Till MeppelinkQuellen des Mangels

We are what we eat!

We are what we eat! Das produktive Moment der Kalorie Erschienen in: Quellen des Mangels Von: Till Meppelink

Die Kalorie ist überall. Sie begegnet uns jeden Tag; sei es auf der Verpackung von Lebensmitteln, in der Werbung oder in unseren Social Media Feeds. Sie suggeriert, dass wir auf einfache Art und Weise Kontrolle über unsere Ernährung und unseren Körper erlangen können. Wie weit ihr Einfluss zurückreicht, zeigen diese Zusammenschnitte aus einem Aufklärungsfilm der US Army aus den 1940er-Jahren1.

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In diesem kurzen Ausschnitt werden sowohl die grundlegende Funktion der Kalorie als Maßzahl der Nährstoffzufuhr veranschaulicht als auch ihre subjektivierende Wirkung. Die vermeintliche Objektivität des Verfahrens wird durch die Aussage „what the medical officer told me“ und die Rolle der Medizinerin unterstrichen wie auch durch das eindrückliche Bild des menschlichen Körpers als Maschine.

Wie die Historikerin Nina Mackert betont, wandelt sich durch das Vergleichbarmachen des Nährwerts von Nahrungsmitteln via Kalorie das Ernährungsverständnis im späten 19. Jahrhundert grundlegend.2 Seitdem wird ungesunde Ernährung primär durch die falsche Wahl der Nahrungsmittel und nicht durch eine Unterversorgung mit ökonomischen Ressourcen begründet. Denn wer sich effizient ernährt, muss weder hungern noch – und das ist im heutigen Kontext relevanter – übergewichtig sein. So trägt die Kalorie damals wie heute dazu bei, Klassen- und Geschlechterverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu verfestigen.

So wird auch die Wirkung der Kalorie als subjektivierende Instanz in diesem Lehrfilm deutlich. Die Ratschläge der anderen Frauen sowie die Aussagen der Medizinerin betonen die Handlungsmacht, die wir angeblich über unsere eigene Ernährung und das Erreichen eines gesellschaftlich erwünschten Körperbilds haben. Auch Nina Mackert zeigt anhand von Diätratgebern der 1920er-Jahre, wie sich Frauen durch das Unterwerfen unter ein neues Schlankheitsideal, das sich vom bisherigen Leitbild von Körperfülle als Zeichen von Wohlstand abgrenzt, selbst als handelnde Subjekte hervorgebracht haben. Gleichzeitig wurde so auch ein neues Bild der weißen Mittelklasse in den USA produziert – in Abgrenzung zu denjenigen, die diese Selbstdisziplin vermeintlich nicht aufbringen konnten.

Der Blick auf Diäten und Ernährungspolitiken mit Hilfe von Michel Foucaults Philosophie ist nicht neu.3 Aber Mackerts Arbeit gelingt es eindrücklich, die zentrale Wirkmacht der Kalorie als Subjektivierungsinstrument herauszustellen. Bis heute steht die Kalorie im Zentrum vieler gesellschaftlicher Konflikte, vor allem in Bezug auf Klasse und – das wird in diesem Clip auch besonders deutlich – Gender.4 Dabei offenbart sich ihre Wirkkraft in der Frage, wie sie die Konstruktion legitimer Bedürfnisse beeinflusst: Welche Ernährungsmodelle sind angemessen? Welches Maß an Unterernährung ist aushaltbar? Welches als Diät hilfreich und gesund? Welche Überversorgung an Nährstoffen ist vertretbar? Welche ist ungerecht?

Und nicht nur das; der aktuelle Konflikt in Israel und in Gaza, bei dem die Frage nach der ausreichenden Ernährung der palästinensischen Bevölkerung durch Israel und die Vereinten Nationen zunehmend in den Fokus gerät,5 lässt erkennen, welche entscheidende Rolle der Kalorie bei Verteilungsfragen zukommt. Auch in Folge des Klimawandels ist mit einer wachsenden Bedeutung der Kalorie als Maßzahl zu rechnen. So werden in den kommenden Jahrzehnten die Konflikte zunehmen, in denen Verteilungsfragen in Bezug auf Nahrungsmittel im Fokus stehen.6 In Zukunft könnte die ursprüngliche Rolle der Kalorie zur Festlegung einer überlebensnotwendigen Ration an Lebensmitteln also wieder stärker zum Tragen kommen.

References

  1. United States War Department (1945): Strictly personal, in: United States National Library of Medicine [https://collections.nlm.nih.gov/catalog/nlm:nlmuid-9422795-vid] (letzter Zugriff: 03.04.2024).
  2. Mackert, Nina (2018): No Chocolate Creams – Subjektivierung und die Klassenpolitik der Kalorie in den USA der Progressive Era, in: Norman Aselmeyer und Veronika Settele (Hrsg.): Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne, Berlin: de Gruyter, S. 295–322.
  3. Turner, Bryan S. (1982): The Government of the Body: Medical Regimens and the Rationalization of Diet, in: The British Journal of Sociology, Bd. 33, Heft 2, S. 254–269.
  4. Schmechel, Corinna (2016): Calorie Counting or Calorie Tracking – How Quantified Self Transforms Feminized Bodily Practices Into New Ways of Performing Masculinity, in: Stefan Selke (Hrsg.): Lifelogging – Digital self-tracking and Lifelogging – between disruptive technology and cultural transformation, Wiesbaden: Springer VS, S. 267–282.
  5. World Food Programme (2023): Ernährungssystem in Gaza kollabiert: WFP warnt vor eskalierendem Hunger [https://de.wfp.org/pressemitteilungen/ernaehrungssystem-gaza-kollabiert-wfp-warnt-vor-eskalierendem-hunger], 16/11/2023 (letzter Zugriff: 24.02.2024).
  6. Rüttinger, Lukas (2020): Klimawandel als Risikomultiplikator und Konflikttreiber, in: Bundeszentrale für politische Bildung – Kriege und Konflikte [https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/266613/klimawandel-als-risikomultiplikator-und-konflikttreiber/#node-content-title-0], 26/10/2022 (letzter Zugriff: 03.04.2024).

SUGGESTED CITATION: Meppelink, Till: We are what we eat! Das produktive Moment der Kalorie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/we-are-what-we-eat/], 23.05.2024

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20240523-0830

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