Annie Ernaux unterwegs (nach Leipzig)
Annie Ernaux genießt das Reisen nicht. Diesen Eindruck gewinnt, wer ihre Tagebücher liest, in denen sich die Schriftstellerin als Chronistin ihrer Ausflüge ins Ausland betätigt. Im Cahier de L’Herne, das der gleichnamige Verlag 2021 Ernaux gewidmet hat – in Frankreich bis heute ein publizistischer Ritterschlag – beschäftigt sich ein eigener Abschnitt mit den Reisen der Schriftstellerin. Frappierend an den bis dato unveröffentlichten Tagebuchauszügen ist nicht das Fernweh, das durch Abwesenheit glänzt, sondern die Frustration, die sich auf Ernaux’ Touren regelmäßig aufstaut. Südkorea 1994: Essen, dessen „Anblick und Geruch mich anwidern“, wie zum Beispiel Kimchi, nichts als „zusammengefallener, labbriger Kohl“.1 Ein Flug von Chicago nach Minneapolis im Mai 1990: „der Gipfel der Hoffnungslosigkeit“.2 Rumänien 1998: „Nie zuvor war mir eine viertägige Reise so endlos vorgekommen“, nun war sie endgültig im „Höllengrund der Auslandsreisen“ angelangt.3
Je größer die zurückgelegte Distanz, desto geringer die Ausbeute solcher Expeditionen. Zurückbehalten werden „bloße Bilder ohne wirkliche Bedeutung“.4 Ernaux, das sollte dazugesagt werden, unternimmt solche Exkursionen in den meisten Fällen nicht zu ihrem Privatvergnügen. Es sind Dienstreisen einer Schriftstellerin, was die Sache nicht besser macht: „Missions“ lautet der französische Begriff, der nur auf den ersten Blick Abenteuer vorgaukelt, weil sich unmittelbar dahinter der Auftragscharakter dieser Verschickungen offenbart. Residencies, Vorträge im Ausland an einer der zahlreichen französischen Kultureinrichtungen wie der Alliance française oder Gastprofessuren an einer angesehenen internationalen Universität – nur äußerst ungern und höchst selten lässt sich Ernaux auf solche Angebote ein. Darauf angesprochen, warum sie den Verlockungen der durchsubventionierten auswärtigen Kulturpolitik Frankreichs wenig abgewinnen kann, zitiert Ernaux ein Bonmot des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette (1930-2018): „C’est la façon la plus coûteuse de voyager gratis“.5
Die Teilnahme am offiziösen Reisezirkus mit seinen Empfängen, Diners, Podiumsdiskussionen, Plaudereien mit diversen Attachés und anderen Botschaftsmitarbeitern kommt die so Geehrten teuer zu stehen, gerade weil sie als kostenfreies Rundumsorglospaket daherkommt. Der Trubel zehrt an der Energie, schadet der Konzentration und wirft letztlich, so Ernaux, erstaunlich wenig literarisch verwertbares Material ab. Angestammter Ort des Schreibens und literarischen Schaffens bleibt für sie das Haus in Cergy, das sie mit dem Preisgeld erwarb, das ihr der Gewinn des Prix Renaudot beschert hatte. Dort bezieht sie ihr Quartier, von dort aus durchquert sie erinnernd, montierend, Verschüttetes bergend die Welt, der sie entstammt. Während exotische Locations bei Ernaux kaum etwas auslösen, entpuppt sich bereits der Supermarkt um die Ecke als unerschöpfliches Reservoir, aus dem sie ihre Texte schöpft.6 Mit ausschweifenden Reiseberichten aus der Feder der Klassenüberläuferin und Nobelpreisträgerin ist bis auf Weiteres also nicht zu rechnen.
Lediglich die italienischen Städte scheinen zu halten, was sie versprechen. In der Kollektivbiographie Die Jahre macht eine namenlose „sie“ mehrfach Halt in Rom, und sei es nur, um eine „Münze in den Trevi-Brunnen“ zu werfen und den „Wunsch“ zu formulieren, „bald wieder“ in die italienische Hauptstadt zu „kommen“.7 Nach Florenz unternimmt die Protagonistin in Eine vollkommene Leidenschaft einen Abstecher.8 Über die Jahre kehrt Ernaux, wohlgemerkt als Privatperson, immer wieder nach Venedig zurück, ganz im Bann der Nostalgie für die Stadt, die sie erstmals 1963 besuchte, und die Menschen, die sie einst dort liebte, so dass jede neue Stippvisite „Spaziergang“ durch eine „vorangegangene“ Reise wird.9 Stets aufs Neue tappt sie hingerissen in die „Falle“, die Venedig ihr stellt. Paradoxerweise kommt Ernaux in der Lagunenstadt zu sich, denn an diesem Ort verschwindet die „Welt“, es bleibt „nichts übrig“ als „man selbst“ und die „Erinnerung“.10 Ansonsten setzt Ernaux in ihrer literarischen Produktion so gut wie keinen Fuß außerhalb Frankreichs.
