Alexander WierzockUwe DörkMehr oder Weniger | More or Less

Asketischer Minimalismus und snobistischer Maximalismus

Asketischer Minimalismus und snobistischer Maximalismus Maß und Art von Verzichten in der frühen Soziologie Erschienen in: Mehr oder Weniger | More or Less Von: Alexander Wierzock, Uwe Dörk

Asketischer Minimalismus

„Ich male mir als schönes Lebensziel aus, mich einmal zurückzuziehen, ein Häuschen und ein paar Morgen Ackerland […] zu erhalten und ‚rationell‘ zu bewirthschaften“, schrieb der noch junge Ferdinand Tönnies im März 1880 an seinen Freund und Mentor Friedrich Paulsen.1 Dieses Bild als bescheidener Pächter eines kleinen „holsteinischen Landgutes“ schmückte er zudem mit einem Zitat von Horaz, dem römischen Dichter maßvoller Bescheidenheit: „[h]ortus ubi et tecto vicinus iugis aquae fons et paulum silvae super his foret.“2 Ein Leben in ‚bescheidenen‘ Verhältnissen mit Häuschen, Gärtchen und Äckerchen, mit Wäldchen und sprudelndem Quellchen sollte ihm als Inhalt genügen. Jedem Streben nach sozialer Anerkennung oder nach politischer und wissenschaftlicher Wirkung erteilte er dagegen eine Absage – zumindest im Reich der Wünsche.

Eine andere, noch häufiger kommunizierte Variante einer solchen Idylle bot er mit der Gründung einer ländlichen „Stoa oder Akademie“ jenseits der Universitäten „in anmutigster Gegend“, wo er „eine Gruppe von Häusern“ errichten wollte.3 Diese sollten befreundete Familien beziehen, um dort philosophisch Begabte auszubilden. Allen solchen Wunschräumen gemeinsam ist der Rückzug von dem, was der Sozialanalytiker Tönnies mit ‚Gesellschaft‘ verband: Urbanität, Anonymität, kapitalistische Gleichgültigkeit, Streben nach Gewinn, nach Reizen aller Art. Stattdessen wünschte er sich ein asketisches Leben ohne soziale Etikette in anmutiger Natur, bevorzugt ohne Alkohol, ohne Fleisch und dafür mit intensivem Genuss an geistiger Nahrung, an philosophischem Austausch und solidarischer Gemeinschaftspflege.

Ein gutes und richtiges Leben stand für Tönnies unter dem Zeichen eines asketischen Minimalismus. Und das galt auch für die Wahl seiner Ehegattin Marie (geb. Sieck), die als tugendreiche Tochter eines verarmten Landwirts für ein Leben in Bescheidenheit geeicht sei, wie er sich 1893 dem befreundeten Philosophen Paul Natorp anvertraute. Mit ihr könne er ein minimalistisches Leben „wagen – da sie alles versteht – meine Unabhängigkeit auf ein Einkommen von 3000 M [Mark] zu begründen, zumal da ich etwanige [sic] Kinder nicht zu Reserve-Lieutnants und Balldamen erziehen würde.“4

Diese Existenzplanungen passten zu der Situation, in der sich Tönnies damals befand. Im Jahr 1893 haderte er mit der Aussicht auf eine Professur unter preußischer Verwaltung, von der er sich kurz nach seiner ordentlichen Berufung (1913) entpflichten ließ, um lieber die gegenüber Natorp beschworene Unabhängigkeit in asketischer Bescheidenheit zu wahren. Darüber hinaus war er seit 1892 Mitglied in der von ihm mitbegründeten Ethischen Gesellschaft, deren Programm die Entsagung gegenüber einer von Konsum und Amüsement beherrschten hedonistischen Welt forderte.5 Wie sehr Tönnies selbst von dieser Verzichtsethik überzeugt war, geht aus dem 1893 von ihm verfassten ‚Manifest zur ethischen Kultur‘ hervor, das von jedem ein „Stück persönlicher Aufopferung“ und den Verzicht auf die „Jagd nach Geld“ und „Vergnügen“ forderte.6

