Georg ToepferListen | Lists

Die Logik der Liste

Die Logik der Liste Von der babylonischen „Listenwissenschaft“ zur Biodiversität Erschienen in: Listen | Lists Von: Georg Toepfer

Listen sind die älteste Technik zur Erschließung des Reichtums der Welt. Sie finden sich bereits in den ersten Schriftzeugnissen der mesopotamischen Kulturen und das heißt in den ältesten Schriftzeugnissen des Menschen überhaupt. Listen von Bäumen, Haustieren, Vögeln und Fischen stehen dort neben solchen von Metallen, Gefäßen, Beamtenfunktionen und geografischen Orten.1

Lexikalische Listen machen gut ein Zehntel der bekannten knapp 6.000 archaischen Texte aus. Ihr Ursprung, und damit der Ursprung der Schrift, liegt im Kontext der wachsenden Ökonomie von Städten, die im späten vierten Jahrtausend in Mesopotamien entstehen. Der Großteil der frühen Texte diente der Dokumentation von ökonomischen Transaktionen (und nicht etwa der Aufzeichnung von Mythen oder religiösen Lehren). Sie belegen die Lieferung von Tieren oder Getreide, halten die Arbeit auf dem Land fest oder bilanzieren die Lieferung von Getreide mit der Produktion von Bier. In den Texten zur Buchhaltung und Administration erscheinen allerdings nur wenige Naturdinge – die überlieferten Fragmente aus den Listen der Fische und Vögel deuten dagegen darauf hin, dass diese jeweils mehr als einhundert Einträge umfassten und dabei auch solche Tiere wie Raben einschlossen, mit denen vermutlich nicht gehandelt wurde. Die Listen von Tierarten lassen sich also nicht allein im Hinblick auf ihren Nutzen für die administrativen Texte verstehen. In ihrem großen Umfang waren sie offenbar darauf gerichtet, die Dinge der Welt insgesamt und vollständig zu erfassen, diese unabhängig von ihrem ökonomischen Wert zu inventarisieren.2

Auf die Probe gestellt wurde damit das Erfassungssystem selbst, die Schrift, die dazu diente, die Vielzahl der Dinge und Wesen zu unterscheiden, die Bezeichnungen zu standardisieren und durch das Lehren der Schriftzeichen zu tradieren. Das Erstellen der Listen stand auf diese Weise am Anfang einer Entwicklung, die später in das mündete, was ‚Wissenschaft‘ genannt wird.

Einige Assyriologen sehen in der Obsession für Listen in den sumerischen und assyrischen Texten selbst bereits eine Wissenschaft und sprechen von der sumerischen Listenwissenschaft. Wolfram von Soden, auf den der Ausdruck meist zurückgeführt wird, bestimmte in einem (offen rassistisch argumentierenden) Aufsatz aus dem Jahr 1936 die „sumerische Wissenschaft“ primär als eine „Ordnungswissenschaft“, die „sich nicht eigentlich um die Erklärung der Welt bemüht, sondern nur ihre Ordnung nach bestimmten Gesichtspunkten erstrebt“; als „Listenwissenschaft“ sei sie „satzlos und ohne logische Verknüpfungen oder Erläuterungen anreihend“.3

Die Gegenüberstellung einer babylonischen Listenwissenschaft mit der abendländischen, auf die griechische Antike zurückgeführten Erklärungswissenschaft beginnt aber nicht erst im Kontext des Nationalsozialismus der 1930er Jahre. Die Gegenüberstellung geht, ebenso wie der Ausdruck ‚Listenwissenschaft‘, auf den Philosophen Hermann Schneider zurück, der ihn 1907 zur Charakterisierung der babylonischen Wissenschaft verwendete, die seiner Meinung nach auf „Ordnung und Übersicht“ gerichtet ist.4 Später bestimmte Schneider diese als eine „nicht erklärende Wissenschaft“, und er war der Ansicht, sie entspreche in ihrem rein deskriptiven Ansatz der „Naturgeschichte“.5 In diesem Sinne verstand auch der Wissenschaftssoziologe Helmut F. Spinner 1994 die Listenwissenschaft als Form einer „parataktischen“ Wissenschaft, die der abendländisch dominanten „hypotaktischen“ Theoriewissenschaft gegenüberstehe. Letztere folgt nach Spinner einem „theoretischen Erkenntnisstil“, die Listenwissenschaft habe dagegen einen „additiven Erkenntnisstil“6, in dem Allgemeinaussagen, Schlüsse und argumentative Strukturen weitgehend fehlen.

Als kontrastierende Gegenüberstellung von zwei Erkenntnisstilen ‒ oder „Denkformen“7 ‒ kann die Unterscheidung von Listen- und Theoriewissenschaft nützlich sein; in der Festlegung der altorientalischen Praxis der Listenerstellung auf einen Typ der Wissenschaft ist sie aber problematisch. Denn theoriefrei war das Erstellen der Listen gerade im alten Orient sicher nicht. Es war eingebunden in eine kollektive Wissenspraxis, in den Prozess der Etablierung eines Kategoriensystems, das sich nicht einfach bestehender Namen bedienen konnte, mit ihnen das Gegebene repräsentierte und es dann aufzählte; vielmehr wurde das System der Benennung über die Praxis des Auflistens überhaupt erst begründet. Deutlich ist dies in dem komplexen, verwobenen Geflecht von Bezügen der Bezeichnung, das alles andere als linear und hierarchisch ist, sondern in seiner Offenheit und Flexibilität eine beständige Anpassung an eine dynamische und kollektiv getragene Wissenskultur ermöglichte.8

