Sind wir je individuell gewesen?, oder:
Das bunte Treiben am Filmset, der aufwändige Vorlauf einer Theaterinszenierung und die weit verzweigte, ,allmähliche Verfertigung‘ eines literarischen Werks haben eines gemeinsam: Überall wimmelt es von beteiligten Akteur*innen, technischem Handwerkszeug und verstreuten „medialen und materiellen Infrastrukturen“, die Kunstwerke hervorbringen und verbreiten.1 Unser Blick ist geschult, diese unüberschaubaren Szenen zu entwirren, indem wir fragen: Wo ist die geniale Künstlerin, die das ästhetische Werk ersonnen und veröffentlicht hat? Anstatt den Blick so zu verengen, betrachteten die Teilnehmer*innen eines von Ines Barner, Anja Schürmann und Kathrin Yacavone organisierten Workshops am KWI die kollaborative „Durchführungsrealität“2 ästhetischer Werkprozesse. Die transdisziplinäre Diskussionsgruppe fragte am 23. und 24. Oktober 2020 unter dem Titel Kooperation, Kollaboration, Kokreation. Unsichtbare Autorschaften und pluralisierte Werke:
Welche Akteur*innen ziehen (im Hintergrund?) die Fäden, wenn literarische, theatrale, architektonische, musikalische, fotografische und filmische Werke entstehen und zirkulieren? Wie positioniert sich das öffentlichkeitswirksame Kunstpersonal in und gegenüber diesem Gemeinschaftsprozess? Wie partizipiert daran wiederum das Publikum? Das Workshop-Interesse galt dezidiert auch den greifbaren Spuren, die kollaborative Arbeitsgewohnheiten in künstlerischen Zeugnissen verschiedenster Werkformen hinterlassen. Das infrage stehende Ineinandergreifen von Praxis und Produkt erweiterten Anja Schürmann und Kathrin Yacavone zudem mit der Zuspitzung, dass die kollaborative Kunstpraxis im Falle der Fotografie an die eingespielten Verwendungsweisen des Mediums selbst gekoppelt sein können. Angesichts der auf dem Workshop zahlreich versammelten Sichtweisen auf kollaborative Kunstprozesse kann man der Vorstellung singulären Schöpfertums mit Latour leicht entgegnen: Individuell sind wir nie gewesen.
Ausgemessen wurde auf dem virtuellen Workshop zunächst, mit welchen der zahlreich vorhandenen Termini künstlerische Prozesse abseits eines „autonomieästhetischen Bias“3 gefasst werden können: Kollaboration, Kooperation, Kollektivität, Kokreation oder Partizipation? Der terminologische Radius musste ja die schiere Vielfalt involvierter Praxisformen umfassen, die in der kollaborativen Arbeit am Werk sind. Vom gegenseitigen Empfehlen, dem strategischen Vernetzen, dem schriftlichen oder mündlichen Verbessern bis hin zu gemeinsamer Organisations- oder Verwaltungstätigkeit enthalten kollaborative Praxisszenen im ästhetischen Bereich ein reiches Repertoire an sehr verschiedenen Teilpraktiken. Auf einen ganz anderen Praxisbereich gemünzt und doch dasselbe praxeologische Ausgangsproblem fassend, kommentiert der Organisationssoziologe Davide Nicolini: „When people talk about ‚snowboarding‘, they usually ignore the practices of driving, playing, eating, drinking and photography (and consuming substances) that are part and parcel of ‚spending a day on a half-pipe‘“.4 Solche Praxisszenen zu entwirren und einzelne Praxisformen dadurch zu priorisieren, prägt den definitorischen Suchprozess somit bereits vor der Abwägung verfügbarer Termini.
