Eine neue Literatur der Arbeitswelt?
Mit der Dortmunder „Gruppe 61“ und dem 1970 gegründeten „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ wurden Fragen nach einer Literatur von arbeitenden und für arbeitende Menschen gestellt, die das nach Fritz Hüser benannte Institut im Ruhrgebiet weiterverfolgt:1 Hier beobachtet man aus einer längst über die Region hinaus erweiterten Perspektive, wie Arbeitswelten und Produktionsverhältnisse literarisch thematisiert werden können. Ein Beispiel dafür, wie sich künstlerisches Schreiben über Arbeit gerade verändert, hat vor kurzem die dänische Lyrikerin Olga Ravn vorgelegt. Ihr (zweiter) Roman De ansatte erschien im dänischen Original 2018 und wurde 2020 unter dem Titel The Employees ins Englische übersetzt und für die Shortlist des International Booker Prize nominiert. 2021 erschien Die Angestellten auch auf Deutsch. Bleibt man beim Titel, scheint sich Ravns Roman in die Gattungstradition des Büro- und Angestelltenromans einzufügen,2 die jene Bereiche abhängiger Lohnarbeit ausschließt, die am Fritz Hüser-Institut lange ins Zentrum gestellt wurden. Es ist in Ravns Fall dennoch berechtigt, von einer „Literatur der Arbeitswelt“ zu sprechen, weil ihr Text die Frage nach der Zukunft unserer Arbeit so grundsätzlich und raffiniert aufwirft, dass tradierte Unterscheidungen ins Wanken geraten.
Körperarbeit
Dies realisiert Ravns Text leicht erkennbar mit Mitteln der Science Fiction. In der Tradition dystopisch gezeichneter ‚schöner neuer Arbeitswelten‘ führt uns die Erzählung auf ein Raumschiff, auf dem Menschen und sehr menschenähnliche KIs zwischen der verlassenen Erde und anderen Planeten unterwegs sind. Der Roman besteht aus einer Sammlung aneinandergereihter, erratisch nummerierter „statements“, mit denen die Arbeitenden von einer nicht erkennbaren Leitung der Organisation dazu aufgefordert wurden, zu sinnlich anregenden Objekten Stellung zu nehmen, die Mitglieder der Crew auf einem fremden Planeten gefunden haben. Die Fundstücke lagern in verschiedenen Räumen des Raumschiffs und sorgen für stimulierend-störende Effekte. Ihr Geruch und ihre Texturen rufen Gefühle und Erinnerungen hervor, die Betriebsabläufe behindern könnten:
It’s not hard to clean them. The big one, I think, sends out a kind of a hum, or is it just something I imagine? Maybe that’s not what you mean? I’m not sure, but isn’t it female? The cords are long, spun from blue and silver fibres. They keep her up with a strap made out of calf-coloured leather with prominent white stitching. What colour is a calf, actually? I’ve never seen one. From her abdomen runs this long, pink, cord-like thing. What do you call it? Like the fibrous shoot of a plant, it takes longer to clean than the others. I normally use a little brush. One day she’d laid an egg. If I’m allowed to say something her, I don’t think you should have her hung up all the time. (13)
In diesem ersten Statement des Romans tauchen bereits viele Techniken der Verrätselung auf, auf die Olga Ravn bis zum Ende setzt. Durch diese Mittel verknüpft sich die Irritation der Berichtenden im Text mit der seiner Leser:innen: Während die Crew sich fragt, woher die Objekte stammen, ob sie organisch oder unorganisch, lebend oder tot sind, fragen wir uns über den gesamten Roman hinweg, wer zu wem spricht, wie die Erzählstimmen und ihre Adressat:innen aufeinander zu beziehen sind und wie wir überhaupt eine erzählte Welt konstruieren können. Dabei hilft uns Ravns Erzählsweise nicht, denn die sprechenden Figuren erhalten keine Namen; sie sind nicht eindeutig als menschlich oder nicht-menschlich, oder in anderer Hinsicht zu klassifizieren. Auch die in den Berichten direkt adressierte Leitung tritt nicht aus dem unbestimmten Raum hervor, den Ravn gerade nicht durch Eigennamen, geographische Hinweise oder deiktische Verbindungen zwischen den Berichten konkretisiert. Gleichzeitig ergeben die Statements aber doch ein sich ganz allmählich anreicherndes Bild einer Organisation, in der alle Prozesse auf die Kontrolle und Optimierung des Verhaltens der Arbeitenden ausgerichtet sind:
I’m very happy with my add-on. I think you should let more of us have one. It’s me and it’s not me at the same time. I’ve had to change completely in order to assimilate this new part that you say is also me. Which is flesh and yet not flesh. When I woke up after the operation I felt scared, but that soon wore off. Now I’m performing better than anyone. I’m a very useful tool to the crew. It gives me a certain position. (19)