Snobistischer Maximalismus

Das hohe Lob auf den Verzicht und die Vorliebe für das Deminutiv zur Beschreibung materieller Lebensverhältnisse (Häuschen, Äckerchen, Wäldchen, …) verhüllen allerdings kaum, dass sich Tönnies niemals in ein wirklich bescheidenes Leben einzufinden vermochte. Für Paulsen, der als Kind einfacher schleswigscher Bauern aus dem Grenzland zwischen Geest und Marsch stammte, verkörperte der großbäuerliche Tönnies geradezu mustergültig den „Sohn des reichen Mannes“.7 Zur Illustration findet sich in Paulsens Memoiren eine Episode, die einen Einblick in die reale Tönnies´sche Lebensführung verrät: Bei einer gemeinsamen Fußreise, die ihn und Tönnies 1880 in den Harz geführt hatte, habe sich sein Freund „an den Buden bei Thale […] alle Taschen mit […] glänzend geschliffenen Steinen“ gefüllt.8 Die Mineralien hatten „nicht wenig Geld“ gekostet.9 „Sobald wir zu gehen und gar zu steigen anfingen, drückte ihn ihre Last, und er schalt [sich] über seine Torheit, bis er sich nach und nach des ganzen Schatzes, der ihm eben so lockend erschienen war, wieder entledigt hatte.“10 Aus dem Harz zurück, war Paulsen erschüttert: An „Toni“, schrieb er einem gemeinsamen Freund über die vergangene Reise, überraschte mich sein „Überfluß an Bedürfnissen. Ich dachte nicht, daß er so gebildet erzogen worden sei.“11

Diese Zitate offenbaren nicht nur eine Diskrepanz zwischen moralisch stilisierter Askese und faktischem Konsumverhalten, sondern auch die habituelle Eigenart von Tönnies als Bildungsgroßbürger. Diese wird noch deutlicher, wenn man die Vorbereitung der vermeintlich schlichten Harz-Wanderreise in den Blick nimmt: „P. S. Würde noch beantragen“, schrieb Tönnies an Paulsen,

in Halberstadt im ‚Goldenen Ross‘ abzusteigen, der Wegweiser bemerkt dabei ‚Honoratioren vom Lande‘, was für mich eine Empfehlung scheint. Oder aber in einem ab Hôtel IIIten Ranges bezeichneten Hause: Goldener Arm oder Deutsches Haus. Die Hôtels ‚IIten‘ Ranges pflegen ebenso schlecht als uninteressant zu sein.12

Entweder verkehrt der Gelehrte, der nicht mit Spießern, Philistern oder anderen banalen Gestalten verwechselt und gelangweilt werden möchte, in der höchsten sozialen Klasse oder kräftig darunter. Von dem geselligen Verkehr der sich überall in Seebädern, Bergen und Kurorten breitmachenden zweiten Klasse, der öden gehobenen Mittelschicht, hat er sich also fernzuhalten – so eine wiederkehrende Maxime der Urlaubsplanung.

Abb. 1: „P. S. Würde noch beantragen …“: Tönnies an Paulsen, 07.05.1880, SHLB, Nl. Tönnies, Cb 54.51: Paulsen, 29 © Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek zu Kiel