Will man mikroskopisch aufspüren, wie etwa Setzer*innen, Statist*innen oder Beleuchtungstechniker*innen in der künstlerischen Dynamik zusammenarbeiten, ergeben sich zudem zwei grundlegende methodische Zugangshürden. Denn: Die kollaborative Arbeit an ästhetischen Werken scheint gleich einem doppelten Schweigegelübde zu unterliegen. Erstens verschwindet ein Großteil des kunstschaffenden Personals eben regelmäßig hinter der beharrlichen Kategorie singulärer Autor*innenschaft. Zweitens hüllen sich kollaborative Praxisformen auch abseits kulturhistorischer Beobachtungsroutinen gerne in selbstgenügsames Schweigen, denn: „actions, interactions, practices […] are beholden to tacit knowledge”5. Auf welchen Wegen lässt sich also überhaupt etwas über kollaborative (Teil-)Praktiken erfahren? Praxistheoretische Ansätze legen bekanntlich recht einstimmig nahe, dass Praxisformen in der flüchtigen, situationsgebundenen Momenthaftigkeit ihres praktischen Vollzuges existieren. Wenn etwa Künstler*innenkollektive zu ihrer gemeinsamen Arbeit befragt werden, generieren sie notwendigerweise eine „second-order abstraction“ ihrer kollaborativen Kunstpraxis.6 Auf diesem Abstraktionslevel agieren sie mit Theodore R. Schatzki dann andere ,sayings‘ als die zunächst interessierenden ,doings‘ aus. In der Workshop-Diskussion erwiesen sich allerdings auch diese Selbstinszenierungspraktiken als aufschlussreiche Analysegegenstände und Schlüsselmomente kollaborativer Werkpraxis. Materielle Dokumentationen standen als praxishistorische Quellen ebenfalls zur Debatte, so etwa verschiedene Textversionen des literarischen Produktionsprozesses. Auch hier sind methodische Hindernisse zu überwinden, da die zunächst neutraler wirkenden Materialisierungen die schweigende Durchführungsrealität der Praxis ja ebenso in kodifiziertes, propositionales Wissen verwandeln.
Aus den Workshop-Diskussionen eröffnete sich jedoch noch ein weiterer Umgang mit der „Knappheit der Daten“, mit der Praxeolog*innen „charakteristischerweise kämpf[en]“.7 Womöglich bieten sich nämlich gerade kollaborative Vollzugswirklichkeiten dazu an, der schweigsamen Praxis einige ihrer Geheimnisse zu entlocken? Geeignet scheinen insbesondere Szenen, in denen Akteur*innen auf eine gemeinsam zu erreichende Syntheseleistung zielen: etwa, wenn mehrere Schriftsteller*innen sich der von Sophia Ebert kommentierten Herausforderung stellen, einen „Kollektivroman“ zu verfassen. Jene ,Gerichtetheit‘ als ein von Ines Barner hervorgehobener Paramater kollaborativer Praxis zeichnet nicht nur spezifische literarische Kollaborationsszenen aus, sondern auch eine in der funktional differenzierten und beschleunigten Gegenwart allgegenwärtige Organisationsform: die des kooperativen Projektes.8
Anders als kollaborative Produktionszusammenhänge, so brachte etwa Erika Thomalla ein, vollziehen sich ,Kooperationen‘ zweckgerichtet und integrieren die zu bewältigenden Gemeinschaftsaufgaben stark. Diesen Gedanken aufnehmend, lässt sich ein weiteres aufschlussreiches Merkmal kooperativer Vollzugswirklichkeit in den Blick nehmen: Projektbeteiligte irritieren (oder überraschen) sich typischerweise gegenseitig, wenn sie scheinbar gleiche Praxisformen umsetzen und dabei jedoch abweichenden impliziten Handlungsanleitungen folgen. Was im individuellen Schreibprozess fast unbemerkt bleibt, zeigt sich im praktisch vollzogenen Schulterschluss: Schreibroutinen wie alle anderen Praxisgewohnheiten beruhen auf stillschweigenden Annahmen, impliziten Normvorstellungen und verinnerlichten Handgriffen, die nur vorgeblich ganz natürlich sind. Praxisirritationen, so die Vermutung, ,ent-automatisieren‘ eingespielte Praxisroutinen und lenken somit die Aufmerksamkeit auf die schweigsame Praxis.9 Solche ,Störungen‘ münden jedoch nicht zwangsläufig in ,second-order-abstractions‘ und verharren somit wenigstens teilweise im impliziten Vollzugsmodus der Praxis.
