Die Perlen Istanbuls
The English Version of this article will appear on Wednesday, 22 November 2023.

Ich fotografiere einen Glaskasten, in dem eine Hand aus dem Nichts heraus Reis und Kichererbsen mit einem Spachtel appetitlich formt – das türkische Gericht Pilav. Aus der kleinen Metzgerei nebenan tritt ein älterer Mann, grauer Arbeitskittel, an den Fingern Fleischreste und in der linken Hand ein kleines Glas für den typischen Schwarztee, der in Istanbul so gerne mit viel Zucker getrunken wird. Ich darf ein Porträt von ihm machen, bevor er mich in die Metzgerei bittet, wo auf einem von drei Stühlen gegenüber der fleischbestückten Vitrine ein Mann sitzt: Mit dem Metzger unterhält er sich auf Türkisch und mit mir via Übersetzungsprogramm seines Handys. Frischer Tee kommt, neue Kund:innen, die das Fleisch diskutieren, es fachgerecht kleinschneiden lassen und große Portionen kaufen. Ich fotografiere.
Des Metzgers Laden liegt am Tarlabaşı Bulvard, einer viel befahrenen Parallelstraße zur Shoppingmeile İstiklal in Istanbul. Tarlabaşı ist ein Stadtteil nahe des Taksim-Platzes, das verrufen ist und vor dem selbst Einheimische warnen, wachsam vor Dieben zu sein und keinesfalls nach Einbruch der Dunkelheit dort unterwegs zu sein, wegen der Drogenabhängigen. Tagsüber ist alles ruhig in den kleinen Straßen hinter dem Bulvard. Die Häuser stehen eng, die Wäscheleinen sind dazwischen gespannt, die Straßen steil, was im Istanbuler Licht spektakuläre Perspektiven bietet. Bewohner:innen schauen, sie lächeln, ein Kind zerrt an meiner Kleidung und verlangt Geld, bis ein wenig Älteres es wegzitiert. Lange Zeit als Slums verrufen, sind Tarlabaşı und das angrenzende Dorlapdere gemischte Viertel, die – so sagt ein Mann auf der Straße – in wenigen Jahren gentrifiziert sein werden.
Sensible Subjektivierung des Fotojournalismus und gesellschaftliche Relevanz
In Istanbul nehme ich an einer Fortbildung von Magnum Learn teil, einem Angebot der Fotoagentur Magnum. Fotojournalist Emin Özmen und Fotoconsultant Cloé Kerhoas leiten den Workshop „Exploring Istanbul“ im späten April 2023. Vormittags werden theoretische und praktische Fragen diskutiert und ab dem zweiten Tag werden unsere eigenen Fotografien besprochen, die wir täglich ab dem Nachmittag produzieren. Die Auswahl der tagesbesten Aufnahmen legen den Grundstock für die Endauswahl am letzten Kurstag. Kerhoas referiert über Recherche für und Finanzierung von Langzeitprojekten der Dokumentarfotografie sowie die Zusammenarbeit mit Fotoredakteur:innen internationaler Zeitungen und Magazine. Stipendien und projektbezogene Fellowships spielen für Langzeitdokumentationen eine immer größere Rolle, da journalistische Medien und Fotoindustrie immer weniger Geld für diese Arbeit zur Verfügung stellen wollen.
