Mangel erkannt, Mangel gebannt?
Revolution setzt einen Mangel voraus, doch woran es mangelt, darüber herrscht nicht immer Einigkeit. Dies lässt sich am Beispiel eines Gesellschaftsspiels verdeutlichen, das als Revolutionsspiel 1791 erstmalig in Frankreich veröffentlicht wurde.

Gänsespiele sind seit der Antike bekannte Brettspiele, bei welchen die Spielenden mit ihren Figuren auf einer Reihe von Spielfeldern so lange weiter vorrücken müssen, bis die erste Person das Ende und damit das Ziel des Spiels erreicht.1 Bei dem Revolutionsspiel repräsentiert jedes Feld ein Ereignis oder ein Thema der Revolution in Form einer Abbildung. Das sind Themen wie „richterliche Gewalt“, „Steuern“ oder noch abstrakter: „Frankreich“.
Interessanterweise finden sich im Spiel jedoch keinerlei Bezüge auf Hunger, Nahrungsknappheit oder Vergleichbares, obwohl Missernten und hohe Lebensmittelpreise zentrale Impulse der Revolution darstellten. Das Motiv des „Elends“ wird nur auf einem einzigen Feld dargestellt und wirkt hier mehr wie eine allegorische Schreckgestalt, denn wie ein Abbild der Lebensrealität eines großen Teils der damaligen Bevölkerung.2 Dies wirft die Frage auf, warum ein Spiel über die Revolution einen derartig zentralen Aspekt einfach ausklammert.
Dass dem Nahrungsmangel im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine zentrale politische Bedeutung zukommt, betont auch Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität.3 Um darzulegen, wie sich in dieser Epoche ein neues Verständnis des Staates durchsetzt, diskutiert Foucault eine 1763 veröffentlichte Schrift des französischen Ökonomen und Staatsbeamten Louis-Paul Abeille, der sich ebenfalls mit Problemen des Nahrungsmangels auseinandersetzte. Abeille analysierte penibel die Kornproduktion des Landes sowie Möglichkeiten, die Verteilung des Korns durch Steuern zu regulieren. Dabei sorgt sich Abeille jedoch nicht darum, dass alle Menschen satt werden, sondern vielmehr um die Vermeidung möglicher Aufstände und die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung. Für diesen Vorgang der Bevölkerungskontrolle wird im foucaultschen Wortschatz der Begriff ‚Biopolitik‘ geprägt. Die Durchsetzung eines staatlichen Programms, welches einzig und allein der Vermeidung von Revolten dient, bezeichnet Foucault konkreter als Sicherheitsdispositiv.4 Menschen werden auf Zahlen reduziert. Hunger wird in Kilogramm pro Kopf umgerechnet. Das ist das Sicherheitsdispositiv; das ist Biopolitik.5
Durch die Brille Foucaults wird deutlich, dass das im Spiel dargestellte Narrativ der Revolution nicht die Aufhebung des Mangels an Nahrung, sondern die Rückkehr zu Ordnung und Recht unter dem Sicherheitsdispositiv des Staates ist. Wird dieser Gedanke des Narrativs weitergedacht, verhärtet sich der Verdacht: Mangel und Überfluss sowie ihre narrative Verankerung in einer Gesellschaft sind keine zufälligen und absoluten Heimsuchungen, sondern künstlich erzeugt.6
Denn: Spielt man das Revolutionsspiel allzu leichtgläubig, könnte man denken, dass der Mangel an Nahrung und der Hunger eine untergeordnete Rolle in der revolutionierenden Bevölkerung spielten. Stattdessen sind es Begriffe wie „Siegelbrief“, „Vaterlandaltar“ und „Philosophie“, die dem Spiel und damit dem Narrativ der Revolution Ausdruck verleihen. Auf dem letzten Spielfeld wartet keine satte Bevölkerung, sondern das Abstraktum der „Verfassung“ als höchstes Ziel der Revolution.7 Wo die einen Mangel an Nahrung erlitten und ihren Frust auf die Straßen trugen, sahen die anderen den Mangel des Staates und der Ordnung. Mangel und Überfluss sind keine absoluten Zustände. Sie werden erzeugt, sie werden anerkannt oder nicht. So auch im Revolutionsspiel von 1791.
References
- Reichardt, Wolf (1989): DAS REVOLUTIONSSPIEL VON 1791. Ein Beispiel für die Medienpolitik und Selbstdarstellung der Französischen Revolution. Mit einer Spielanleitung, 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Insel, S. 9.
- Vgl. Reichardt 1989, S. 20.
- Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France, 1977–1978, hg. v. Michel Sennelart. Übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 53f.
- Vgl. ebd., S. 58f.
- Vgl. ebd., S. 76f.
- Vgl. ebd., S. 54f.
- Vgl. Reichardt 1989, S. 28.
SUGGESTED CITATION: Eisbrenner, Nico: Mangel erkannt, Mangel gebannt? Zur Darstellung von Nahrungsknappheit im Revolutionsspiel von 1791, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/mangel-erkannt-mangel-gebannt/], 21.05.2024