Abstract zu: Auswählen, bearbeiten, adressieren
Literarische Texte unterliegen impliziten und expliziten (Be-)Wertungen, die formen, was wir unter ‚Literatur‘ verstehen. Maßgebliche Instanzen dieser Aushandlungen waren lange Zeit vor allem die kritische und die philologische Kommunikation. Bevor deren kritisches Besteck jedoch zum Einsatz kommt, sind Texte aus einer Vielzahl von Texten ausgewählt und diese Texte zu Büchern und Werken gemacht worden. Innerhalb des modernen literarischen Felds oblag diese Vorsortierung (und Bearbeitung) in erster Linie Akteur*innen aus dem Verlagskontext, den Lekor*innen, den Scouts und Berater*innen der Verleger*innen, in jüngerer Zeit den Agent*innen. Autorschaft war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor allem „Verlagsautorschaft“.1 Allerdings ist die öffentliche wie die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für diese Filter- und Rahmungsaktivitäten auf der Hinterbühne des Literaturbetriebs bis heute nur schwach ausgeprägt.
Am Beispiel des literarischen Lektorats fragt dieser Beitrag danach, was es aus Verlagsperspektive braucht, um ein Manuskript publikationsfähig scheinen zu lassen: Wie wird zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Texten unterschieden? Wer trifft diese Entscheidungen? Und wie werden künftige Publika eines Buchtitels vorgestellt und adressiert?
Aufschluss hinsichtlich der uns hier interessierenden Fragen verspricht der Blick auf das Lektorat deshalb, weil es sich um einen Schauplatz handelt, an dem öffentliche Bewertungs- und Lektürepraktiken und -maßgaben mit den individuellen Herstellungsdynamiken von Texten aufeinanderprallen und sich mischen, wo sich marktstrategisches Kalkül, kreative Arbeit am Text und literarische Netzwerk- und Vermittlungstätigkeiten verbünden.
Textpraktiken des Lektorats sind durch ein spezifisches Moment gekennzeichnet: Das Vermögen zwischen teils diametral verschiedenen Leser*innenrollen und -perspektiven wechseln zu können. Die Mittlerinstanz Lektorat wurde als „Chamäleon“2 bezeichnet: Wie ein Verlagsleiter liest das Lektorat Manuskripte auf ihre Möglichkeiten hin, kulturelles und/oder ökonomisches Kapital zu stiften und prüft ihre Passfähigkeit ins Verlagsprogramm. Wie der*die Autor*in liest das Lektorat Texte auf ihre Verbesserungsfähigkeit hin, macht Vorschläge, arbeitet Texte stilgerecht – d. h. im Stil des*der Autor*in – um. Wie die künftigen, in der Mehrheit nicht professionell ausgebildeten Leser*innen liest das meist literaturwissenschaftlich sozialisierte Lektorat bei entsprechender Ausrichtung des Verlags Texte auf ihren Plot, ihre Figuren, ihre Identifikationsangebote hin.
Was tun Lektor*innen, wenn sie über Texte entscheiden und was tun sie, um den unwahrscheinlichen Fall einer positiven Publikumsresonanz zu erhöhen? Wie Clayton Childress für den angloamerikanischen Literaturbetrieb herausarbeitete, werden Entscheidungen für oder gegen die Annahme eines Textes von Lektoratsseite mehrheitlich mit individuellem Interesse begründet. Der eigene Enthusiasmus ist das, was Lektor*innen ‚ihrem‘ Text mitgeben können, um den prekären Status eines Manuskripts zwischen Autor*in und Öffentlichkeit abzusichern und eine positive Resonanz wahrscheinlicher zu machen.
Verlage wenden verschiedene Verfahren an, um Leseschaften zu ‚testen‘ und den Übergang von der Welt der Produzierenden in diejenige der Rezipierenden zu moderieren. Jenseits von Genreliteratur allerdings bleibt die tatsächliche Aufnahme von Literatur weitgehend unkalkulierbar. Gefordert scheint daher vor allem ein gekonnter Umgang mit dem Unabsehbaren. Der Job des Lektorats besteht zu nicht unwesentlichen Teilen darin, die mit dem Veröffentlichtwerden verbundene Unsicherheit einzudämmen, um dem*der Autor*in einen Zugewinn an (vermeintlicher) Sicherheit und Kontrolle zu ermöglichen. Dies etwa, indem Lektor*innen ihre Erfahrungswerte darüber ins Spiel bringen, wie vergleichbare Titel – im englischsprachigen Raum als sogenannte ‚comp titles‘ bezeichnet – aufgenommen wurden. Aber auch, indem Lektor*innen Autor*innen dabei unterstützen, passende Adressat*innen für ihr Schreiben zu entwerfen – oder aber dabei, die strategische Ausrichtung des auktorialen Schreibens auf eine Leseschaft hin zu verschleiern.
Anders als rezeptionstheoretisch oft postuliert, sind es jenseits konzeptueller ‚impliziter Leser‘ (Wolfgang Iser) oder ‚Modell-Leser‘ (Umberto Eco), vielerorts konkrete, empirische Erstleser*innen wie Lektor*innen, deren erwartete Lektüreweisen in den auktorialen Produktionsprozess einbezogen werden. Der Job des Lektorats, auf den sich die Erwartungen des*der Autor*in beziehen, besteht wiederum darin, diejenigen Erwartungen in den Publikationsprozess einzubringen, die man als vorgestellte Resonanz – oder als unterstellte Leseschaft – bezeichnen könnte.
Die Langfassung dieses Beitrages in der Reihe „Unterstellte Leseschaften“ finden Sie hier.
References
- Tobias Amslinger: Verlagsautorschaft. Enzensberger und Suhrkamp. Göttingen 2018.
- Momo Evers: „Handwerk, Geld und Leidenschaft.“ In: Gunter Nickel (Hg.): Krise des Lektorats? Göttingen 2006, S. 78–92, hier S. 82.
SUGGESTED CITATION: Barner, Ines: Abstract zu: Auswählen, bearbeiten, adressieren. Lektorat und Lektüreerwartungen, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/abstract-zu-auswahlen-bearbeiten-adressieren/], 24.05.2021