Für mich ist die Teilnahme am Workshop in vielerlei Hinsicht produktiv: Ich lerne meine eigene Fotografie besser kennen und verbessere sie. Ich lerne Medienpraktiken professioneller Fotograf:innen kennen. Ich lerne von den Teilnehmenden des Workshops, was sie beschäftigt. Und: Workshops dieser Art lassen mich die Methode der visuellen Autoethnografie erforschen, digitale Fotografie und ihren Status zu befragen. Zur Autoethnografie gehört, eine Vielzahl an Dokumenten und Artefakten als Datenbasis zu sammeln, Literatur, Archivrecherche, Fundstücke aus dem Netz (nach John Postills „Remote Ethnography“1) sowie persönliche Dokumente. In der visuellen Autoethnografie, wie ich sie anwende, sind meine Fotografien meine persönlichsten Dokumente sowie meine Feldnotizen von den Tagen, an denen ich diese aufgenommen habe. Zur Autoethnografie gehört die Verschränkung methodischer Beschreibungen mit Selbstreflexivität, in der die Autorin ihre Positionalität kontextualisiert, auch mit dem verkörperten Modus der Befragung. Denn Fotografie ist (auch) eine körperliche Praxis, und in der visuellen Autoethnografie sind Forschende und Fotografierende in Personalunion vereint. Neben der spezifischen Wahrnehmung und der Situierung in heterogenen Umfeldern ist die digitale Fotografie als Mensch-Maschine-Interaktion zu reflektieren. Digitale Fotografie ist Forschungswerkzeug, Forschungsobjekt und Forschungsmethode in einem.2 In der digitalen Medienforschung wäre es angemessen, viel stärker über Autoethnografie zu sprechen: Die Trennung zwischen Forschenden und Forschungsobjekten ist kaum noch gegeben, da jede:r online unterwegs ist und oft erst sehr genaue Kenntnisse von beispielsweise Plattformen zu Forschungsfragen führen.3
Visuelle Autoethnografie
Zur visuellen Autoethnografie gehört für mich die Versprachlichung und Verschriftlichung von Erfahrungswissen, das ich in fototheoretischen Texten vermisse; gerade jene, die zum Kanon gehören, wurden nicht von Praktiker:innen geschrieben (Benjamin, Barthes, Sontag), und auch heute, wo Fotografie selbst viel textbasierter ist (etwa durch Projektanträge, die fotografische Arbeiten ermöglichen sollen, da die Prekarisierung des Journalismus kaum nennenswerte Budgets vorhält, aber fotografisch außergewöhnliche Ergebnisse publizieren möchte), schreiben nur wenige Fotograf:innen über ihre Arbeit – und wenn, dann personalisiert ohne Anspruch einer Theoretisierung oder Verallgemeinerung. Der Übergang von analoger zu digitaler Fotografie und die immensen Umwälzungen, die die Fotoindustrie, der Fotojournalismus erfahren haben, sind kaum aus der Innenperspektive verschriftlicht. Eines der in jüngerer Zeit bekanntesten Beispiele, die autobiografisch die eigene Karriere schildern, sind die Memoiren der mehrfach mit den wichtigsten Preisen ausgezeichneten US-amerikanischen Fotojournalistin Lynsey Addario.4
Umso interessanter sind die einführenden Vorstellungen, in denen Workshopleitende ihre eigene fotobiografische Entwicklung erzählen. Diese haben mindestens ein biografisches Element, das sie tief berührt und Auswirkungen auf ihre Fotografie hat: der Tod von Freund:innen und Familienmitgliedern, die Augenzeugenschaft von Ermordungen im Krieg, das Miterleben verschiedener Stadien von Krankheit oder die Spurensuche von Familienereignissen. Durch diese Erzählungen zeigen Fotograf:innen sich selbst vulnerabel. Das klischierte Bild des heroisch-maskulin-kalten Fotoreporters, das kanonische fototheoretische Essays kolportieren (vgl. z.B. Susan Sontag, „In Platos Höhle“5), wird Anfang des 21. Jahrhunderts abgelöst durch eine jüngere Generation von Fotojournalist:innen, die dieser Verhärtung weniger Platz geben – und damit die eigene Fotografie sensibler gestalten.6
Diese fotobiografischen Vorstellungen sind Autobiografien („autophotobiographies“7) – oder umfassender unter dem englischen Begriff des life writing gefasst erzählten Vignetten des eigenen Lebens, in diesem Fall mündlich und visuell. Sie sind zugleich visuelle Autoethnografien, da sich in ihren Erzählungen Fotos und Leben verknüpfen; auch wenn die Fotojournalist:innen selbst nicht theoretisieren, geben sie Material in vielerlei Hinsicht.8 Diese autofotobiografische Öffnung geht einher mit zunehmender Subjektivierung in der zeitgenössischen Fotografie; die eben auch heißt, sich stark mit sich selbst auseinanderzusetzen und zu argumentieren, warum selbstgewählte Themen, gerade in Langzeitdokumentationen, gesellschaftliche Relevanz haben.

Fotografische Zugänge
Istanbul zu fotografieren, ist eine Herausforderung an sich: Eine Metropole mit 16 Millionen Einwohner:innen – manche sagen 20 Millionen inklusive der Tourist:innen – verteilt über zwei Kontinente und unzählige Stadtteile und köys (Dörfer). Eine Stadt, die selbst ihren Einwohner:innen zu groß ist, zu stressig, zu teuer, zu schmutzige Luft. Und zugleich eine Stadt, die Magnum-Fotografen wie Ara Güler (1928–2018), Nikos Economopoulos (*1953), Bruno Barbey (1941–2020) angezogen hat. Die an denselben Orten fotografiert haben wie wir – an den Piers von Karaköy und Eminönü, die Fischenden auf den Brücken, in Teehäusern und Moscheen –, sodass uns diese Orte wiedererkennbar und fremd zugleich sind.
