Des einen Mangel ist des anderen Kunst
Hungerkünstler:innen gehen auf eine ganz besondere Weise mit einem Mangel um: sie machen ihn zum Teil ihrer Kunst. Das Leid, die Gefahren und die Härte dieses Zustands – all dies wird Teil der Performance, für die die Künstler:innen sowohl bewundert als auch kritisiert werden. Zwei dieser Performer der besonderen Art wollen wir hier genauer betrachten. Dabei soll beleuchtet werden, in welchem Verhältnis ihre Kunst zu Konzepten von Mangel und Überfluss steht.
Eine Rüstung zur Sichtbarmachung von Hunger
Das Wiener Hotel Royal im Frühjahr 1896: Der Italiener Giovanni Succi isst stundenlang, tagelang, wochenlang nichts. Er verweigert die Nahrungsaufnahme, lässt sich dabei rund um die Uhr überwachen und steht unter ständiger ärztlicher Kontrolle. Niemand zwingt Succi zu dieser Handlung, es ist eine bewusste, kalkulierte Entscheidung, die auf das staunende Publikum abzielt. Woher kommt dieses Interesse? Wie wird Hunger hier zur Schau gestellt und wieso bekommt Succi dafür so viel Aufmerksamkeit?
In der Kurzgeschichte Der Hungerkünstler konstatiert Franz Kafka die Unerklärbarkeit der Hungererfahrung: „Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.“1 Und doch wird genau dies versucht. Hungern als Attraktion wirkt nicht durch das unmittelbare Zuschauen. Entgegen so vieler Schaustücke ist es keine ereignisreiche Kunstform, sondern vielmehr eine Darbietung des Nicht-Passierens. Die künstlerische Leistung spricht nicht für sich, sondern muss erst vermittelt werden. In manchen Fällen geschieht dies durch Tafeln, die neben den Hungernden hängen und die Anzahl der schon abgeleisteten Tage angeben, in anderen Fällen durch Zeitungen, die regelmäßig über die Aktion berichten, sodass die Öffentlichkeit stets über die genaue Anzahl der Hungertage informiert bleibt. Neben der Dauer fungiert auch die Gewichtsabnahme als zentrale Quantifizierungseinheit. Am bedeutsamsten sind dabei die Vorher-Nachher-Werte, die die massive Entbehrung und damit die Leistung der Künstler:innen in Zahlen übersetzen.
Im Falle von Succis Performance wird die Gewichtsabnahme sogar täglich dokumentiert und über die Zeitungen bekanntgegeben. Die Sichtbarmachung des Hungers beschränkt sich aber nicht auf Zahlenwerte, sondern wird mittels Fotografie auch wortwörtlich vollzogen. Die österreichische Wochenzeitung Das interessante Blatt veröffentlicht während seines 30-tägigen Hungerns immer wieder aktuelle Fotos von Succi. Diese Darstellungen kommen jedoch nicht ganz ohne objektive Werte aus: Schließlich sieht ein Mensch nach 17 und nach 19 Tagen ohne Essen nahezu gleich aus. Und so werden die abgehungerten Kilos sicherheitshalber in der Bildbeschreibung angegeben. Andere Fotos sind ausdrucksstärker. So wird Succi nach 26 Tagen ohne Nahrung in einer 25 Kilogramm schweren Ritterrüstung abgelichtet, um seine gute körperlich-seelische Kondition deutlich zu machen. Seine physische Kraft scheint selbst nach fast vier Wochen Nahrungsverzicht ebenso unerschütterlich wie sein stählerner Wille.2

Dass Succis Durchhaltevermögen als Wille und nicht als Wahn gedeutet wird, ist auf das Überwachungskomitee zurückzuführen, das primär aus Ärzten besteht. Wie im Vorhinein unter anderem vom Künstler selbst betont wird, sollen durch sein Hungern neue medizinische Erkenntnisse über den menschlichen Organismus generiert werden. Was passiert mit einem gesunden Körper, wenn diesem aus reiner Willenskraft die Nahrung verweigert wird?3 Dass diese Frage wissenschaftlich beantwortet werden soll, leitet sich aus einer entscheidenden Perspektive auf Succi ab: Er ist ein rational handelnder Künstler, der zwar Außergewöhnliches vollzieht, aber nicht abnormal ist. Er ist Herr über seine Bedürfnisse und wird nicht von inneren, pathologischen Ursachen in den Verzicht getrieben. Gleichzeitig hat er potenziell die Möglichkeit, jederzeit etwas zu essen. Die naive Erkenntnis, dass sein Hungern immer auf das ubiquitäre Essen verweist, für das er sich jederzeit entscheiden könnte, macht ihn erst zum Subjekt seiner Kunst – und diese erst publikumswirksam. Die Wahrnehmung von Hunger als etwas Sehenswertes, über das ausführlich berichtet wird, verweist also auf einen Zustand der Sättigung. Nur wenn das Gefühl des Hungerns fremd geworden ist, findet sich Interesse an seiner Darstellung. Erst der Rahmen einer zumindest theoretisch gesicherten Nahrungsversorgung schafft die Möglichkeit eines symbolischen Verzichts.4