Zwar kommt sie in Erinnerung eines Mädchens auf ihre Au Pair-Zeit in England zu sprechen, aber das Geschehen in Finchley, einem Londoner Vorort, bleibt seltsam unterbelichtet und erfahrungsarm.11 Auf dem Weg dorthin, im Jahr 1960, begegnen wir im Zug zum Fährhafen in Boulogne-sur-Mer einer jungen Frau, der jede Neugierde fehlt: Sie erhofft „nichts von der Fremde, in die sie aufbricht“.12 Der Weg ins Ausland ist mit ungleich weniger Ängsten, aber auch Hoffnungen, verbunden als der Abschied vom Milieu, in dem die damals 19-Jährige aufwuchs. Mit untrüglichem Gespür für Klassengegensätze durchschaut ihr Vater die triste Wirklichkeit hinter dem verheißungsvollen Wort Au-pair: „Im Grunde warst du in England also ein Dienstmädchen.“13 Umgeben von einer anderen Sprache empfindet Ernaux unbändige „Lust“, wieder in die „eigene Sprache einzutauchen“.14 Ein Glück, dass auch eine Schulfreundin aus der Heimat zur gleichen Zeit den Ärmelkanal überquert hat. Die beiden bilden ein frankophones Gespann, das sich von seiner britischen Umwelt weitgehend abkoppelt. Die örtliche Bibliothek wird in erster Linie aufgesucht, um sich in Punkto französische Gegenwartsliteratur auf dem Laufenden zu halten. Kein Wunder, dass es Ernaux selbst im Rückblick nur unter Mühen gelingen will, sich mit dieser Phase ihres Lebens in Beziehung zu setzen, wie sie Jahre später, im Mai 1970, ihrem Tagebuch anvertraut. Ein Gefühl der Unwirklichkeit macht sich breit. „England, London, sedierend und sanft, ewig teichfarbenes Wasser, das Haus der Portners, darin alles gedämpft. Falls ich dort wirklich zwanzig Jahre alt gewesen sein soll, habe ich es nie bemerkt“.15 Im Leben eines jeden Menschen gebe es „ein no man’s land“, merkte Ernaux dazu in einem Interview an. Ihre Zeit in England gehört solch „undefinierbaren Bereichen“ an.16
Als 1989 eine Tour durch die Länder des zerbröckelnden Ostblocks ansteht, schraubt Ernaux ihre Erwartungen herunter und übt sich in präventivem Enttäuschungsmanagement. Sie bereut zunächst, der Einladung des Institut français in Leipzig überhaupt gefolgt zu sein.17 Doch einmal vor Ort hält sie ihre Impressionen der Wendestadt nicht nur in ihrem Tagebuch, sondern auch in einem inzwischen nur schwer zugänglichen zweisprachigen Sammelband fest, der unter der Schirmherrschaft des Instituts entsteht. Sie braucht weniger als zehn Seiten, um die Atmosphäre in Leipzig im November 1989 einzufangen, unmittelbar nach dem Mauerfall und vor der Wiedervereinigung. Besichtigt wird „eine Vergangenheit von vierzig Jahren Staatskapitalismus“ – „nicht von echtem Sozialismus“, wie Ernaux hinzufügt.18 Beobachtet werden Menschen, die ohne Wegweiser den langen Weg nach Westen antreten.
Der Autorin drängen sich Ähnlichkeiten zwischen ihrer individuellen Sozialisation und dem kollektiven Schicksal der Ostdeutschen auf. Neben den Augen macht sich als erstes Sinnesorgan die Nase bemerkbar. Der beißende Geruch der Braunkohleverbrennung, eine „Mixtur aus zu stark geröstetem Kaffee und brechreizerregenden chemischen Substanzen“, vergleichbar nur mit dem „fürchterlichen, süßlichen Duft“ der Erdölraffinerien unweit der französischen Industriestadt Le Havre.19 Ernaux schließt ihre Herkunft „als Kind aus fremdbestimmtem Milieu, das dann in die herrschende Schicht übergewechselt ist“ kurz mit der Geschichte eines Volkes, das „den Übergang zum ‚Westen‘ herbeigesehnt hat, gegenwärtig aber völlig orientierungslos“ ist.20 Der Anblick einer Frau bleibt ihr besonders im Gedächtnis haften. Die Rezeptionistin der Pension, in der Ernaux untergebracht ist, wirkt zunächst verstockt, unfreundlich, geradezu abweisend. Doch plötzlich ändert nicht die Frau ihre Haltung, sondern Ernaux ihre Sichtweise: Sie spürt die Angst vor den anstehenden Verwerfungen in der ostdeutschen Übergangsgesellschaft. Was bedeuten „die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen“ für diese Angestellte im Gastgewerbe? Kann sie überhaupt „anders darauf reagieren als angsterfüllt und mit einer Verhärtung all dem gegenüber, was neuerdings von ihr verlangt wird und das sie nur verschwommen wahrnimmt“?21
Der Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre hat mit Blick auf Sozialleistungen, Staatsquote und der zumindest nominellen Vorliebe fürs Egalitäre Frankreich einmal launig als eine Art „erfolgreiche UdSSR“ bezeichnet.22 Umgekehrt könnte man meinen, dass Annie Ernaux in Leipzig das ihr seit Kindertagen so vertraute Nordfrankreich im Niedergang wiederfand, dem nun endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ein Neuanfang? Möglich, aber keinesfalls gewiss. Fest steht nur eines, notiert Ernaux: Es war genau „der richtige Moment“ um nach Leipzig zu kommen, in jener „namenlosen Zeit zwischen zwei Gleichgewichtszuständen“.23
References
- Ernaux, Annie (2021). „Extraits inédits du journal“, in: Fort, Pierre-Louis (Hg.): Cahier Annie Ernaux, Paris : L’Herne, S. 379.
- Ebd., S. 361.
- Ebd., S. 371.
- Ebd.
- Ernaux, Annie und Jeannet, Frédéric-Yves (2021), „‚Qu’est-ce que ce moi qui voyage?‘. Entretien“, in: Cahier Annie Ernaux, S. 123.
- Ernaux, Annie (2014): „Dans le caddie d’Annie Ernaux“, in: France Culture, 28. März. Ernaux bemerkt in der Sendung: „Il m’arrive de voyager loin, et très bizarrement je n’en retire rien, alors qu’aller à l’hypermarché près de chez moi…“ Nachzuhören unter: https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/les-matins/dans-le-caddie-d-annie-ernaux-8318120.
- Ernaux, Annie (2017): Die Jahre, übersetzt von Sonja Finck, Berlin: Suhrkamp, S. 249.
- Ernaux, Annie (2004): Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination, übersetzt von Regina Maria Hartig, Goldmann, München: Goldmann.
- Ernaux, Annie (2021): „Extraits inédits du journal“, in: Cahier Annie Ernaux, S. 386.
- Ernaux, Annie (2021). „Extraits inédits du journal“, in: Cahier Annie Ernaux, S. 401.
- Auch die Handlung der bislang nicht auf Deutsch vorliegenden Novelle „La Fête“ spielt in England, inmitten einer Gruppe von Menschen mittleren Alters, die sich auf einer Party begegnen und ihre Beziehungen zueinander neu austarieren. So entsteht ein Raum, in dem sich die für Ernaux-Kenner nicht ganz so unerhörte Begebenheit, auf die das Ganze zusteuert, ereignen kann. Ernaux, Annie (2011). „La fête“, zunächst in: Le Monde, 14. Oktober 2006, wieder abgedruckt in: dies.: Écrire la vie, Paris: Gallimard, S. 919-923.
- Ernaux, Annie (2018): Erinnerung eines Mädchens, übersetzt von Sonja Finck, Berlin: Suhrkamp, S. 136.
- Ebd., S. 139.
- Ebd., S. 140.
- Ernaux, Annie (2011): „Extraits inédits du journal“, Mai 1970, in: dies., Écrire la vie, S. 46.
- Ernaux, Annie und Thomas, Lyn (2021): „‚La littérature anglaise a été ma vraie porte d’entrée en Angleterre’. Entretien“, in: Cahier Annie Ernaux, S. 346.
- Ernaux, Annie (2021). „Extraits inédits du journal“, in: Cahier Annie Ernaux, S. 370.
- Ernaux, Annie (1991): „Leipzig, kurzer Aufenthalt“, in: Augenblicke, Leipzig: Institut français, S. 23.
- Ebd., S. 24.
- Ebd., S. 29.
- Ebd., S. 26. Übersetzung modifiziert.
- Legendre, Pierre (2009). Vues éparses. Entretiens radiophoniques, Paris: Éd. Mille et une nuits, S. 63.
- Ernaux, Annie (1991): „Leipzig, kurzer Aufenthalt“, S. 30.
SUGGESTED CITATION: Scholz, Danilo: Annie Ernaux unterwegs (nach Leipzig), in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/annie-ernaux-unterwegs-nach-leipzig/], 06.02.2023