Lukas Schepers

Adornos unter Tage II

Adornos unter Tage II Die Mannesmann-Studie zum „Betriebsklima“ als wissenschaftspolitisches Lehrstück Von: Lukas Schepers

Gewerkschaftsfeindliche Instrumentalisierung der Ergebnisse

Der erste Teil dieses Beitrags endete damit, dass die Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung das initiale Misstrauen der Betriebsräte durch eingehende Überzeugungsarbeit überwinden konnten. Die Studie konnte nach dem „Waffenstillstand“ entsprechend anlaufen. Dass die Wege zur Erkenntnis dabei bereits vorgezeichnet waren, wird aus einer Notiz aus dem Feldtagebuch deutlich, die Johannes Platz nur beiläufig zitiert. Nach den Anlaufschwierigkeiten betonte der Prokurist Günter Geißeler nochmals, was er beim ersten Treffen im Frankfurter Institut gesagt hatte, nämlich dass „weiterhin geklärt werden müsse, was die Arbeiter wirklich wollten“. Allerdings ergänzte er diese Absicht jetzt durch zwei konkret benannte Optionen: „Nur möglichst gute Löhne und Kontrollfunktionen gegenüber den Unternehmern oder Einfluss auf technische und kaufmännische Entscheidungen.“1 Die dahinterstehende Logik lässt sich wie folgt paraphrasieren: Wenn nur Löhne und Kontrollfunktion das Begehren der Arbeiter darstellen, dränge sich die Gewerkschaft in eine Machtposition, die nicht von unten her legitimiert ist. Nur wenn die Arbeiter explizit Einfluss auf technische und kaufmännische Entscheidungen ausüben wollten, wären die politischen Bestrebungen der Gewerkschaften legitim. Das dünkelhafte Kalkül wird ganz deutlich, wenn man sich vereinfachend fragt, was der durchschnittliche Bergarbeiter wohl lieber hätte: höhere Löhne oder mehr kaufmännische Verantwortung?

Im Rahmen der Auswertung der Interviews und Gruppendiskussion stellte die Forschergruppe in einer Sitzung am 1. November 1954 entsprechend fest, „daß die Arbeiter an dem Problem der Mitbestimmung völlig desinteressiert“2 seien. Gemeint ist damit jedoch kein Desinteresse an Mitbestimmung in seinem Wortsinn, sondern eher ein Desinteresse an der Mitbestimmung in juristischem Sinne, also an den gesetzlichen Institutionen der Mitbestimmung (Vorstand und Aufsichtsrat). Jenes Desinteresse wird in der Studie daraus geschlussfolgert, dass viele der Arbeiter den Namen des Arbeitsdirektors nicht kennen und noch nie mit ihm gesprochen hatten. Adorno gab in der internen Sitzung der Forschergruppe zu bedenken, dass das Desinteresse weniger mit mangelndem politischem Interesse zu tun habe, sondern viel eher damit, dass die Probleme der Mitbestimmung zu abstrakt seien:

Wenn man zeigen kann, daß das ‚Desinteressement‘ der Arbeiter durch die Arbeitssituation erzwungen ist, kann man […] dem Fehlschluss der Arbeitgeberseite begegnen, daß Nicht-Wissen mit Nicht-Wissen-Wollen gleichzusetzen ist. […] Wichtig für die gesamte Auswertung ist die Frage, wieweit die Arbeiter überhaupt in der Lage sind, das Gedachte oder Empfundene zu verbalisieren […].

Hierin liegt zwar eine Distanzierung von der naheliegenden Interpretation der Studie durch die Arbeitgeberseite, aber das sprichwörtliche Kind war bereits in den Brunnen gefallen. Wäre dieser kritische Gedanke bereits in die Konzeption der Studie eingegangen, wäre sie im Ergebnis vielleicht gar nicht beim Desinteresse herausgekommen. So blieb der kritische Einwand Adornos im Gegensatz zu den durch praktische Forschung beförderten Erkenntnissen bloße Theorie. An den Ergebnissen der Erhebungen ließ sich im Nachhinein nur noch schwerlich etwas ändern.

Der Vorstandsvorsitzende Hermann Winkhaus präsentierte die Ergebnisse bei einer Konzerntagung am 14. Januar 1955 in einer denkbar ungünstigen Situation. Drei Tage zuvor hatte Hermann Reusch, Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, in der Arbeiterschaft für Empörung gesorgt, als er im Rahmen der Debatten um die Ausweitung der Mitbestimmung auf die Holding-Gesellschaft das Montanmitbestimmungsrecht als solches infrage stellte: „Das Mitbestimmungsgesetz für Eisen und Kohle ist das Ergebnis einer brutalen Erpressung der Gewerkschaften. Es ist in einer Zeit durchgesetzt worden, in der die Staatsgewalt noch nicht gefestigt war.“3 Als Reaktion hierauf traten am 21. und 22. Januar 820.000 Arbeiter in den Streik. Zwar war Reusch das Hauptziel der gewerkschaftlichen Kritik, aber Winkhaus wurde ebenfalls in den Konflikt hineingezogen. War der Auftrag für die Studie vergeben worden, um Meinungen wie die von Reusch in wissenschaftlich zu untermauern, erfolgte die Präsentation ihrer Ergebnisse gerade am Höhepunkt des Kampfes um die Ausdehnung des Mitbestimmungsgesetzes.