Giovanni Succis Hungerauftritte fallen in die „ernährungshistorische Sattelzeit“5 Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Im Zuge einer komplexen Dynamik von Globalisierung, Industrialisierung und der Herausbildung moderner Staatlichkeit verschwindet Hunger als massenhafte und strukturelle Bedingung – zumindest in den „westlichen“ Gesellschaften. Waren die Menschen lange Zeit existentiell abhängig von einer unsicheren Ernährungslage, werden sie jetzt sukzessive zu Subjekten, die über ihr Verhältnis zur Nahrung selbst entscheiden können. Die aufstrebende vegetarische Bewegung des 19. Jahrhunderts oder das politische Phänomen des Hungerstreiks, das erst mit Beginn des 20. Jahrhundert auftaucht, zeugen ebenso von dieser Emanzipation wie Hungerkünstler:innen à la Succi. Die Abhängigkeit der Kunstform des Nicht-Essens von der generellen Ernährungslage wird auch im Kontext der beiden Weltkriege deutlich. In diesen Zeiten weitverbreiteter Nahrungsknappheit verliert das Publikum das Interesse an dem ausgestellten Mangel. Zu sehr ist Hunger eine alltägliche Erfahrung. Der Erste Weltkrieg beendet also die Hochphase der hungernden Schausteller:innen, die in der Zwischenkriegszeit nochmal kurz öffentliches Aufsehen erregen können. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgen zwar noch vereinzelt Hungerkunst-Versuche – sie können jedoch nicht mehr an die vergangenen Erfolge anknüpfen.6
Eine Plexiglas-Box als Bühne der Hungerkunst
Ein Mangel an Nahrung ist etwas zu Vermeidendes, etwas, dem vorgebeugt werden soll und muss. Weltweit leiden Menschen Hunger. Sie sind unfreiwillig, dauerhaft und nahezu hilflos einem solchen Mangel samt seinen lebensbedrohlichen Folgen ausgesetzt. Dass ein Mensch aus freien Stücken tagelang im Rahmen einer Performance hungert, scheint vor diesem Hintergrund makaber, ist jedoch selbst im 21. Jahrhundert Realität.
Am 5. September 2003 ließ sich der US-Amerikaner David Blaine für seine Performance Above the Below in einer zwei Meter hohen, zwei Meter langen und einen Meter breiten Plexiglas-Box in neun Metern Höhe einschließen. In der Box über dem Ufer der Themse, nahe der Londoner Tower Bridge, begann Blaine sein 44-tägiges Fasten. Essen und andere Nährstoffe waren verboten. Er konsumierte lediglich viereinhalb Liter Wasser pro Tag. Obwohl die Plexiglas-Box selbst eine dauerhafte Beobachtung ermöglichte, überwachte ihn zusätzlich eine Webcam, mit der man die Aktion auch weltweit im Livestream verfolgen konnte.7

Doch warum dieser „Stunt“? Hatte Blaine ähnliche politische, religiöse oder sogar wissenschaftliche Motivationen wie seine historischen Vorgänger:innen? Dazu befragt, führt er vergleichsweise banale Gründe an: „I love the idea of death and hate life“8, so Blaine in einem Interview. Sein Ziel sei es, den Menschen Leid vor Augen zu führen, da ihn selbst schlechte Gesundheitszustände von ihm nahestehenden Menschen prägten. Der Mann, der im Falle eines Unglücks „as the greatest showman of all time“9 in Erinnerung bleiben möchte, überrascht mit seinen Worten nicht. Er handelt für sich selbst. Dabei betont er, dass ihn die Meinungen und Kritiken anderer in keiner Weise kümmern.10 Wie zuvor Succi betont auch Blaine den Mehrwert seiner Aktion, da er damit die menschliche Willenskraft erforsche.11 Aber nicht nur ihre vorgebliche wissenschaftliche Motivation für das Hungern, ihr öffentliches Auftreten und die dauerhafte ärztliche Überwachung sind Parallelen zwischen Succi und Blaine. Auch ihre privilegierte Ausgangslage, aus der heraus sie sich für den Verzicht entscheiden, ist eine Gemeinsamkeit.
Deutlich macht die Performance von David Blaine sein Leben im Überfluss. Er profitiert genau wie Succi von einer gesicherten Vollversorgung und kennt keine reale Not. Nur so lässt sich die Entscheidung erklären, tagelang zu Show-Zwecken zu fasten und sich freiwillig einem Zustand des Mangels auszusetzen. Angefeuert von der staunenden Menge unter ihm, harrt er Tag für Tag in der Plexiglas-Box aus. Auf der dazugehörigen Website präsentiert sich David Blaine als starker, leidender Held. Nach Beendigung seiner Performance demonstriert er umgeben von medizinischen Geräten die Härte des Hungerns, aber noch mehr seine eigene Stärke – ganz ohne Rüstung.12
Blaines Fans sind an seiner Seite oder vielmehr zu seinen Füßen, sie sind fasziniert vom Mangel vor ihren Augen, der ihnen sonst so fremd ist. Im Kontrast zu den nüchternen und abstrakten Zahlen der Millionen Hungernden weltweit ist die Erfahrung des Mangels hier aufsehenerregend in Szene gesetzt. Als Ergebnis machen Blaines 44 Tage ohne Nahrung nicht betroffen, sondern werden zum Spektakel. Wie sonst soll der ‚Protest‘ erklärt werden, der sich in Grillfeiern unter Blaines Box, Burger-Lieferungen per ferngesteuerten Hubschraubern oder Essenswürfen gegen das Plexiglas zeigt?13 Wie wenig Gespür für Hunger kann ein Publikum haben, das den Hungernden verschwenderisch mit Essen bewirft? Oder ist es genau andersherum: Stellen die Zuschauer:innen damit Blaine in seiner Privilegiertheit bloß, was vom Bewusstsein des eigenen Überflusses zeugen würde? Wie dem auch sei, eins zeigt Above the below sicher: Egal wie gut genährt das Publikum ist, an Hungerkünstler:innen satt gesehen hat es sich noch nicht.
References
- Kafka, Franz (1924): Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, Berlin: Verlag die Schmiede, S. 48.
- Vgl. Lange-Kirchheim, Astrid (2009): Neues Material zu Franz Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“, in: Gerhard Neumann et al. (Hrsg.): Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne, Bd. 17, Freiburg i. Br.: Rombach, S. 7–56, https://doi.org/10.5771/9783968216935-7.
- Vgl. zum wissenschaftlichen Interesse Person, Jutta (2002): Abnormalität und Irrsinn – Das Spektakel des Hungerkünstlers Succi, in: Torsten Hahn, Jutta Person und Nicolas Pethes (Hrsg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850–1910, Frankfurt a. M.: Campus, S. 240–254 und Payer, Peter (2007): Hungerkünstler. Anthropologisches Experiment und modische Sensation, in: Brigitte Felderer und Ernst Strouhal (Hrsg.): Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien: Springer, S. 255–268, hier besonders: S. 257–260, https://doi.org/10.1007/978-3-211-69313-1_18.
- Als symbolisch kann Succis Verzicht auch dahingehend verstanden werden, dass sein angeblich 30-tägiges Hungern als Betrug entlarvt wurde. Eigentlich verzichtete er nur 25 Tage auf Nahrung, wie das Überwachungskomitee im Nachgang zugeben musste. Vgl. Payer 2007, S. 260.
- Zur Idee und Kritik der „ernährungshistorischen Sattelzeit“ vgl. v.a. Settele, Veronika und Norman Aselmeyer (2018): Nicht-Essen. Gesundheit, Ernährung und Gesellschaft seit 1850, in: dies. (Hrsg.): Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne, Berlin/Boston: de Gruyter, S. 7–35, https://doi.org/10.1515/9783110574135-001 und im gleichen Band Nolte, Paul: Zeiten des Nicht-Essens. Subjektivierung, soziale Ordnung und Praktiken der Negation, S. 323–342, https://doi.org/10.1515/9783110574135-012.
- Vgl. u.a. Payer, Peter (2000): Hungerkünstler in Wien. Zur Geschichte einer verschwundenen Attraktion, in: Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 5/2000, S. 7–12.
- Vgl. Hooton, Christopher (2018): Remembering David Blaine’s 44 days in a glass box, which frustrated the British public like no other act of performance art, in: Independent [https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/art/features/david-blaine-london-glass-box-stunt-reaction-starvation-above-the-below-a8523606.html], 06/09/2018 (letzter Zugriff: 11.02.2024).
- Korine, Harmony (Regisseurin)/ Montgomery, Mike (Produzent) (2003): Above the Below, in: YouTube [https://www.youtube.com/watch?v=9fCl9cgBgoQ], 01/01/2020 (letzter Zugriff: 11.02.2024).
- Ebd.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Blaine, David: Above the Below, https://davidblaine.com/above-the-below/ (letzter Zugriff: 11.02.2024).
- Vgl. ebd.
- Vgl. Hooton 2018.
SUGGESTED CITATION: Bredemeier, Jannis; Feller, Lena: Des einen Mangel ist des anderen Kunst. Zwei Hungerkünstler und ihre Darstellung, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/des-einen-mangel-ist-des-anderen-kunst/], 20.05.2024