Chris KatzenbergPixelprojekt+City Scripts

Alltäglich vertraut und doch leicht zu übersehen

Alltäglich vertraut und doch leicht zu übersehen Cornelia Wimmers „Dortmunder Schulhöfe“ zwischen Bildungs- und Stadtraum Erschienen in: Pixelprojekt+City Scripts Von: Chris Katzenberg

[Dieser Beitrag erscheint in der Reihe „City Scripts trifft Pixelprojekt_Ruhrgebiet“, einer Kooperation des KWI-Blogs, dem Leiter des „Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ Peter Liedtke (DGPh) und Autor*innen des Forschungskollegs City Scripts, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit Bildserien des Pixelprojekt_Ruhrgebiet  auseinandersetzen.]

Wenig spektakulär kommen sie auf den ersten Blick daher, die Dortmunder Pausenhöfe, welche die Fotografin Cornelia Wimmer – selbst jahrzehntelang Gesamtschullehrerin – zwischen den Jahren 2012 und 2014 auf siebenunddreißig Farbfotografien festgehalten hat. Mit dem denkbar prosaischen Titel „Dortmunder Schulhöfe“ versehen, ist Wimmers Bildserie ein Teil des lebenden Fotoarchivs „Pixelprojekt_ Ruhrgebiet“ in der Kategorie „Stadt/Architektur“. Dieses Unterfangen will als „fotografisches Gedächtnis“ vielschichtige Erfahrungen und Erinnerungsorte der Ruhrregion in Bildern festhalten.

Von der Grundschule bis zum Gymnasium, von der Förderschule bis zur Berufsschule zeigt Wimmers Fotoserie anhand des Standorts Dortmund eine Art Querschnitt der Schullandschaft des Ruhrgebiets ausgehend von ihren Schulhöfen. Während die Jahreszeiten und Aufnahmewinkel von Bild zu Bild wechseln, bieten die abgebildeten städtischen Bildungsräume doch auffallend viele Gemeinsamkeiten: weiträumige, größtenteils flache Plätze mit einem Belag aus Beton, Pflastersteinen oder Erde prägen die Kameraeinstellungen, durchsetzt mit einzelnen Bäumen oder Sträuchern; gelegentlich gibt es auch Rasenflächen oder eingefasste Beete. Häufig abgebildet finden sich auch schlichte Sitzgelegenheiten, Mülleimer und ähnliche Elemente alltäglicher städtischer Infrastruktur, und bleiben dennoch leicht zu übersehen in ihrer trivialen Vertrautheit.

Abb. 1: Ziemlich typisch: Wimmer eröffnet ihre Fotoserie mit einem Bild des Schulhofs der Beruflichen Schulen Hacheney (© Cornelia Wimmer). https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/bild/2783/serie_1800/0001_cornelia_wimmer_dortmunder_schulhoefe_pixelprojekt-ruhrgebiet.jpg

Robuste Spielgeräte in bunten Farben brechen auf einigen Fotos die graue Monotonie der Bebauung und versprechen Abwechslung nach langem Stillsitzen im Klassenraum, von Klettergerüsten mit Rutsche für die Jüngsten zu Tischtennisplatten und Basketballkörben.

Abb. 2: Spielgeräte, Bänke, etwas Farbe: Wimmers Fotografie des Schulhofs für die Primarstufe an der Tremoniaschule für Soziale und Emotionale Entwicklung (© Cornelia Wimmer). https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/bild/2785/serie_1800/0003_cornelia_wimmer_dortmunder_schulhoefe_pixelprojekt-ruhrgebiet.jpg

Einige Bilder zeigen auch witterungsbeständige künstlerische Installationen oder Denkmäler, von der abstrakten Betonskulptur aus geometrischen Formen an der Sporthalle einer Berufsschule am Brügmannplatz zur blau-rot gestrichenen ausgedienten Bergbau-Lore auf dem Gelände einer Hauptschule am Externberg, die gleichzeitig die Leinwand eines (wohl nicht offiziell als Kunstwerk deklarierten) Graffiti Tags bildet. Diese Lore ist der vielleicht eindeutigste Standortmarker für das historische Ruhrgebiet auf den ansonsten eher universell Schulraum kodierenden Bildern Wimmers. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Zeichen für die alltägliche Überlagerung des Industriellen durch andere Lebensrealitäten nach Jahrzehnten des Strukturwandels, inklusive regionaler Adaptionen angloamerikanisch-geprägter urbaner Kunst und Jugendkultur.