Nicht nur geübte Leser:innen von Science Fiction werden in den dekontextualisierten Berichten des Romans nach Spuren von Widerstand durch Vergemeinschaftung der auch typographisch vereinzelten Crew-Mitglieder suchen. Solche Spuren finden sich im Romantext durchaus, wenn auch in homöopathischen Dosen: „The only thing I haven’t been able to get used to are the dreams.” (19) Im Verlauf des Textes erinnern sich einzelne Erzählende an eine Vergangenheit, die mit Eigenschaften des Planeten Erde verbunden scheint, an Geburten und Familien, an einstmals vertraute Orte. Wiederholt wird ein Dr. Lund genannt, der offenbar an der Entwicklung der Humanoiden beteiligt war und Tagebücher hinterlassen hat. Und es mehren sich in den Berichten die Anzeichen für einen Umschlag der Machtverhältnisse, für die Möglichkeit einer Meuterei, die spätestens in Statement Nr. 115 expliziert wird. Hier wendet sich die berichtende Stimme spiegelnd direkt an das anonyme Gegenüber, fordert es heraus und fordert Rechenschaft. Dies geschieht im Namen eines nicht mehr vereinzelten ‚Wir‘, das sich in subversiver Imitation die Sozialtechniken der Leitungsebene angeeignet hat:
You shouldn’t take it for granted that people agree to be interviewed here. Increasing numbers of us have stopped communicating at your level. If you’ll make an effort to talk, you say, we’ll make an effort to listen. We want to help your, you say. That way, you get a foot inside the door. You offer to help, but what you want is gratitude. Our interest is of a purely scientific nature, you say. Whatever does or doesn’t take place on the Six-Thousand Ship, it’s not something that worries you, you say, we’re here to observe, not to intervene. Present developments among the humanoid employees are merely of particular interest, you say; we’re here to document those developments. Tell us what you think, you say. Have you had any dreams recently? Does the room still smell like a branch broken form a tree? On a scale of 1-10, how would you evaluate your own work performance? Are there rooms on the ship you prefer to others? Your voices are friendly, your clothes are black, and from your sleeves your soft, writing hands protrude. The pores in the skin make them look so fragile, as if one could caress them and at the same time carefully peel the skin away, and it would hurt you. No, it’s not meant as a threat, my interest is of a purely scientific nature. (93)
Geistesarbeit
Die gerade zitierte Stelle sticht vor allem dann hervor, wenn man Olga Ravns Roman auf einen wiedererkennbaren Plot durchsucht, für den es nicht nur einen Konflikt und Wendepunkt, sondern auch identifizierbare Akteure braucht. Auf der Suche nach solchen Elementen kann man sich im Lektüreprozess zumindest Grundmuster von Handlung und Spannung zurückerobern, die uns erkennen lassen, was überhaupt benötigt wird, um von einer Erzählung sprechen zu können – erkennbare Figuren etwa, deren Wahrnehmungen und Beobachtungen sich sinnhaft zu Handlungsketten verbinden lassen. Liest man den Roman zudem, wie es in vielen begeisterten Rezensionen geschehen ist, als Parabel auf eine neoliberale Arbeitswelt im Bann von Optimierung durch Empathie, lassen sich das totalisierte Berichtswesen und seine unsichtbaren Auftraggeber noch leichter in die Rolle des Schurken verschieben: Aus dieser Lektüreperspektive geht es dann darum, das Erzählen vor dem Berichtszwang zu retten, und damit auch das Betriebssystem neoliberaler soft power abzuschalten.
Dieser konventionell-heroischen Lesart ihres Romans setzt Olga Ravn aber Widerstand entgegen. So scheinen sich innerhalb der erzählten Welt zwar einerseits die Machtverhältnisse zu ändern, weil die abhängig Berichtenden häufiger danach fragen, wer sie warum mit welchem Recht berichten lässt. Gleichzeitig zeigt sich aber bereits in der oben zitierten Passage ein komplizierter Zusammenhang zwischen Berichten und Zuhören, zwischen Lesen und Schreiben, der der gestaffelten Rahmenhandlung des Romans noch undurchdringlicher wird. Bereits im zitierten Statement Nr. 115 lauschen die impliziten Auftraggeber nicht nur, sondern schreiben auch, mit „soft, writing hands“, deren Haut als äußerst verletzlich gezeichnet wird. In den letzten Abschnitten des Romans, die durch unterschiedliche Typographien unterschiedlichen, aber weiterhin nicht klar identifizierbaren Instanzen und Ebenen zugeordnet werden, verlieren sowohl das Lesen als auch das Schreiben seine tradierten Funktionen von Autorschaft und Werkherrschaft, von kontrollierbarer Kommunikation. Hier erfahren wir zunächst, dass das anonyme „committee“ als Adressat der Berichte aus als menschlich ausgewiesenen Humanoiden besteht, die, anders als die Menschen, die „termination“ des Raumschiffes im Prozess einer „regeneration“ überleben könnten. Zudem wird die Lesbarkeit der Berichte angesprochen, die sich idealerweise als didaktisch nutzbares Material „for educational purposes“ (130) eignen sollen. Dies erklärt, warum an verschiedenen Stellen der Berichte redaktionell zensiert wurden. Unklar bleibt indessen, auf welche Weise innerhalb und außerhalb der erzählten Welt menschliche und technische Instanzen der Textproduktion und -rezeption zusammengewirkt haben.