In seiner Rede griff Winkaus ebenso wie Reusch das Mitbestimmungsrecht direkt an. Aus den Studienergebnissen schlussfolgert er, dass die Belegschaft unter Mitbestimmung die Mitgestaltung des für sie überschaubaren Bereichs des eigenen Betriebs verstand. Die Gewerkschaft denke

zuviel an den Einfluss auf die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Der einzelne Arbeiter dagegen hofft auf eine Verbesserung der betrieblichen Verhältnisse, auf stärkeren Einfluss im Betrieb und damit auf die Anerkennung seiner Arbeit und seiner Person. Die Untersuchung zeigt uns deutlich: wir, die Leiter unserer Betriebe und Unternehmen, haben es in der Hand, vieles zu verbessern. Wir dürfen die berechtigten Forderungen unserer Belegschaft nicht enttäuschen. Wir sollten die Führung übernehmen, auf dem Weg zu einer Mitbestimmung, wie sie unsere Belegschaft erwartet.4

Die Unternehmer können also eher das realisieren, was die Arbeiter unter Mitbestimmung verstehen, als die Gewerkschaften. Auch er betonte, ebenso wie Adorno, „dass Unkenntnis der Mitbestimmung nicht mit mangelndem Interesse an der Mitbestimmung zu verwechseln“ sei.5 Allerdings sah er die Ursache dafür nicht wie der kritische Theoretiker in den Arbeitsverhältnissen. Für Winkhaus war der Wunsch nach Mitbestimmung – wenig überraschend – identisch mit dem Wunsch nach jenem ominösen guten Betriebsklima, das eben nicht durch betriebsübergreifende und damit betriebsferne Gewerkschaften, sondern nur durch höhere Löhne, bessere Vorgesetzte und soziale Leistungen hergestellt werden könne.

Praxis entwaffnet Theorie?

Die Studie wurde vom Unternehmen genutzt, um dem Mitbestimmungsgesetz und Gewerkschaftspolitik allgemein die Legitimität abzusprechen. Das Institut stellte durch einen Artikel von Max Horkheimer in der Frankfurter Deutschen Zeitung mit Wirtschaftszeitung auch seine Sichtweise auf die Ergebnisse dar, die sich laut Johannes Platz wie eine „Distanzierung von der betriebsoffiziellen Interpretation“ liest.6 Horkheimer beschreibt ohne Nennung des Namens die von Hermann Winkhaus unternommenen Spaltungsversuche. Der allgemein-anonym gehaltene „Arbeitgeber“ versuche, die Gewerkschaften unter dem Vorwand der Betriebsfremdheit gegen den Betriebsrat auszuspielen. Ferner betonte Horkheimer ausdrücklich, dass die Ergebnisse der Studie interpretationsoffen seien. Aus der Unkenntnis der Arbeiter über die Mitbestimmung könne man entweder ableiten, dass sie obsolet sei, oder eben, dass sie noch weiter ausgebaut werden müsse.

Die zentrale Erkenntnis, dass die Arbeiter nichts über die Mitbestimmung wissen, stand nun beiden Seiten gleichermaßen zur Verfügung und hätte zum Gegenstand eines hegemonialen Ringens um Interpretationshoheit werden müssen. Sie wurde jedoch – soweit es durch die Untersuchung von Platz deutlich wird – prominent nur von der Unternehmerseite ins Feld geführt. Der Gewerkschaft war es scheinbar nicht gelungen, die durch die Studie festgestellte Unwissenheit der Arbeiterschaft in Mitbestimmungsfragen für ihre Absichten zu ihrer Ausweitung produktiv zu machen. Nachvollziehbar ist dies insofern, als dass die Anerkennung der Unwissenheit in der Arbeiterschaft gleichzeitig ein Eingeständnis der mangelhaften Kommunikation bedeutet hätte – eine knifflige Ausgangssituation für einen argumentativen Gegenangriff. Das Unternehmertum hatte wesentlich leichteres Spiel, da sie die mangelnde Kenntnis der Arbeiterschaft naheliegenderweise als Problem der Gewerkschaft auslegen konnte.

Insgesamt ergibt sich ein in vielerlei Hinsicht widersprüchliches Bild. Institutionelle Träger der Mitbestimmung werden von Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung der Arbeiterfeindlichkeit bezichtigt, während diese wiederum eine Studie erarbeiten, die von den Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann-AG zu gewerkschaftsfeindlichen und die Arbeiterbewegung spaltenden Äußerungen instrumentalisiert wird. Das Institut wirkte durch Horkheimers Artikel dieser Auslegung der Ergebnisse zwar entgegen, aber konnte sich gegen den interpretativen Fehlschluss nicht wirklich zur Wehr setzen. Adornos Bedenken belegen, dass sie dies durchaus hatten kommen sehen. Es stellt sich deshalb die Frage, wieso das Institut für Sozialforschung den Auftrag überhaupt angenommen und die Studie durchgeführt hat.

Hierfür nennt Johannes Platz drei Gründe. Zunächst deckte sich das Forschungsvorhaben im weitesten Sinne mit dem Interesse des Instituts: Es ging schließlich um Vorstellungen von Arbeitern und Autoritätsverhältnisse und die Analyse eines zu jener Zeit prominent gebrauchten Begriffs, des ‚Betriebsklimas‘. Zweitens wollte das Institut sich fachlich innerhalb der aufblühenden Industriesoziologie positionieren. Die Studie sei Platz zufolge das „Eintrittsbillet zu diesem Forschungsfeld“7 gewesen und wirkte auch tatsächlich als solches. Das Institut war in der Folgezeit für den Arbeitskreis Industriesoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Art Fixpunkt und zog durch die Betriebsklima-Studie eine weitere industriesoziologische Studie über das Fluktuationsproblem im Bergbau an Land – diesmal finanziert vom Bundesministerium für Arbeit, aber deshalb nicht weniger konfliktgeladen. Die Finanzierung weiterer Forschung durch den Staat führt zum dritten Grund für die Auftragsübernahme. Denn zu Beginn der 1950er-Jahre war das Institut vor dem Hintergrund rückläufiger Finanzierung von Wissenschaftsprojekten durch amerikanische Stiftungen zunehmend auf die Akquise von Drittmittelprojekten angewiesen. „Bei der Akquirierung [von Drittmitteln] ging es schlicht um die Voraussetzung, kritische Theorie überhaupt betreiben zu können“, so Platz.8

Offenbar hegten die Vertreter der Kritischen Theorie jedoch auch über die Finanzierungsnotwendigkeit hinaus den Wunsch, zumindest dem Anspruch nach Theorie und Praxis zu verbinden.[ix] Wenn sie das tun wollten, waren sie auf Geld angewiesen, und dieses Geld war naheliegenderweise in der Industrie zu finden, wie Adorno und Horkheimer im US-amerikanischen Exil gelernt hatten. In dem Moment jedoch, wo das Interesse von Dritten sich in die Forschung mischte, wurde die Integrität des Instituts auf die Probe gestellt. Die Absicht der Wissenschaftler, das Geld der Unternehmer zu instrumentalisieren, um kritische Forschung zu betreiben, geriet in Konflikt mit der Absicht der Unternehmer, eben jene Forschung zu instrumentalisieren, um politisch opportune Argumente zu generieren.

References

  1. Archiv des Instituts für Sozialforschung, A 10 (Betriebsuntersuchung Mannesmann), Ordner 3.38, Tagebuch der Erhebungsarbeit, S. 18. Zit. n. ebd., S. 323.
  2. Archiv des Instituts für Sozialforschung, A 10 (Betriebsuntersuchung Mannesmann), Ordner 1.1, Protokoll der Besprechung vom 1.11.1954, [Frankfurt/Main], 1.11.1954, S. 2. Zit. n. ebd., S. 333.
  3. Zit. n. ebd., S. 345.
  4. Die Rede von Winkhaus zitiert Platz nach der hektographierten Fassung des Redemanuskripts im Mannesmann Archiv. M 21.076, Winkhaus o. T., 14.1.1955, hier S. 22, zit. n. ebd., S. 347.
  5. Ebd., S. 350.
  6. Ebd., S. 356.
  7. Ebd., S. 371.
  8. Ebd., S. 370.
  9. Dieser Gedanke realisiert sich letztlich erst in einem Buch von Ludwig von Friedburger, der in Reflexion mehrerer empirischer Sozialstudien aus industriellen Großbetrieben gewinnbringende Schlussfolgerungen zieht. Vgl. von Friedburger, Ludwig (1963): Soziologie des Betriebsklimas. Studien zur Deutung empirischer Untersuchungen in industriellen Großbetrieben, hg. v. Theodor Adorno u. Walter Dirks, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt.

SUGGESTED CITATION: Schepers, Lukas: Adornos unter Tage II. Die Mannesmann-Studie zum „Betriebsklima“ als wissenschaftspolitisches Lehrstück, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/adornos-unter-tage-ii/], 12.06.2024

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20240612-0830

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