Feldnotiz: Lützerath
Es gehört zu den Hoffnungen eines Forschens im Feld – wo auch immer das sein mag: auf der Straße, in einem Labor, an den Ufern der Emscher –, Konkreteres in Erfahrung zu bringen und etwas mehr sehen, hören und erkennen zu können, als dies am Schreibtisch möglich sein würde. Wenn der Gang ins Archiv die Aussicht in sich trägt, Funde zu machen, die vorgefasste Annahmen oder gängige Erzählungen ins Wanken bringen könnten, birgt die Feldarbeit das Versprechen, Szenen mitzuverfolgen, Sprechakte einzufangen und Ereignissen beobachtend gewahr zu werden, die in den Bereich des Unvertrauten, des Überraschenden oder Unglaublichen gehören und sie zur Form einer Feldnotiz gerinnen zu lassen.
Was aber, wenn sich das zu Beobachtende entzieht, in Unordnung gerät oder im Begriff ist zu verschwinden? Wenn das Notizenmachen im Tumult eines Tages durcheinanderkommt und das Gefüge des Forschens fragil wird?
„DÖRFER RETTEN STATT PLÄTTEN“
„DIE 1,5°-GRENZE VERLÄUFT VOR LÜTZERATH“
„LÜTZI LEBT“
„ERNEUERBARE ENERGIEN STATT FOSSILE FANTASIEN“
Lützerath war mal eine Ortschaft in Nordrhein-Westfalen. Das Dorf „gehörte jahrhundertelang zur Gemeinde und Pfarre Immerath. Seine Postleitzahl war bis 1993 die 5141, anschließend 41812. Die größte Einwohnerzahl erreichte Lützerath 1970 mit 105 Menschen. 2010 lebten lediglich noch 50, Anfang 2021 11 Einwohner im Ort“.1 Ungenannt bleiben in diesen Zahlen die Protestierenden, die seit 2020 in den zurückgelassenen Häusern und zuletzt auf Bäumen und Hochsitzen ihre Körper gegen den Lauf der Dinge in Position brachten. Heute – meine Notiz datiert auf den 14. Januar 2023, den letzten Tag der Räumung – ist dieser Protest auf die Äcker ausgewichen, die sich vor der Abbruchkante jenes Braunkohletagebaus erstrecken, dem Lützerath im Wege war. Ein paar Kilometer entfernt spricht Greta Thunberg auf einer Bühne.
Manches in der Geschichte von Lützerath ist an diesem Tag zu Ende. Die Straßenschilder in der Umgebung sind längst ausgewechselt, ernüchternd makellos das Gelb, auf dem nichts mehr an die Existenz der Ortschaft erinnert. Zugleich nimmt eine andere Geschichte Fahrt auf, die aus Lützerath Vieles auf einmal gemacht hat: das Symbol eines abgeräumten Protests (für die Klimabewegungen), eine Katastrophe (im Hinblick auf Verpflichtungen zum Pariser Abkommen und dessen Einskommafünfgrad-Ziel), ein abzutragendes Terrain (für die Schaufelradbagger), eine Komponente eines umstrittenen Plans (zur Behebung der Energiekrise), eine Identitätsfrage (für die Grünen), einen unternehmerischen Glücksfall (für das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk, zu deren Firmeneigentum das Dorf wurde), ein epistemologisches wie handwerkliches Problem (für die Feldforscherïn).
Auf dem Weg zur Abbruchkante. Hinter mir Windräder im Dutzend, einige hundert Meter vor mir das Revier, unter mir die aufgeweichte Erde, neben mir Protestierende, ringsumher Polizei, behelmt, im Pulk, auf Pferden. Unfreundlich, die Witterung. Wind. Ein Demonstrant mit Pelerine, rotorange, womöglich ein Kleidungsstück aus dem Jahr 1968. Das Gewand flattert mit einer Böe nach hinten, als würde sein Träger gleich abheben und die Apokalypse apostrophieren.
In forschungspraktischer Hinsicht bedeutet ‚im Feld sein‘ eher selten, über Äcker zu streifen. Hier im Hinterland aber, zwischen Holzweiler und Keyenberg, bekommt der Feldbegriff eine landwirtschaftliche Dimension, die in den Methodenhandbüchern fehlt.
Wann auf diesen Feldern mit rheinischem Lössboden die letzte Ernte eingefahren worden ist, kann ich nicht herausfinden. Und genauso wenig werde ich wissen, wie es ist und was es für das Leben bedeuten muss, für Wochen, Monate oder länger in einem besetzten Haus oder im Camp auszuharren, auf einem Flecken halbverlassener Erde. Diese Erfahrung lässt sich nicht wie ein Gedanke, eine Meinung, ein Argument, durch ein Gespräch oder ein Interview nachvollziehen; sie ist in die Körper eingeschrieben; sie ist Teil einer Daseinsform, die lange befragt und beobachtet werden kann und doch unübersetzbar bleibt in eine Feldnotiz.
