pippi Langstrumpf, 1945; Die kleine Hexe, 1957).

Hatten die Geschichten bis dato vorgeführt, wie Kinder mit Angst umgehen konnten, wurde nun darüber geredet. Anlass war oft der Tod geliebter Menschen, der seit den 1970er Jahren zum wichtigen Thema der Kinder- und Jugendliteratur wurde (Servus Opa, sagte ich leise, 1977; Birgit, 1982). Doch auch Ängste vor Phantasiegestalten tauch(t)en seitdem wieder auf. Sie werden allerdings nicht mehr ‚entlarvt‘, sondern als Symbol für tiefersitzende Ängste in kindlichen Entwicklungsphasen oder herausfordernden familiären Situationen dargestellt (Die Nachtvögel, 1975; Hanno malt sich einen Drachen; 1978; Juli und das Monster, 1995). Die Geschichten präsentieren solche Phantasien als Möglichkeit, der Angst in ihrer symbolhaften Konkretion zu begegnen, die Nachtvögel wegsperren zu können oder das Toilettenmonster auszutricksen.

Dass die Bilder im Internet oder in Ratgebern allerdings nicht das viel gefürchtete Toilettenmonster zeigen, sondern immer nur die nächtlichen Monster, hat dann wohl eher damit zu tun, dass auch Erwachsene noch die Schatten einer schlaflosen Nacht scheuen.
References
- D Sharon Pruitt, CC BY 2.0 , via Wikimedia (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Scared_Child_at_Nighttime.jpg).
- Joachim Szecsenyi: BARMER Arztreport 2021. Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen, S. 9. [https://www.barmer.de/blob/282988/86738e624a8463cce12a987b25524029/data/pressemappe-barmer-arztreport-2021.pdf].
- Zum Konzept des mimetischen Lernens vgl. Jacqueline Nadel / George Butterworth (Hg.) (2011): Imitation in Infancy, Cambridge: Cambridge University Press.
- So der Titel eines Buches, das am 23. Juni 2021 erschienen ist und zu dem ich ein Kapitel über Kinderangst beigesteuert habe: Bettina Hitzer (2021): Jim Knopfs Angst, in: Ute Frevert et al., Wie Kinder fühlen lernten. Kinderliteratur und Erziehungsratgeber 1870-1970, Weinheim: Beltz Juventa, S. 217-237.
- Adalbert Czerny (1919): Der Arzt als Erzieher des Kindes, 5., vermehrte Auflage, Leipzig und Wien: Franz Deuticke, S. 50.
- Nikolaus Faßbinder (1916): Am Wege des Kindes. Ein Buch für unsere Mütter, Freiburg im Breisgau: Herder, S. 205-214.
- Faßbinder (1916), S. 214.
- Frank. L. Baum (2011): Der Zauberer von Oz. Mit Illustrationen von Robert Ingpen. Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm, München: Knesebeck.
- Otfried Preußler und Winnie Gebhardt (1957): Die kleine Hexe, Stuttgart: Thienemann. Bildquelle: https://www.thienemann-esslinger.de/produkt/die-kleine-hexe-isbn-978-3-522-10580-4
- Jutta Bauer und Kirsten Boie (1995): Juli und das Monster, Weinheim/Basel: Beltz & Colberg. Bildquelle: https://www.beltz.de/kinder_jugendbuch/produkte/produkt_produktdetails/7874-juli_und_das_monster.html.
SUGGESTED CITATION: Hitzer, Bettina: Schatten in der Nacht. Geschichten von der Kinderangst im 20. Jahrhundert, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/schatten-in-der-nacht/], 12.07.2021