Diese von Tönnies befolgte Praxis konnte ausgesprochen dandyhafte Züge annehmen: „Ich muss mich selber anstaunen,“ schrieb Tönnies im Juli 1883 an Paulsen, der gerade den Tod seiner Ehefrau Emilie (geb. Ferchel) zu verkraften hatte, „daß ich nun ganz vergnügt im Gebirge sitze, sehr weit von Euch Teuren und von den Sachen, die ich meine Pflichten nennen muß“ entfernt.13 „Ein selbstvergessener Daseynsgenuß ist mir aber gerade schlechthin notwendig und ich bin entschlossen, um der werten Selbsterhaltung willen mir nichts dergleichen entgehen zu lassen.“14 So kam Tönnies darauf zu sprechen, dass er nach Flims in die Schweizer Alpen gereist war, wo er gerade, wie er weiter berichtete, „in höchst anmutigem Trio“ mit „Paul Rée und Lou Salomé“ lebte und mit diesen die „ganze 2te Etage“ eines neugebauten Logierhauses bezogen hatte.15 Das war der Anfangspunkt einer mehrmonatigen kostspieligen Reise, die Tönnies noch nach Italien, Österreich-Ungarn und München führen sollte.

Askese und Überflussakkumulation

Die hier aufgeführten Briefstellen verdeutlichen aber nicht nur das ganze Ausmaß einer materiell hochgradig entlasteten Lebenssituation. Der zuletzt als Überlebensfrage gerechtfertigte „Daseynsgenuß“ fügt sich vielmehr ein in den Kontext einer schier endlos larmoyanten Briefkorrespondenz: In dieser beklagte Tönnies fortwährend seinen Mangel an eigener Produktivität und akademischer Anerkennung, das Mittelmaß der universitär erfolgreicheren Konkurrenz und vor allem seine wiederkehrenden seelischen und körperlichen Gebrechen. Seine gesicherte Existenz und zugleich funktionale Uneingebundenheit gewährten ihm zwar ein Höchstmaß an Bildung und Freiheit. Sie korrespondierten aber ebenso mit permanenter Willens- und Entscheidungsschwäche, mit dem Zwiespalt zwischen Askeseverlangen und Konsumexzess, Hypochondrie, romantischem Weltschmerz und körperlicher Indisponibilität.

Der mit Tönnies befreundete Soziologe Max Weber prägte um 1900 die Figur des „asketischen Protestantismus“.16 Er fragte damit – auch mit Blick auf die eigene bürgerliche Herkunft – nach der Kulturbedeutung des modernen Kapitalismus und letztlich der Moderne selbst, die als historische Projektionsfolie auch auf den Fall Tönnies zu passen scheint: Laut Weber resultierte aus der tiefen metaphysischen Verunsicherung infolge der calvinistischen Prädestinationslehre ein Zwang, äußere Heilszeichen in Form von Kapital zu akkumulieren. Nach dem Konkurs der einst kirchlich verwalteten Gnadenschätze konnte sich niemand mehr sicher sein, zu den Heilserwählten zu zählen. Als Kompensation blieb nur noch der „Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens“.17 Seit Martin Luthers religiöser Aufladung des Berufs zur Berufung galt außerdem der weltliche Erfolg ebenso als Merkmal des Erwähltseins. Somit konnte jede Anhäufung symbolischer Kapitalien – seien sie monetärer, sozialer oder kultureller Art – letztendlich zu Heilszeichen werden.

In der Wissenschaft hatte sich – ungeachtet der Tatsache, dass hier ein ewiges Leben durch die Semantik des Fortschritts und Veraltens wissenschaftlichen Wissens unmöglich geworden war – jedoch ein säkulares Äquivalent zum Himmelreich gebildet: Die Ausrufung neuer wissenschaftlicher Disziplinen und Wissensgebiete eröffnete neue Firmamente, die einigen Wenigen Platz für ein ‚ewiges‘ Funkeln boten. Der Versuch, neue Wissensgebiete zu betreten, verlangte jedoch das Verlassen gewöhnlicher Pfade und machte den Karriereerfolg unwahrscheinlich. Ein ‚Hasardspiel‘ nannte Max Weber diese Art der Karriere.18 Diejenigen, die sich auf diesen „Hazard“ einließen, erhielten also wenig Bestätigung und waren auf intrinsische Motivation zurückgeworfen (= Askese). Zugleich war das ostentative Sich-Abheben von Gewöhnlichen und Gewöhnlichem notwendig (= Snobismus). Aus beiden Gründen brachten nur Privilegierte die materiellen, intellektuellen und habituellen Voraussetzungen für einen Weg mit, der primär ein Leben für und nicht von Wissenschaft verhieß. Umso mehr galt auch hier die Maxime, so viel als möglich symbolisches Kapital anzuhäufen, ohne zu wissen, ob dieses zählt: Ob es sich in organisatorische Positionen und anerkannte Ehren(posten) umsetzen ließ – geschweige denn, ob es zum dauerhaften Bestand des neuen Wissensfeldes beitrug.