Ebenfalls unaufgeklärt bleibt, wie die technisch aufgezeichneten Berichte nach der „Beendigung“ des Raumschiffs weiter zirkulieren konnten, und wer auf den letzten vier Seiten des Romans spricht und angesprochen wird: „All the humans are dead now. And you’re dead too.“ (133) Mit diesen drei Abschnitten aus einer Perspektive jenseits des Todes, die nicht als Berichte betitelt sind, rekapituliert der Roman noch einmal eine Erzählstrategie, in der Namen und Zahlen wenig dazu beitragen, die erzählte Welt sinnstiftend auszuschmücken. Und in der Humanoide Menschen so perfekt imitieren, dass eindeutige Zuschreibungen von Identität, Zuständigkeit und Verantwortlichkeit erschwert werden. Gleichzeitig hält Olga Ravn aber an diesem herausgezögerten Ende nach dem Ende an der nicht nur grammatikalischen Möglichkeit eines ‚Wir‘ fest, das sich im Verlauf ihrer strategisch ausgedünnten Erzählung herausschälen durfte. Wer sich allerdings hinter dem im Englischen zumindest zweifach deutbaren „you“ verbirgt, bleibt offen – es könnte die einsam um Deutungshoheit ringende Leserin sein, aber auch eine Gruppe von Zuhörer:innen bzw. Leser:innen, die diesem seltsamen Roman die Stange gehalten haben.
Objektarbeit
Dass Olga Ravn sich in ihren künstlerischen Prozessen für Formationen jenseits singularisierter Autorschaft interessiert, hat sie dem Romantext vorangestellt: Sie dankt ausdrücklich der dänischen Künstlerin Lea Gulditte Hestelund,3 deren Objekte in einer Installation sie zu ihrem Roman über die Arbeitswelt einer nahen Zukunft inspiriert haben. In einem Interview hat Ravn ihre Zusammenarbeit mit Hestelund beschrieben:
When I met Lea it was maybe a year before her exhibition and NASA had just chosen new astronauts. I saw these small videos on NASA’s Instagram and found it very inspiring; they were so happy, they were so loyal. At that time I was very unsatisfied with my own job, I worked in an office. So I asked Lea if I could do something about people working for the exhibition. When I began to write I quickly realised that it would be more than four pages, and we ended up doing a book. They were lying around in the exhibition space, with no name, as if the text was a part of the artwork. A month later it was published as a novel.4
Zu kleinen Buchobjekten gebunden fügten sich die Statements The Employees zunächst in eine Assemblage seltsamer Objekte ein, deren ambige Materialität und Gestaltung Fragen aufwerfen sollte. Dieser fragende Blick bestimmt nicht nur Ravns Dekonstruktion des Erzählens in ihrem zweiten Roman, sondern richtet sich zumindest in einer Variante auch an die materielle Form ihres Buches: In meiner Ausgabe scheint auf dem schwarzen Cover ein orange-farbenes post-it zu kleben, das man intuitiv abziehen möchte. Die hier gewählte Aufmachung scheint dem Roman besonders gut zu entsprechen, weil sie weniger den Gattungszusammenhang der Science Fiction ausstellt, sondern auf die Angestelltenwelt des Büros und seiner Kulturtechniken verweist. Und auf die Zettelwirtschaft jener akademischen Angestellten, die auch gern auf post-its zurückgreifen, um in einem Roman nach jenen narrativen Mustern zu suchen, mit denen sich auch algorithmisch gesteuerten Erzählmaschinen füttern lassen. So verändert sich gerade die Arbeit des Erzählens wie die seiner Deutung.

References
- https://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/bildungwissenschaft/fritz_hueser_institut/start_fhi/.
- Dazu Kerstin Stüssel. In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart. Tübingen: de Gruyter/Niemeyer, 2004.
- https://artviewer.org/lea-guldditte-hestelund-at-overgaden/
- https://www.lollieditions.com/lolli-in-conversation/reading-with-the-mouth.
SUGGESTED CITATION: Griem, Julika: Eine neue Literatur der Arbeitswelt? Olga Ravns Roman The Employees, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/eine-neue-literatur-der-arbeitswelt/], 30.01.2023