Der Schaufelradbagger, Baujahr 1978, wiegt zwölftausendachthundertvierzig Tonnen und misst in der Höhe sechsundneunzig Meter. Eine demonstrierende Person misst ungefähr zwischen einem Meter vierzig und zwei Metern. Auf zehn Protestrufe entfallen circa drei Polizeipferde. Durch zwei Instanzen ging die Klage des Landwirts Eckardt Heukamp gegen die Abtretung seiner Grundstücke, die vor dem Oberverwaltungsgericht Münster abgewiesen wurde.2
In Lützerath haben Ereignisse statt, die als zeithistorisch bedeutsam gelesen werden. Sie schaffen es am folgenden Tag in die Seiten der New York Times.3 Anders als in einer Berichterstattung, die ihre Blickwinkel und Begriffe schon gefunden hat, gehört es zu den Obliegenheiten meines Forschens im Feld, über die Idee eines ‚Aufschreibens, was sich zuträgt‘, hinauszugehen und erst nach dem Standpunkt zu suchen, von dem aus Beobachtung und Beschreibung möglich werden – und zwar so lange zu suchen, bis eine gebräuchlich gewordene „Ästhetik der ‚Repräsentation‘ radikal in Frage gestellt wird“.4
Dabei kann es geschehen, dass sich der Wunsch, die Dinge festzuhalten, in den Schlamm legen will; dass es den Gedanken an eine „Ethik der erschöpfenden Aufzeichnung“ ebenso rasch fortträgt wie die am Schreibtisch ersonnenen Fragen;5 dass sich der beobachtende Blick auflösen möchte, während der Notizblock nass wird; dass das Konkrete bald nach theoretischer Spekulation ruft.
Für einen Moment hineingeworfen zu sein in die klimaaktivistischen Szenen des Widerstands in Lützerath verändert mein Verständnis von analytischer Distanz, von den Formen, in ein Feld einzutauchen und sich zugleich als dessen Beobachterïn zu imaginieren. Dass dieses Beobachten etwas mit seinem Gegenstand macht, ihn formt (nur schon durch die Wahl einer Perspektive, den Modus der Annäherung) und dass, umgekehrt, Begebenheiten im Feld zurückwirken auf den Beobachtungs- und Beschreibungsapparat, ist nichts Neues. Doch was folgt epistemologisch aus den Verschiebungen, denen Perspektive und Position der Feldforscherïn unterliegen?
Verlangt das Betroffensein von den klimatischen – und das heißt heute immer auch: den kulturellen – Folgen, die das Geschehen im Braunkohletagebau zeitigt, von der Forscherïn einen normativen Standpunkt, ein engagiertes Urteil? Kann es so etwas wie eine neutrale Position gegenüber dem sogenannten Untersuchungsgegenstand geben? Ab welchem Grad der Involviertheit wird aus dem Gegenstand etwas anderes? Ein Mitstand, ein Beistand? Stellt sich dieses Problem bei jeder analytischen Annäherung an soziale Bewegungen? Wie war das Problem zur Zeit des Aufkommens früherer Umweltbewegungen gelagert? Was verhält sich anders, aus forschungspraktischer Sicht, in der Auseinandersetzung mit heutigen Klimabewegungen? Wo kann sich ein Beobachten verorten, das weder ostentativ kritisch noch naiv affirmativ sein soll? Diesseits oder jenseits der Klimabewegungen? An ihrem Rand, in ihrer Mitte, ganz abseits von ihnen? Oder gilt es abzuwarten, bis die Sache historisch zu werden beginnt?
Am Verfließen ist sie bereits, was ihre Infrastruktur betrifft. Von der Lützerather „Protestarchitektur“, die aus Tripods, Seilkonstruktionen, Baumhäusern und anderen Entwürfen bestand, wird nach diesem Tag nur noch „Schrott im Schlamm“ übrig sein.6 Auch Eckardt Heukamps Hof fällt.
Zuvor war ein Kurator vom Deutschen Architekturmuseum darum bemüht, eine einzige der Behausungen im Camp zu erhalten – das sogenannte rotkœhlchen, eine Art Baumhaus, das keinen freien Baum mehr fand – und dank eines mit den Bewohnerïnnen geschlossenen Leihvertrages in eine Ausstellung nach Frankfurt zu verfrachten. Die Abrissarbeiten konnten dadurch indes nicht aufgehalten werden und so lief der Plan ins Leere, „Kulturgut vor der unmittelbaren Zerstörung bewahren“, erzählt Oliver Elser.7
Als prämusealer Gegenstand kann der Protest in Lützerath zumindest in den Plakaten, in den Erzählungen der Dabeigewesenen, in den Photographien fortdauern, und von Letzteren gibt es so viele, dass sie der Arbeit mehrerer Kuratorïnnen bedürfen. Da sind einerseits professionelle Pressephotos. Andererseits künstlerische photographische Arbeiten wie die science-fictionesque Aufnahme eines Schaufelrades am Rande der Abbruchkante, das x-fach über den Twitterkanal ging.8 Und nicht zuletzt gibt es die Bild- und Videoaufnahmen, die von den Protestierenden vor Ort gemacht wurden. Sie dokumentieren ihre eigene Praxis, fortlaufend, digital, auf öffentlichen Kanälen. Die dort versammelten Feeds, News und Posts sind ein Forschungsmaterial für sich. Dessen Inaugenscheinnahme erfolgt in der Regel vorm Bildschirm, im Büro, muss also ohne den Geruch der Lützerather Rauchpetarden auskommen. Wenn ein Feld digital erkundet wird, gibt es auch kein Herumstehen, kein Umherirren, kein Warten und Schauen, was passiert. Keine spontanen Wortwechsel. Das Wetter verliert seine Bedeutung. Ebenso entfällt die Reinigung des Schuhwerks von Ackerresten (und die damit verbundenen kontemplativen Momente).
Jenseits der Romantik liegen auf der Kehrseite des Unterwegsseins im Feld die Erwartungen, die ihm vonseiten einer Methodenliteratur entgegengebracht werden, welche jeden Streifzug zum Datenerhebungsmoment erklärt und ihn als Prozess denkt, der – abzüglich einkalkulierbarer Störfaktoren – routiniert und souverän von der Beobachtung zur Bezeichnung schreitet. Das Feldnotizenmachen läuft dann Gefahr, zu einer durchmethodologisierten Praxis zu werden, die zielgenau spätere Thesen und Argumente vorbereitet und sich in einen Modus des Beschreibenwollens von Konkretem verwickelt, das jeden „Taumel der Denotation“ auf festen Boden zu stellen versucht.9
Im Gegensatz dazu verstehe ich meine Feldnotizen auch als ein Archiv der Unschlüssigkeit, des Erstaunens, des Zögerns und Zweifelns, die während des Beobachtens präsent waren und es verlangsamt haben. Als Teil eines Forschungsprozesses, der sich seiner epistemischen Dinge nicht sicher sein kann, wird dieses Feldnotizenmachen zu einer „erkundenden Bewegung“, zu einem „offenen Arrangement“, das Erkenntnisinteressen vor neue Fragen stellt.10
Zum Beispiel das Interesse an klimaaktivistischen Denkstilen, in denen wissenschaftsgesättigte Szenarien und planetarische Zukunftsentwürfe Kontur gewinnen: Einskommafünfgradzukünfte, die von den Orten des Protests in politische, alltägliche, akademische, künstlerische Kontexte zirkulieren und sich – weit über die Klimabewegungen hinaus – in Weisen des Inderweltseins einschreiben. Ob das Ende von Lützerath verändert, wie über diese Zukünfte verhandelt und nachgedacht wird? Eine Frage, die in ihrer Maßstäblichkeit zu groß ist für diese Notiz. Was Lützerath – als Diskursereignis – tut, lässt sich aus einer auf dem Acker stehenden Perspektive, die keine Perspektive von oben sein kann, nicht ermessen und bleibt am Ort des Geschehens genauso unterhalb der Schwelle des Palpablen wie die Materie, an der sich der Konflikt um Lützerath einst entzündet hat: die Braunkohle, dort unten in der Erde.
Das Ungreifbare, das kaum Manifeste, das Unübersetzbare, das nicht Benennbare, das Unscheinbare: Sie gehören mindestens so sehr zum Forschen da draußen wie das, was gewöhnlich dem Bereich des Empirischen zugeordnet wird. Im Durcheinander, das Feld genannt wird, öffnet sich dem Beobachten manchmal nur ein Spalt. Und oftmals geschieht es erst später, dem Geschehen enthoben, an einem Schreibtisch, dass sich die Details hervortun.11 Details, die sich selten antizipieren lassen. Details, die nicht in eingespielte Formen der Beschreibung hineinpassen oder das Nachdenken auf Umwege, Seitenwege und Abwege führen. Ihnen bietet eine Feldnotiz Platz, wenn sie nicht als funktionsfertiges Werkzeug, sondern als ausfransende Textform für das Tentative gedacht wird.
Dieses Feldnotizenmachen gelangt kaum je zu einem Ende, wenn es um Klimadinge geht, die disparat sind, beständig in Bewegung, mit unterschiedlichsten Problemzusammenhängen und Protagonistïnnen verknüpft, verteilt auf eine Vielzahl an Orten. Umkämpfte Orte und solche, die kaum jemand auf der Landkarte hat; Orte des Faktischen (das Klimaforschungsinstitut); Orte der Kunst (das Atelier, die Ausstellung); Alltagsorte (das Kino, die Kneipe, der Küchentisch); Verhandlungsorte (das Gericht, das Parlament, die Klimakonferenz); Protestorte (der Forst, die Abbruchkante). Das Feld ist hier in Lützerath, und es ist überall.
Nomadisch muss sie bleiben, meine Feldforschung, die der klimabewegten Gegenwart weder eine Diagnose ausstellt noch mit einer Lösung beikommen kann, sondern sie in Fragen verwandelt. Ort um Ort, Notiz um Notiz um Notiz um Notiz.
References
- So notiert es, in einem im Mai 2023 zuletzt aktualisierten Eintrag, Wikipedia (2023): Lützerath [https://de.wikipedia.org/wiki/Lützerath] (letzter Zugriff: 06.06.2023).
- OVG Münster (2022): Aktenzeichen 21 B 1675/21, Pressemitteilung vom 28.03.2022 [https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/01_archiv/2022/21_220328/index.php] (letzter Zugriff: 15.05.2023).
- Schuetze, Christopher (2023): German Village at Center of Fight Over Coal and Climate Is Cleared, in: The New York Times, 15.01.2023, S. 8.
- Barthes, Roland (2012 [1968]): Der Wirklichkeitseffekt, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 164-172, hier S. 172.
- Hoffmann, Christoph (2018): Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 113. [https://doi.org/10.1628/978-3-16-156321-8]
- Simon, Alex (2023): Lützi bleibt doch nicht, in: Hochparterre [https://www.hochparterre.ch/nachrichten/architektur/luetzi-bleibt-doch-nicht#], 20.01.2023 (letzter Zugriff: 09.04.2023).
- Deutschlandfunk Kultur (2023): Gebauter Protest [https://www.deutschlandfunkkultur.de/protestarchitektur-luetzerath-baumhaus-deutsches-architekturmuseum-100.html] (letzter Zugriff: 15.05.2023). Übrigens wurden höhergelegene Baumhäuser im Hinblick auf eine Musealisierung nicht in Betracht gezogen, „ohne entsprechende Deckenhöhe, ohne entsprechenden Baum“ im Ausstellungsraum, gibt der Kurator zu Protokoll.
- ARTE (2023): La roue infernale, de la mine à l’écran, in: Le dessous des images [https://www.arte.tv/fr/videos/110342-054-A/le-dessous-des-images/], 13.04.2023 (letzter Zugriff: 09.05.2023).
- Barthes 2012 (1968), S. 168.
- Rheinberger, Hans-Jörg (2006): Zettelwirtschaft, in: Ders.: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 350-361, hier S. 354. Wie sich die alltäglichen „Schreibakte“ (Hoffmann 2018, S. 9) in einem Labor, die allerlei „ins Unreine formulierte Notizen, Kritzeleien und überschriebene Protokolle“ (Rheinberger 2006, S. 350) hervorbringen und daraus Erkenntnismomente in Gang setzen, in ihren Einzelheiten mit dem Feldnotizenmachen vergleichen ließen, wäre eine interessante Frage.
- „Most writing is sedentary activity“, bemerkt James Clifford nebenbei, mit Blick auf exemplarische Feldszenen aus der Geschichte der Kulturanthropologie, und betont, wie in einer Praxis des Notizenmachens, die zwischen „writing down, writing over, or writing up“ hin- und herschwankt, auch Vorstellungen von der Abgeschlossenheit und Abgrenzbarkeit des Feldes fraglich werden: „‚The field‘, seen as a place of writing, leaks“ (Clifford, James [1990]: Notes on (Field)notes, in: Roger Sanjek [Hrsg.]: Fieldnotes. The Makings of Anthropology, Ithaca: Cornell University Press, S. 47-70, hier S. 63, 68, 64).
SUGGESTED CITATION: Decker, Kris: Feldnotiz: Lützerath, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/feldnotiz-lutzerath/], 19.06.2023