Aufstieg für alle?
Uns allen geht es im Durchschnitt besser als je zuvor: Die Löhne steigen, die Menschen können mehr konsumieren und haben mehr Freizeit – zumindest wird das gern behauptet. Dazu tragen auch von Soziolog*innen verwendete Bilder bei. Metaphern beeinflussen, wie wir die Realität wahrnehmen. Ulrich Becks Metapher des „Fahrstuhl-Effekts“, die er 1986 in Die Risikogesellschaft aufwarf, unterstützt dieses Bild des Aufstiegs und einer vermehrt von Wohlstand geprägten Gesellschaft. Sein populäres Buch fand im akademischen sowie nicht-akademischen Umfeld großen Anklang.
Doch gerade im heutigen Kontext von Krieg, Inflation, Pandemie und Klimakrise scheint es fragwürdig, ob dieses Bild noch zutreffend ist – und ob es das überhaupt jemals war, wenn man sich die Lebensrealitäten von beispielsweise Frauen und Migrant*innen ansieht. Auf welche gesellschaftlichen Aspekte konzentriert sich Beck also mit seiner Metapher des Fahrstuhls und welche alternativen Bilder gibt es, die vielleicht realitätsgetreuer sind?
Metaphern werden in der wissenschaftlichen und alltäglichen Kommunikation häufig verwendet, von Adam Smiths „unsichtbarer Hand des Marktes“1 bis hin zur Redewendung „jemandem das Herz brechen“. Der Begriff Metapher leitet sich vom griechischen metapherein ab, das „etwas auf etwas übertragen“ bedeutet. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache beschreibt die Metapher als „Wort oder Wortgruppe, die auf der Grundlage eines Vergleiches außerhalb ihres eigentlichen Bereichs in übertragener Bedeutung verwendet wird“.2 Einige Metaphern setzen sich so sehr im Sprachgebrauch fest, dass sie als solche kaum noch erkennbar sind.
Metaphern in der Soziologie
In der Soziologie werden Metaphern angewandt, um sozialwissenschaftliches Wissen zu vergegenständlichen.3 Dies dient einerseits der populären Darstellung, kann aber auch zur Theoriebildung beitragen.4 Die Metapher ermöglicht die Benennung eines soziologischen Gegenstands5 und ist insbesondere im Hinblick auf Zeitdiagnosen wie Die Risikogesellschaft hilfreich, um einen öffentlichen Diskurs über das Thema anzuregen.6 Ein Problem der Verwendung von Metaphern besteht darin, dass sie den von ihnen angedeuteten Sachverhalt weder präzise noch umfassend genug bezeichnen und zur Reproduktion bestimmter Denkweisen beitragen oder sogar, wie wir bei der genaueren Analyse des Fahrstuhleffekts sehen werden, gewisse Aspekte verschleiern können. Warum man welche Metapher verwendet, sollte also stets reflektiert werden.7
Becks Fahrstuhlmetapher
Becks Risikogesellschaft handelt von den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft in der Nachkriegszeit der BRD. Seine bekannte Metapher des Fahrstuhl-Effekts beschreibt die sozialstrukturelle Entwicklung, in der alle „ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum“8 erfahren haben, ausgelöst durch die in die Höhe geschossenen Reallöhne. Er beobachtete, dass die Menschen in der BRD weniger Erwerbsarbeitszeit, mehr finanziellen Spielraum und auch mehr Lebenszeit gewonnen hatten.9 Allerdings individualisierten und diversifizierten sich die jeweiligen Lebenslagen, sodass der Fokus eher auf der Verbesserung der eigenen Situation und dem Lifestyle gelegen habe als auf dem Abstand zu anderen Großgruppen. Deswegen seien nach Beck immer noch die Strukturen der sozialen Ungleichheit vorhanden, doch das Klassenbewusstsein der Menschen sei verschwunden.10 Welche Worte verwendet Beck, um dieses Phänomen genauer zu beschreiben, und welche Vorstellungen und Anknüpfungsmöglichkeiten schwingen mit? Und warum hat er den Fahrstuhl als Metapher gewählt?
Zunächst werden Wörter wie „Etage höher“11 und „gefahren“12 verwendet, die uns die Fahrstuhlfahrt vor Augen rufen. Die Fahrstuhlfahrt geht nach oben und passiert unterschiedliche Etagen. Allerdings ist allein von Bedeutung, dass es für alle eine Etage höher geht. Das Gesellschaftsbild von Klassen oder einer anderen Art von Aufteilung nach Wohlstand wird evoziert, indem es ein unten und oben gibt mit mehreren Abstufungen dazwischen. Weiter arbeitet Beck mit Begriffen wie „Niveauverschiebung“13 und „Anhebung des materiellen Lebensstandards“14 und unterstreicht damit die Vertikale, mit Blick nach oben. Durch die Fahrstuhlfahrt nach oben wird der Individualisierungsprozess „in Gang gesetzt“15. Diese Formulierung lässt auf eine Maschine schließen, betont den mechanischen Aspekt und hebt gleichzeitig die Passivität hervor. Ist es das Vertrauen in Technik, welches mitschwingt und den Aufstieg als sicher erscheinen lässt? Das gleiche Phänomen beschreibend verwendet Beck Begriffe aus anderen Bereichen. Beispielsweise geben „Eckpfeiler“16 eine architektonische Perspektive, während das „Joch“17 ein Begriff der Landwirtschaft ist. Ebenfalls arbeitet er mit Raumbegriffen, wie „Bewegungsspielräume[n]“18 und „finanzielle[m] Spielraum“19, um die durch den Wohlstand ausgelöste neue Freiheit zu beschreiben. Weit weg von den mechanischen Aspekten des Fahrstuhls lassen die „Entfaltungsmöglichkeiten“20 auf etwas Organisches schließen, da bei dem Wort „Entfaltung“ zum Beispiel das Bild einer aufgehenden Blüte hervorgerufen wird. Der natürliche Prozess, der sich langsam entwickelnden Blüte, steht dem auf Knopfdruck abrufbaren Fahrstuhl gegenüber. Die Linearität der gesellschaftlichen Veränderungen wird mit Wörtern wie „Ruck“21, „Individualisierungsschub“22 und „Freisetzungsschub“23 unterstrichen. Die vorwärts gerichtete schnelle Bewegung ist nicht Becks einzige Art die Veränderung zu beschreiben. Der „Umbruch“24 kündigt ebenfalls eine neue Episode an.
Wachstum und Inklusion: positive Metapher
Beck beschreibt seinen Fahrstuhl-Effekt nicht besonders ausführlich. Die oben genannten Begriffe sind die einzigen, die das Bild des Fahrstuhls untermauern. Den Ausgangspunkt markieren unterschiedliche Etagen, die unterschiedliche ökonomische Klassen darstellen. Der Fahrstuhl kennt bei Beck nur eine Fahrtrichtung, und zwar die nach oben. Dieses Bild ist ein hoffnungsvolles, dem Aufstieg und Wachstum entgegen gerichtetes Bild. Es wird suggeriert, dass es allen besser geht als zuvor, auch wenn die Abstände unter den Großgruppen gleich bleiben. Der Fahrstuhl erleichtert den Alltag vieler Menschen, da sie nicht aus eigener Kraft heraus die Treppen erklimmen müssen. Jede Person, egal wie sehr sie körperlich eingeschränkt sein mag, kann dank des Fahrstuhls an ihr Ziel im Gebäude kommen. Der Aspekt der Inklusion schwingt in Becks Metapher mit, denn bei ihm wird die Situation aller Klassen umfassend verbessert.
Passivität
Auffällig ist allerdings die Passivität der Fahrstuhlfahrenden, die von anderen Kräften nach oben transportiert werden, während der Neoliberalismus normalerweise mit Aktivierungsaufforderungen arbeitet. Der Fahrstuhl ist mittlerweile in vielen mehrstöckigen Häusern zu finden, doch früher war er Ausdruck von Wohlstand und Luxus. Die Bequemlichkeit, sich nicht körperlich zu betätigen und trotzdem nach oben zu gelangen, war vielen Menschen vorenthalten. Er steht ebenfalls für zeitliche Effizienz und Vereinfachung. Die Passivität der Fahrstuhlfahrenden fußt auf Luxus und Bequemlichkeit und steht im Gegensatz zum Aufstieg, beispielsweise einer Treppe, die körperliche Anstrengung erfordert. Der Aufstieg, den Beck mit dem Fahrstuhl-Effekt beschreibt, hat eine angenehme, einfache, sich verselbstständigende Note. Natürlich muss jemand zu einem Zeitpunkt den Fahrstuhl mühselig erbaut haben, doch das ist außerhalb unseres Blickfeldes. Es bleibt eine positive Metapher, die behauptet, eine allgemeine Verbesserung der Lebensweise darzustellen. Was ist das Gegengewicht des nach oben fahrenden Fahrstuhls, durch welche Kraft ist dieser Aufschwung möglich? Becks Metapher verweigert sich dieser Frage.
Rolltreppe statt Fahrstuhl
Der Soziologe Oliver Nachtwey bezieht sich 2016 in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft auf Becks Fahrstuhleffekt, beschreibt jedoch eine etwas andere Entwicklung als er. Zwar spricht er wie Beck von einer generellen Verbesserung des Lebensstandards, kritisiert jedoch dessen Feststellung, es sei ein „Kapitalismus ohne Klassen“25 entstanden.26 Die Klassengesellschaft habe sich nicht aufgelöst, sondern sei, gerade durch den Wandel der Gesellschaft hin zu einer individualistisch geprägten, in einer neuen Form bestehen geblieben.27 Zudem weist er darauf hin, dass nicht alle Menschen gleichberechtigt an der Vermehrung des Wohlstands beteiligt waren: So blieben Frauen und Migrant*innen, darunter die sogenannten Gastarbeiter*innen, weiterhin ausgegrenzt.28
Statt von einem Fahrstuhl spricht er von einer Rolltreppe. Diese Metapher zeigt nicht nur die Bewegung eines Kollektivs nach oben, sondern vermag auch die Abstände zwischen einzelnen Individuen anzuzeigen, die jeweils in unterschiedliche Richtungen fahren: Während die einen schon die nächste Etage erreicht haben und auf die nächste Treppe steigen können, fahren die anderen nun wieder hinab. Für die meisten Arbeitnehmer*innen geht die Fahrt nach unten, wodurch sich die Abstände zwischen oben und unten immer weiter vergrößern.29
Paternoster: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer
Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisiert ebenfalls das Bild des Fahrstuhls. Stattdessen verwendet er die Metapher des Paternosters: Während die einen nach oben fahren, fahren die anderen nach unten. Die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich also, was Existenzängste für einen Großteil der Bevölkerung zur Folge hat.30
Die Fahrstuhlmetapher mag in den 1980er Jahren noch teilweise zutreffend gewesen sein, wenn auch, wie Nachtwey beobachtete, nicht für alle Menschen. Beck lässt in seiner Metapher aus, dass ein Fahrstuhl nicht nur aufwärts, sondern genauso abwärts fährt, was zu einem verklärten Bild der Realität führt. Nachtwey und Butterwegge greifen auf ähnliche Bilder zurück, beziehen die Abwärtsbewegung und damit auch die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Abstiegs mit ein. Metaphern formen das Bild, das man von einem Sachverhalt hat. Was der Fahrstuhl-Effekt zu verfehlen scheint, wird durch die Metaphern der Rolltreppe und des Paternosters ergänzt, sodass möglichst alle Realitäten miteinbezogen werden.
References
- Smith, Adam (1974): Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München: C. H. Beck. S. 371.
- Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Die Metapher. [https://www.dwds.de/wb/Metapher; Stand: 12.04.2022].
- Witte, Daniel (2016): Von Fahrstühlen und Graswurzeln: Orientierungsmetaphern in der soziologischen Zeitdiagnose. In: Matthias Junge (Hrsg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden: Springer VS, S. 21. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07080-9_3.
- Schlechtriemen, Tobias (2016): Zur Metaphorik in Manuel Castells’ Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. In: Matthias Junge (Hrsg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden: Springer VS, S. 198. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07080-9_12.
- Ebd.: S. 199.
- Junge, Matthias (2016): Einleitung. In: Matthias Junge (Hrsg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden: Springer VS. S. 1f. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07080-9_1.
- Witte, Von Fahrstühlen und Graswurzeln, S. 22.
- Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 122.
- Ebd.: S. 124.
- Ebd.: S. 121f.
- Ebd.: S.122.
- Ebd.: S. 122.
- Ebd.: S. 122.
- Ebd.: S. 123.
- Ebd.: S. 122.
- Ebd.: S. 134.
- Ebd.: S. 123, 134.
- Ebd.: S. 123.
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- Ebd.: S. 123.
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- Ebd.: S. 124.
- Beck, Risikogesellschaft, Ebd., S. 177.
- Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, S. 33.
- Ebd.
- Ebd.: S. 39f.
- Ebd.: S. 127.
- Christoph Butterwegge (1999): Wohlfahrtsstaat im Wandel. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, S. 124. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95118-2.
SUGGESTED CITATION: Jantzen, Alba; Rotermund, Emma: Aufstieg für alle?, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/aufstieg-fuer-alle/], 25.07.2022