Abstract zu: Everyone’s a Critic
Die Autorität des etablierten Rezensionswesens, das vor allem in klassischen Print-Publikationen stattfindet, wird seit einiger Zeit herausgefordert. Die Explosion digitaler Publikationsmöglichkeiten führt dazu, dass das Monopol dieses Rezensionswesens auf ästhetische Werturteile infrage gestellt wird. So kommt es immer wieder vor, dass Künstler*innen, die mit einer Besprechung ihrer Werke nicht einverstanden sind, ihre Gefolgschaft in den Sozialen Medien mobilisieren, um der unliebsamen Einschätzung ein digitales ästhetisches Plebiszit entgegenzusetzen. Dieses Phänomen verweist auf den allgemeinen Prozess einer Emanzipation der Rezipient*innen, die sich aktiv am Austausch über ästhetische Streitfragen beteiligen können. Alternative Plattformen für diesen Austausch wie die Social Reading Formate Goodreads oder Lovelybooks haben sich gebildet. Zudem laden Rezensionsmöglichkeiten auf Amazon oder Metacritic nicht-professionelle Rezipient*innen dazu ein, eigene ästhetische Urteile öffentlich zu teilen.
Dieser Umstand führt bei den etablierten Gatekeepern für eine gewisse Nervosität, da die neue publizistische Infrastruktur dazu geführt hat, dass etablierte Kritik und Laienkritik immer öfter gegeneinander stehen. Die Kontroverse über den Roman Stella von Takis Würger etwa hat eine solche Frontstellung deutlich gemacht. Während das Buch in den etablierten Feuilletons einhellig verrissen wurde, war das Publikum auf Amazon größtenteils entzückt. In die Wortmeldungen auf der Plattform mischte sich nach und nach auch eine deutliche Irritation über die schlechten Kritiken in den Medien – eine Irritation, die immer mehr den Charakter einer offenen Verteidigung des Autors annahm. Schließlich meldete sich auch eine Gruppe von Buchhändler*innen zu Wort, um das Vergnügen des Publikums an dem Roman gegen die angeblich vernichtende Autorität der etablierten Kritik zu verteidigen.
In diesen Konflikten werden verschiedene Formen der wertenden Haltung zu populärer Kunst gegeneinander ausgespielt. Auf der einen Seite die emotionalen Fans, die vor allem persönliche Bedürfnisse mit der Bewertung verbinden, auf der anderen Seite die Kritiker*innen, die ihre Autorität mit einer gewissen analytischen Distanz begründen. In diesem Kontext werden traditionsreiche historische Topoi einer Gegnerschaft von Publikum und Kritik reaktiviert. Wenn Künstler verlangen, dass Kritiker*innen gefeuert werden sollen, weil sie selbst nichts von Kunst verstehen, dann steht dahinter etwa die Vorstellung vom unproduktiven Kritiker – ein fester Bestandteil der Konfliktgeschichte des ästhetischen Urteilens. Was sich in der Gegenwart beobachten lässt, ist die Radikalisierung dieser Konflikte im Angesicht der digitalen Revolution. Allerdings sind die Voraussetzungen für diese Konflikte nicht allein die neuen technischen Möglichkeiten, sondern auch der Zusammenbruch der konstruierten Grenze zwischen Populär- und Hochkultur, die den Autoritätsverlust der etablierten Kritik zusätzlich beschleunigt.
Die Langfassung dieses Beitrages in der Reihe „Unterstellte Leseschaften“ finden Sie hier.
SUGGESTED CITATION: Franzen, Johannes: Abstract zu: Everyone's a Critic. Rezensieren in Zeiten des ästhetischen Plebiszits, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/abstract-zu-everyones-a-critic/], 07.06.2021