Wenn auch theoretische Elemente am Aufbau der ersten sumerischen Listen beteiligt waren und sie damit als „älteste Form der Wissenschaft“9 gelten können, befand sich der wissenschaftliche Status von Listen doch lange im Hintergrund. Erst im Zuge der gegenwärtigen Wertschätzung von Biodiversität, die an die Tradition der deskriptiven Naturgeschichte anschließt, erfahren Listen in der Naturforschung eine Renaissance. In der Naturgeschichte waren sie schon lange vor deren Höhepunkt im 18. Jahrhundert fest etabliert. Bereits die mittelalterlichen Tierbeschreibungen enthalten in ihren Inhaltsverzeichnissen lange Listen von Tierarten, so schon die erste deutschsprachige Naturgeschichte Das Buch der Natur (1349-50) des Konrad von Megenberg, dessen Liste von Tieren 238 Einträge umfasst. Substanzialisiert, mit einem Kollektivsingular benannt und unhierarchisch koordiniert finden sich hier viele Tierarten untereinander gleichberechtigt aufgelistet, zudem durch den hinzugefügten Artikel (im Gegensatz zur lateinischen Vorlage) eindeutig mit einem Geschlecht versehen.10

Zu einer elaborierten Praxis entwickelte sich die Erstellung von Listen mit der Entfaltung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert. Carl von Linnés Systema naturae ist eine lange Liste von Naturdingen und führt in ihrem zoologischen Teil 1758 rund 4.200 Tierarten auf. Die Liste beginnt mit dem Menschen (Homo sapiens) und endet 800 Seiten später mit der Amöbe (Volvox polymorpho-mutabilis), die Linné mit dem Artnamen Chaos versieht, weil sie in ihrer vielgestaltigen und variablen Form der Horror seines auf konstanten Formen beruhenden Klassifikationssystems ist.

Das heutige Interesse an Biodiversität enthält eine wiedergewonnene Naturgeschichte. Es ist auf ein Wissen gerichtet, das nicht erklärungs- oder begründungsorientiert vorgeht, sondern einfach das Besondere beschreibt und in seiner vielfältigen Andersartigkeit wertschätzt. Die Liste – oder auch die listenartige Form der Installation von vielfältigen Tierpräparaten in den musealen „Biodiversitätswänden“ ‒ ist das geeignete Format für diesen nicht zu vereinheitlichenden, vielfach gebrochenen Blick auf Natur. Sie präsentiert eine Fülle von Dingen und Perspektiven auf die Welt, die nur in Listen aufgezählt oder nebeneinandergestellt werden können, die zusammen aber kein System ausmachen und daher auch nicht in vereinheitlichenden Theorien zu erfassen oder in geschlossenen Installationen zu ordnen sind. Die egalitäre Juxtaposition in der Liste, ihre parataktische Logik ist die angemessene Ordnung, um das Heterogene als gleichberechtigt und nicht integrierbar zu zeigen.

References

  1. Robert K. Englund und Hans J. Nissen (1993): Die lexikalischen Listen der archaischen Texte aus Uruk, Berlin: Gebr. Mann; Niek Veldhuis (2004): Religion, Literature, and Scholarship. The Sumerian Composition Nanše and the Birds, with a Catalogue of Sumerian Bird Names, Leiden: Brill, S. 299 ff. https://doi.org/10.1163/9789047405771.
  2. Vgl. die Einführung in den Digital Corpus of Cuneiform Lexical Texts, University of California, Berkeley, http://oracc.museum.upenn.edu/dcclt/intro/arch_intro.html (abgerufen am 4. August 2015).
  3. Wolfram von Soden (1936): „Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft“, in: Die Welt als Geschichte. Zeitschrift für universalgeschichtliche Forschung, 2, S. 411-464; 509-557, hier S. 547 f.
  4. Hermann Schneider (1907): Kultur und Denken der alten Ägypter, Leipzig: Voigtländer, S. 368.
  5. Hermann Schneider (1923): Philosophie der Geschichte, Bd. 2. Logik und Gesetze der Geschichte, Breslau: Ferdinand Hirt, S. 41.
  6. Helmut F. Spinner (1994): Die Wissensordnung. Ein Leitkonzept für die dritte Grundordnung des Informationszeitalters, Opladen: Leske + Budrich, S. 125,
  7. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95876-1.
  8. Hans Leisegang (1928): Denkformen, Berlin: De Gruyter, S. 454. https://doi.org/10.1515/9783111669267; Karen Gloy (2016): Denkformen und ihre kulturkonstitutive Rolle, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 80-85, https://doi.org/10.30965/9783846761052.
  9. Markus Hilgert (2009): Von ‚Listenwissenschaft‘ und ‚epistemischen Dingen‘. Konzeptuelle Annäherungen an altorientalische Wissenspraktiken, in: Journal for General Philosophy of Science, 40 , S. 277-309. https://doi.org/10.1007/s10838-009-9100-6.
  10. Othmar Keel und Silvia Schroer (2002): Schöpfung. Biblische Theologie im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 170.
  11. Konrad von Megenberg (2003): Das Buch der Natur (1349-50), Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Robert Luff und Georg Steer, Tübingen: Niemeyer, S. 4-15.

SUGGESTED CITATION: Toepfer, Georg: Die Logik der Liste. Von der babylonischen „Listenwissenschaft“ zur Biodiversität, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/die-logik-der-liste/], 13.04.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220413-0830

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