Abb. 3: Installation und Ruhrgebiets-Palimpsest: Eine blau-rot gestrichene Lore mit rotem Graffititag zeigt Wimmers Fotografie des Pausenhofs der Hauptschule am Externberg (© Cornelia Wimmer). https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/bild/2792/serie_1800/0010_cornelia_wimmer_dortmunder_schulhoefe_pixelprojekt-ruhrgebiet.jpg

Irgendwie selbstverständlich und vertraut wirkt das alles, und weckt bei vielen Betrachter*innen sicher Erinnerungen an den eigenen Schulalltag: Schüler*innen und Absolvent*innen der hier abgebildeten Lehranstalten verbinden zweifellos sehr konkrete Erinnerungen mit den gezeigten Plätzen. Doch auch für den Rest von uns, zumindest den in den letzten Jahrzehnten in Deutschland beschulten, fühlt es sich fast so an, als wären wir schon einmal dagewesen.

Der kurze Begleittext zu Wimmers Bildstaffel bringt das seltsam Unspezifische, beinahe Austauschbare aber gleichzeitig sehr Vertraute ihrer Dortmunder Fotografien auf den Punkt: Sachlich wird festgestellt, dass solche Schulhöfe ein „selbstverständliches, häufig wiederkehrendes und dabei fast übersehenes Element unserer städtischen Umwelt“ bilden. Eine Beschreibung, die die scheinbar widersprüchlichen Charakteristika dieses klassischen Außenbereichs der Schularchitektur gut trifft. Das serielle Format, in dem Wimmer ihre Motive abbildet, macht diese disparaten Qualitäten in einer seltsamen Gleichzeitigkeit visuell erlebbar – selten sehen wir sonst so viele Schulhöfe in unmittelbarer Folge, mit ihren zahlreichen Ähnlichkeiten und kleinen Differenzen. Außerdem rufen diese Fotografien in vielen Betrachter*innen wohl assoziativ eigene Erinnerungen an vertraute Schulhofarchitektur wach, die mental die Serie noch um einige Bilder verlängern.

Wimmers architektonische Fotomotive sind zudem irritierend menschenleer: Vielleicht ist das nur so, um das komplizierte Einholen von Fotogenehmigungen von Eltern zu umgehen – jedenfalls inszenieren die Fotografien durch ihre Leere einen beinahe entfremdenden Blick auf den eigentlich doch so vertrauten Raum Schulhof. Die Leere scheint dem Zweck eines Orts zu widersprechen, der schließlich dafür gebaut ist, um Platz für Trauben von Schüler*innen, Bewegung und Erholungsaktivitäten zu bieten – und natürlich, um Lehrkräften bei alldem noch die Aufsicht zu ermöglichen. Aktuell weckt die Abwesenheit von Menschen auf Wimmers Bildern potenziell auch frische Erinnerungen an die Phasen leerer Schulen während der Coronapandemie.

Schulhöfe, wie sie Wimmer dokumentiert, und Räume der Schuldbildung überhaupt, haben in den letzten Jahren auch in der Forschung verstärkte Aufmerksamkeit erhalten: Die Bildungswissenschaften haben ihren eigenen „spatial turn“ durchlaufen, eine Hinwendung also zur Kategorie des Räumlichen als historisch gewachsene soziale Realität, die daraufhin zu erforschen ist, wie sie menschliche (Bildungs-)Handlungen prägt und von ihnen geprägt wird.1 Entsprechend stellt die Bildungswissenschaftlerin Dorle Klika fest, dass seit der Jahrtausendwende „Fragen der Schularchitekur international vermehrt diskutiert“ werden, etwa im Kontext von Reformvorhaben.2

Klika untersucht 2012 selbst phänomenologisch die Rolle des Raums Schulhofs für Schüler*innen am Beispiel der Stadt Siegen: So versucht sie zu rekonstruieren, „was auf dem Schulhof geschieht und wie die objektiven Eigenschaften des Raumes die subjektiven Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen und deren Gruppenaktionen beeinflussen”.3 Sie beginnt mit einer Analyse der Form der von ihr untersuchten und – ähnlich wie bei Wimmer – fotografisch dokumentierten Pausenhöfe, und entwickelt dazu differenzierte Beschreibungskategorien. Ihre erste Bewertung der Siegener Schulhöfe ist aber denkbar einfach: größtenteils seien dies „triste betonierte Flächen, die eher an Parkplätze […] erinnern“.4 Sie hält das für ein „Bild, wie es allerorten zu finden ist“ (ibid.) – einige Betracher*innen von Wimmers Fotografien mögen das auch für Dortmund bescheinigen. In jedem Fall ist Klikas Einschätzung plausibel, dass die tendenzielle Gleichförmigkeit der Schulhöfe, die auch Wimmers Bilder so klar abbilden, eine typische Eigenschaft der Schulhofarchitektur überhaupt sei, und das, obwohl es für sie nur einen dünnen Katalog von offiziellen Gestaltungsnormen gibt.5

Vieles, was Klika weiter ausarbeitet, würde den Rahmen dieses Blogeintrags sprengen. Es sei allerdings noch eine Einsicht aus ihrem Fazit angesprochen, die weniger augenscheinlich ist als das bisher Beschriebene: Die Wissenschaftlerin argumentiert plausibel, dass der Pausenhof „architektonisch, sozial und biographisch gesehen ein Grenzraum, ein Durchgangs- und Zwischenraum, in mehrfacher Hinsicht ein Raum der Übergänge” sei.6 Obwohl in ihm weniger strenge Regeln gelten als in der Klasse, sei er dennoch „durch Schulordnungen, Aufsicht und die Peers selbst institutionell strukturiert und deutlich ritualisiert”.7 Schließlich sei der Schulhof ein „Raum für den Übergang zwischen Innen (Gebäude, Flure, Räume) und Außen (Straße, Bushaltestelle, eigener PKW)”8 – und wohl nicht zuletzt auch zwischen dem Klassenzimmer als Kernraum schulischer Bildungsprozesse und dem das Schulgelände umgrenzenden Stadtraum, der als Bildungsraum vielerorts erst noch entdeckt wird.

Abb. 4: Baumgrenze: Eng aneinander drängen sich Schulhof und städtischer Wohnraum besonders sichtbar in Wimmers Fotografie der Brüder-Grimm-Grundschule (© Cornelia Wimmer). https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/bild/2788/serie_1800/0006_cornelia_wimmer_dortmunder_schulhoefe_pixelprojekt-ruhrgebiet.jpg

Angesichts dieser oft übersehenen Grenzbeziehung zwischen Schulhof und Stadt stellt sich auch allgemeiner die Frage nach der Rolle von Bildungsräumen in der Stadtentwicklung: Einen vertieften wissenschaftlichen Blick auf diesen Zusammenhang richtete Mitte der 2010er Jahre ein interdisziplinäres Team aus Stadtplaner*innen und Bildungswissenschaftler*innen der Technischen Universität Berlin und der Universität Siegen. Im Zusammenhang des DFG-Projekts „Lokale Bildungslandschaften und Stadtentwicklung“ leisteten sie Grundlagenarbeit für eine „neue, interdisziplinäre Betrachtung von Bildung und Stadtentwicklung”9. Das Projekt brachte zwei größere Publikationen hervor, zuerst den online frei zugänglichen Sammelband Stadtbaustein Bildung (2015) mit Beiträgen internationaler Stadt- und Bildungsforscher*innen und einiger Praktiker*innen.10 2017 publizierten die Forscher*innen dann das Buch Gebaute Bildungslandschaften, welches systematisch die Erkenntnisse aus ihrem Projekt darlegt. Mittels einer „Politikfeldanalyse“ stellt es die in den letzten Jahren weit verbreiteten politischen Forderungen nach kommunaler Bildungszusammenarbeit und der Integration von Stadt- und Bildungsentwicklung – in Fachkreisen oftmals als „kommunale Bildungslandschaft“ bezeichnet – empirischen Befunden gegenüber zur „bauliche[n] und pädagogische[n] Umsetzung“ derartiger Projekte in konkrete „sozialräumliche Bildungslandschaften“ in mehreren deutschen Städten.11

Mit dem Ende dieses DFG-Projekts sind interdisziplinäre Forschungen über das Zusammenspiel von Bildung, Stadtraum und Bebauung keineswegs zum Erliegen gekommen: Exemplarisch genannt seien hier neuere Arbeiten zur „baukulturellen Bildung,“ an denen eine der Wissenschaftlerinnen des obigen Projekts, die Berliner Stadtplanerin Angela Million, aktiv beteiligt ist. Bei dieser Sonderform der kulturellen Bildung geht es um die Anregung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen dazu, „Architektur, Design, Stadt und Landschaft – die gestaltete Lebensumwelt – mit allen Sinnen wahrzunehmen, zu entdecken und mitzugestalten”.12 Praxisnah arbeitet dies etwa das Handbuch der baukulturellen Bildung auf (2019),13 bei dem Million Mitherausgeberin ist.

Wenn also der Begleittext zu Cornelia Wimmers Bildserie im Pixelprojekt Schulhöfe als ein „fast übersehenes Element unserer städtischen Umwelt“ bezeichnet, wie eingangs zitiert, ist das lebensweltlich plausibel. In den kommenden Jahren könnte es aber zunehmend schwerer werden, dem aus Sicht der bildungs- und raumwissenschaftlichen Forschung ebenfalls zuzustimmen. Genau wie diese Arbeiten aktuell zu einer Neubewertung schulischer Sozialräume im Zusammenspiel von Stadt und Bildung beizutragen zu versprechen, geben Wimmers Fotografien die Gelegenheit, sich visuell und ästhetisch im konkreten Stadtraum des Ruhrgebiets mit diesen Verflechtungen   auseinanderzusetzen. Sie archivieren zudem – ganz im Sinne des Pixelprojekts als „fotografisches Gedächtnis“ – dokumentarisch den baulichen Charakter der Schulhöfe für zukünftige Betrachter*innen. Denn früher oder später werden auch diese Bilder nicht mehr den Eindruck selbstverständlicher Vertrautheit erzeugen, der sich aktuell noch so leicht aufdrängt.

References

  1. Nugel, Martin (2016): „Stichwort: Bildungsräume – Bildung und Raum.“ In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften. 19,1. S. 9–29, https://doi.org/10.1007/s11618-015-0662-2.
  2. Klika, Dorle (2012): „Der Schulhof als Lebens- und Erfahrungsraum – Ort der Widersprüche, der Freude, des Schmerzes.” In: Hildegard Schröteler von Brandt u.a. (Hrsg.). Raum für Bildung. Ästhetik und Architektur von Lern- und Lebensorten. Bielefeld: transcript. S. 245–254, https://doi.org/10.14361/transcript.9783839422052.245. S. 246.
  3. Ibid. Vgl. auch Klika, Dorle (2020): „Schulhof.“ In: Petra Bollweg u.a. (Hrsg.). Handbuch Ganztagsbildung. Wiesbaden: Springer VS. S.985–995, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23230-6_73.
  4. Klika, Schulhof, S. 247.
  5. Klika, Schulhof, S. 248.
  6. Klika, Schulhof, S. 252.
  7. Ibid.
  8. Ibid.
  9. https://www.uni-siegen.de/start/news/oeffentlichkeit/635193.html
  10. Thomas Coelen, Anna Juliane Heinrich, und Angela Million (Hrsg.), (2015): Stadtbaustein Bildung. Wiesbaden: Springer VS, 2015, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07314-5.
  11. Million, Angela u.a. (2017): Gebaute Bildungslandschaften. Verflechtungen zwischen Pädagogik und Stadtplanung. Berlin: Jovis Verlag.
  12. Edelhoff, Silke u.a. (Hrsg.), (2019): Handbuch der baukulturellen Bildung: Jugend Architektur Stadt. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin, http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-8252, S. 160
  13. Edelhoff u.a. (2019).

SUGGESTED CITATION: Katzenberg, Chris: Alltäglich vertraut und doch leicht zu übersehen. Cornelia Wimmers „Dortmunder Schulhöfe“ zwischen Bildungs- und Stadtraum, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/alltaglich-vertraut-und-doch-leicht-zu-ubersehen/], 01.06.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220601-0835

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