Zu Lücken der fotografischen Forschungstexte gehören auch die Fragen nach Zugang zu Protagonist:innen („access“). Ferrucci und Taylor haben in einer Studie festgestellt, dass der Gedanke von Forschenden, Zugang bedeute vor allem die Erlaubnis, Grundstücke formal betreten zu dürfen, wenig mit der Realität von Fotojournalist:innen zu tun hat: Körpersprache und Mündlichkeit werden von Fotojournalist:innen selbst als Schlüsselkompetenzen genannt, um Zugang zu Protagonist:innen zu haben.9 Es ist Teil der emotionalen Arbeit, die den Beruf des:der Fotojournalist:in ausmacht.
Die Frage nach diesem Zugang war auch jene, die die Workshop-Teilnehmenden umtrieb. Ein Teilnehmender berichtete, aggressiv angegangen worden zu sein, als ein Mann im öffentlichen Raum sich und seine Familie (fälschlicherweise) fotografiert fühlte. Diese Erlebnisse öffneten Reflexionsräume: Unangenehme Begegnungen sind Teil des fotojournalistischen Berufsalltags und man muss Wege finden, damit umzugehen, etwa durch eigene Visibilität. Fotografieren heißt, sich selbst im Feld sichtbar zu machen – auch das ist Teil der emotionalen Arbeit des access. Zur visuellen Autoethnografie gehört das Reflektieren des eigenen Geschlechts und den damit verbundenen Erfahrungen des freien bzw. von anderen eingeschränkten Bewegens in der Welt.
Versprachlichung eigener Fotografie
Der letzte Workshop-Tag war dem Editing und Sequencing gewidmet, als rein visuelles Editing, das heißt nicht spezifiziert auf journalistisches, künstlerisches, Ausstellungs- oder Buch-Editing. Editing bedeutet, aus den Tagesauswahlen schließlich eine finale Auswahl zu treffen; Sequencing bedeutet, diese Auswahl in eine Reihenfolge zu bringen, die eine Geschichte offenbaren kann, zumindest aber Anfang, Mittelteil und Ende hat. Emin Özmen stellte die Fotos zu einem Zine zusammen und präsentierte unter dem Titel „The City“ die finale Auswahl dieser Woche jeder:jedes Fotografin:Fotografen auf drei Doppelseiten – mit einem selbstgewählten Titel und einem Text von 200 Wörtern. Mein Text reflektiert meine fotografische Erfahrung Istanbuls und nimmt Bezug zu anderen Workshops, aus denen ich verinnerlicht habe, dass in einer Auswahl von Bildern, die einem Editing zugrunde liegt, mehr als ‚ein:e Fotograf:in‘ zu entdecken sein kann („another photographer“). Dieser Gedanke begleitete mich auf den Straßen – etwa, wenn ich mich im eher journalistisch-deskriptiven Modus befand; Motiv und Licht jedoch viel mehr für eine poetische Fotografie sprachen. Meinen Text dokumentiere ich hier, in leicht überarbeiteter Grammatik; er ist Teil meiner visuellen Autoethnografie Istanbuls.
Perlen Istanbuls
“Pearls of Istanbul: Istanbul is the city of light, love, and laughter. Each of these pearls invite us to leave trodden pathways to find more of this, in spots we have not imagined before. The prerequisite is the openness of our heart and mind to let ourselves go. Deliberately getting lost in neighbourhoods and accepting our thoughts and visions allows us to put a light on the people who live and work there, and whose vernacular spaces we enter; as fellow humans, and as visual people alike. Photography is a collaborative practice that can only appear with the utmost respect for the human condition we, too, co-create. The highlights and the lowlights we explore shine on those we portray, and our personal attitude towards ‘the other’ will be seen within the images we make. Leaving the common ways means connecting with one’s own deeper self through photography and overcoming potential prejudices materialized in fears that are groundless most of the time. Photography means pushing boundaries and internal frontiers. Therefore, another person surfaces after having wandered the köys of Istanbul. Sometimes a second person appears, or even a third one, and that is another photographer. In this way, we become a pearl of Istanbul ourselves. The city of light, love, and laughter leaves traces in our visual memories, its photographic materialization, and in the streets we once walked.”
Finale
Nach guter ethnografischer Tradition gehe ich einige Tage später zurück zum Tarlabaşı Bulvard mit Abzügen meiner Porträts: Der Metzger ist einer meiner Porträtierten, den ich wiederfinden kann, da ich weiß, wo er arbeitet. Er erkennt mich sofort von seinem Platz am kürzeren Ende der Theke, wo er frisches Köfte mit den Fingern in große Sandwichstücke steckt. Er winkt und bietet mir ein Köfte-Sandwich an; meine Porträts von ihm schaut er nur kurz an, es ist wichtiger, dass ich etwas esse. Kurz darauf kommt ein Bekannter in die Metzgerei, er nimmt die Abzüge, zeigt sie dem Metzger erneut, der ihm ein Sandwich zubereitet und ihm bedeutet, die Abzüge in den Karton zu legen, neben das restliche Brot. Ich überlege, meine Kamera aus meinem Rucksack zu holen, um zu dokumentieren, wie die Porträts im Karton neben dem Sandwich liegen. Ich lasse es. Neben der visuellen Erinnerung bleiben mir dieser Text – und die saftig-fettigen Flecken auf dem Ärmel meiner Jacke, die aus der Köfte getropft sind.

References
- Postill, John (2016): Remote Ethnography: Studying Culture from Afar, in: Larissa Hjorth, Heather Horst, Anne Galloway und Genevieve Bell (Hrsg.): The Routledge Companion to Digital Ethnography, New York: Routledge, S. 61-69.
- Runge, Evelyn (2022): Visuelle Autoethnografie: Feldforschung in Palermo Bei Einem Fotoworkshop, in: Rundbrief Fotografie, Bd. 29, Heft 3–4, S. 64–73, https://doi.org/10.1515/rbf-2022-3010.
- Ritter, Christian S. (2022): Rethinking Digital Ethnography: A Qualitative Approach to Understanding Interfaces, in: Qualitative Research, Bd. 22, Heft 6, S. 916–932, https://doi.org/10.1177/14687941211000540.
- Addario, Lynsey (2016): Jeder Moment ist Ewigkeit: als Fotojournalistin in den Krisengebieten der Welt, Berlin: Econ; Runge, Evelyn (2017): Lynsey Addario: Jeder Moment Ist Ewigkeit, Rezension, in: Rezensionen:Kommunikation:Medien [https://www.rkm-journal.de/archives/20064], 02/05/2017 (letzter Zugriff: 08.11.2023); Addario, Lynsey et al. (2022): Relentless Courage Ukraine and the World at War, Bend: Blue Star Press.
- „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst nie sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann. Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord – ein sanfter, einem traurigen und verängstigten Zeitalter angemessener Mord“, Sontag, Susan (2002): Über Fotografie, München: Edition Akzente, S. 20. Online unter https://d-nb.info/964401509/04 (letzter Zugriff: 17.05.2023).
- Runge, Evelyn (2019): Fototheorie nach Sontag: Wir alle sind Bürger*innen der Fotografie, in: FREELENS [https://freelens.com/fotografie-und-krieg/fototheorie-nach-sontag/], 03/04/2019 (letzter Zugriff: 08.11.2023).
- Dalziell, Tanya und Lee-Von Kim (2015): Self-Regarding: Looking at Photos in Life Writing, in: Life Writing, Bd. 12, Heft 4, S. 377–381, https://doi.org/10.1080/14484528.2015.1084580; Bojarska, Katarzyna und Tomasz Szerszeń (2016): Auto-photo-biography, in: Widok. Teorie i Praktyki Kultury Wizualnej, Heft 13, https://doi.org/10.36854/widok/2016.13.874.
- Adams, Tony E., Carolyn Ellis und Stacy Holman Jones (2017): Autoethnography, in: Jörg Matthes, Christine S. Davis und Robert F. Potter (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication Research Methods, Hoboken: John Wiley & Sons, S. 1–11, https://doi.org/10.1002/9781118901731.iecrm0011; Ellis, Carolyn, Tony E. Adams und Arthur P. Bochner (2011): Autoethnography: An Overview, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Bd. 36, Heft 4, S. 273–290; Wall, Sarah (2006): An Autoethnography on Learning About Autoethnography, in: International Journal of Qualitative Methods, Bd. 5, Heft 2, S. 146–160, https://doi.org/10.1177/160940690600500205.
- Ferrucci, Patrick und Ross Taylor (2018): Access, Deconstructed: Metajournalistic Discourse and Photojournalism’s Shift Away From Geophysical Access, in: Journal of Communication Inquiry, Bd. 42, Heft 2, S. 121–137, https://doi.org/10.1177/0196859917752911.
SUGGESTED CITATION: Runge, Evelyn: Die Perlen Istanbuls. Visuelle Autoethnografie als Methode digitaler Fotografie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/die-perlen-istanbuls/], 20.11.2023