Ein Seitenblick auf die jüngere Wissenschaftsforschung, die ebenfalls den Spuren der „subalternen Gehilfinnen und Gehilfen der heroischen Wissenschaften“ folgt, weist ebenso in diese Richtung.10 In geisteswissenschaftlicher Verbundforschung kommt es beispielsweise zu einer Offenlegung der ansonsten „weitgehend individuell organisierte[n] Tätigkeiten von Einzelpersonen“, die als „solche […] nicht in demselben Maße auf interpersonelle, womöglich schriftlich verfasste und somit rekonstruierbare Kommunikation angewiesen [sind]“.11 Die Ausrichtung auf ein vorab festgelegtes Projektziel, die formattypisch hohe Verfahrensregulation und die regelmäßige Selbst- und Fremdevaluation steigern die Notwendigkeit zur gemeinsamen Praxisaushandlung zunächst auf einer expliziten Verhandlungsebene. Zugleich handeln Projektakteur*innen ergebnisorientierte, aber mitunter irritierte Praxisgewohnheiten auch in actu und somit in einem (trotzdem beobachtbaren) Modus aus, in dem die Praxis etwas mehr ,bei sich selbst bleibt‘ als in ihrer Verwandlung in explizites Beobachtungswissen. Die angesichts der Projektsynthese zwingende, aber zugleich praktische Aushandlung legitimer epistemischer Praxis fungiert somit als Türöffner (wenn auch im Prozess selbst zum Teil als Hemmschuh).
Zu einigen in der Workshop-Diskussion angesprochenen künstlerischen Kollaborationsformen, die auf einen offenen Verfahrensprozess setzen, steht der regulierte, zielgerichtete Verfahrenscharakter akademischer Projektkooperationen natürlich zunächst quer. Nichtsdestotrotz ließen sich kollaborative Irritationsmomente möglicherweise auch im ästhetischen Bereich mit Gewinn aufspüren. So ließe sich etwa fragen, inwiefern ästhetische Werkmerkmale als Katalysatoren der im kollaborativen Prozess implizit gebliebenen Auseinandersetzungen über ästhetische Praktiken fungieren. Um das schweigende Wissen der Praxis ebenso ,hörbar‘ zu machen wie die unzähligen unsichtbaren Akteur*innen künstlerischer Prozesse ‚sichtbar‘, eröffneten sich am 23. und 24. Oktober 2020 im Ergebnis somit vielversprechende Ansatzpunkte und vielseitige Fallbeispiele.
References
- Carlos Spoerhase und Erika Thomalla: Werke in Netzwerken. Kollaborative Autorschaft und literarische Kooperation im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 139/2 (2020), S. 145–163, hier S. 146. https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2020.02.02.
- Karin Knorr-Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main 2002, S. 12.
- Nacim Ghanbari: Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert. Lenz’ Das Tagebuch als Beispiel freundschaftlicher Publizität. In: Stefanie Stockhorst, Marcel Lepper und Vinzenz Hoppe (Hrsg.): Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften. Göttingen 2016, S. 167–181, hier S. 169. https://doi.org/10.14220/9783737005678.167.
- Davide Nicolini: Practice Theory as a Package of Theory, Method and Vocabulary: Affordances and Limitations. In: Michael Jonas, Beate Littig und Angela Wroblewski (Hrsg): Methodological Reflections on Practice Oriented Theories. Springer eBook 2017, S. 19–34, hier S. 28. https://doi.org/10.1007/978-3-319-52897-7_2.
- David Kaldewey und Theodore R. Schatzki: Questions to Theodore R. Schatzki. In: David Kaldewey, Katharina Gerund und Frank Adloff. Bielefeld 2015, S. 113–118, hier S. 166. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839425169.113.
- Davide Nicolini: Practice Theory as a Package of Theory, Method and Vocabulary: Affordances and Limitations. In: Michael Jonas, Beate Littig und Angela Wroblewski (Hrsg): Methodological Reflections on Practice Oriented Theories. Springer eBook 2017, S. 19–34, hier S. 28. https://doi.org/10.1007/978-3-319-52897-7_2.
- Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016, S. 58. https://doi.org/10.14361/9783839433454.
- Vgl. insbes. Marc Torka: Die Projektförmigkeit der Forschung. Baden-Baden 2009.
- Vgl. so auch Friederike Schruhl mit Bezug auf Rahel Jaeggi. Friederike Schruhl: Formationen der Praxis. Studien zu Darstellungsformen von Digital Humanities und Literaturwissenschaft. Göttingen 2020, S. 14.
- Monika Dommann: Und am Ende kümmerten sie sich um das Wissenschaftsmuseum… In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41 (2018), S. 333–336, hier S. 334. https://doi.org/10.1002/bewi.201801941.
- Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase: Einleitung: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. In: Dies. (Hrsg.): Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Berlin / München / Boston 2015, S. 1–20, hier S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110353983.1.
SUGGESTED CITATION: Weduwen, Karena: Sind wir je individuell gewesen?, oder: Das Schweigen der Praxis, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/das-schweigen-der-praxis/], 10.12.2020