Ferdinand Tönnies bietet in dieser Hinsicht geradezu einen Musterfall eines solchen Hazards, wie auch Max Weber viele Passagen in Wissenschaft als Beruf (1917) mit Blick auf seinen Kollegen geschrieben haben dürfte, der schließlich wie kaum ein andere das neue Fach Soziologie zu verkörpern begann.

References

  1. Tönnies an Paulsen, 24.03.1880, SHLB, Nl. Tönnies, Cb 54.51: Paulsen, 25. Vier Morgen umfassen im Holsteinischen circa 20,2 qm² Land.
  2. Ebd. Hor. sat. 2, 6: 3–4; Dt.: „… ein Garten, eine Quelle nah am Hause, und etwas Wald dazu“.
  3. Tönnies an Paulsen, 27.03.1881, SHLB, Nl. Tönnies, Cb 54.51: Paulsen, 44.
  4. Tönnies an Natorp, 01.05.1893, UB Marburg, Nl. Paul Natorp 831: 129/143
  5. Wierzock, Alexander (2022): Ferdinand Tönnies (1855–1936). Soziologe und Ethiker, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 48-60.
  6. Tönnies zit. n. Wierzock, Alexander u. Jens Herold (2023): Humanisierung der sozialen Welt: Ferdinand Tönnies als Soziologe und Ethiker. Ein Kieler Manifest zur ethischen Reform, in: Kieler sozialwissenschaftliche Revue, Nr. 1, S. 41–70, hier S. 60, 56.
  7. Paulsen an Reuter, 25.05.1893, UArch HU-Berlin, Nl. Paulsen, o. Sgn.
  8. Paulsen, Friedrich (2008): Aus meinem Leben. Vollst. Ausg., Bräist: Nordfriisk Inst., S. 248.
  9. Ebd.
  10. Ebd.
  11. Paulsen an Reuter, 29.05.1880, UArch HU-Berlin, Nl. Paulsen, o. Sgn.
  12. Tönnies an Paulsen, 07.05.1880, SHLB, Nl. Tönnies, Cb 54.51: Paulsen, 29.
  13. Tönnies an Paulsen, 11.07.1883, SHLB, Nl. Tönnies, Cb 54.51: Paulsen, 80.
  14. Ebd.
  15. Ebd.
  16. Weber, Max (2014): Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Ders.: MWG. I,9, hg. v. Wolfgang Schluchter i. Z. m. Ursula Bube, Tübingen: J. C. B. Mohr, S. 242-425. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07432-6_3.
  17. Weber, Max (2014): Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: Ders.: MWG. I,9, hg. v. Wolfgang Schluchter i. Z. m. Ursula Bube, Tübingen: J. C. B. Mohr, S. 123-215, hier S. 149.
  18. Ders. (1992): Wissenschaft als Beruf, in: ders.: MWG. I,17, hg. v. Wolfgang J. Mommsen & Wolfgang Schluchter i. Z. m. Birgitt Morgenbrod, Tübingen: J. C. B. Mohr, S. 71–111, hier: S. 75–80.

SUGGESTED CITATION: Dörk, Uwe; Wierzock, Alexander: Asketischer Minimalismus und snobistischer Maximalismus. Maß und Art von Verzichten in der frühen Soziologie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/toennies-minimalismus-und-maximalismus/], 26.06.2023

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20230626-0830

Write a Reply or Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *