Florian DeckersPixelprojekt+City Scripts

Graffiti im Ruhrgebiet

Graffiti im Ruhrgebiet Zwischen öffentlicher Kunst und Gestaltungshoheit im städtischen Raum Erschienen in: Pixelprojekt+City Scripts Von: Florian Deckers

[Dieser Beitrag erscheint in der Reihe „City Scripts trifft Pixelprojekt_Ruhrgebiet“, einer Kooperation des KWI-Blogs, dem Leiter des „Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ Peter Liedtke (DGPh) und Autor*innen des Forschungskollegs City Scripts, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit Bildserien des Pixelprojekt_Ruhrgebiet auseinandersetzen.]

Graffiti als kulturelle Praxis ist vielschichtig und geht über die eigenmächtige Umgestaltung von privaten Häuserwänden oder Transportmitteln des öffentlichen Personennahverkehrs hinaus, welche im politischen sowie öffentlichen Diskurs oft auf Schlagworte wie ‚Schmiererei‘ und ‚Vandalismus‘ reduziert wird. Als urbane Praxis jüngerer bis junger Menschen geht es sowohl um die temporäre Aneignung von öffentlichem Raum im Sinne von Michel de Certeaus „Taktiken“1 als auch um kreative Einschreibung in die Stadt – oder, in anderen Worten, die inneren und immer dagewesenen Wünsche des Menschen etwas Bleibendes zu erschaffen und sich Gehör zu verschaffen.2 Dabei spielen Motive von sozialem Kapital und Teilhabe innerhalb der Subkultur sowie der Gesellschaft an sich genauso eine Rolle, wie der Wille zur ornamentalen Veränderung von grauen Lebensräumen mit bunten Farben.3 Dass sich in dieser Praxis ebenso hedonistische als auch destruktive Motive identifizieren lassen, steht außer Frage. Sie sind aber gerade in jugendlichen Subkulturen, wie auch in der Welt der Kunst, keine ungewöhnlichen oder gar seltenen Begleitumstände.

Die an der amerikanischen Ostküste, genauer gesagt in New York und Philadelphia, entstandene Kunstform, das sogenannte Writing, ist schon seit Jahrzehnten auch in Deutschland etabliert. Insbesondere durch den Film Wild Style hat Graffiti Anfang der 1980er Jahre seinen transnationalen Erfolgszug rund um den Globus begonnen. Und so hat es sich in der Mitte der 1980er Jahre auch im Ruhrgebiet, welches bekannterweise über reichlich Beton verfügt, der den Graffiti-Künstler*innen als Leinwand dienen kann, etabliert. Dortmund spielt im Kontext von Graffiti im Ruhrgebiet von jeher eine besondere Rolle. Zum einen war die Hansestadt die erste Stadt im Ruhrgebiet, in der Künstler in einem Hip-Hop-Umfeld aktiv waren und früh sowohl getanzt, gerappt und Musik produziert als auch Graffiti gemalt haben. Dortmunder Writer wie Chintz, Zodiak oder Shark, allesamt Mitglieder der TUF Crew (The United Force), haben die Szene nachhaltig mit ihrem Stil geprägt.4 Der Dortmunder Style, der durch seine extrem blockigen und klaren Buchstaben auffiel, fand im übrigen Ruhrgebiet aber auch international viele Fans und Nachahmer.5 Beinahe 40 Jahre später hat Dortmund noch immer eine besondere Beziehung zu Graffiti: So ist am Dortmunder Hafen im April 2022 die größte Hall-of-Fame Nordrhein-Westfalens entstanden. Dort kann auf einer 600 Meter langen Wand legal gemalt werden.

Solche Hall-of-Fames sind im Ruhrgebiet keine Seltenheit. So finden sich neben der bereits erwähnten Hall-of-Fame in Dortmund beispielweise auch an der Ruhr-Universität in Bochum, in Duisburg im Landschaftspark, in Essen und vielen anderen Städten der Region Orte, an denen Graffiti-Künstler*innen legal ihrer Leidenschaft nachgehen können. Die elaborierten Wandbilder (welche Pieces genannt werden, was eine Kurzform für Masterpieces ist), die dort zur Schau gestellt werden, lassen sich zum einen gut für das Stadtmarketing nutzen. New York, welches als Geburtsstadt der Hip-Hop-Kultur gilt und dies auch so bewirbt, lockt jedes Jahr viele Touristen mit dieser genuin urbanen Kunstform in die Stadt. Es werden Walking-Tours angeboten und Graffiti-ähnliche oder inspirierte Kunst wird in SoHos Galerien verkauft. Mittlerweile gibt es auch im Ruhrgebiet in vielen Städten geführte Touren, wie auch die Möglichkeit die Stadt auf eigene Faust auf ihre öffentliche Kunst hin zu erforschen. Zum anderen wird der künstlerische Wert dieser Pieces nur noch von den Wenigsten angezweifelt. Ein Umstand, der nicht für das Gros der Werke gilt, die aus dieser Praxis hervorgehen. Die Tags und Throw-Ups, die auch im Ruhrgebiet allgegenwärtig sind, sind in der öffentlichen Meinung und von städtischer Seite nicht gerne gesehen, gehören letztlich aber genauso zu dieser Kultur wie die elaborierten Wandbilder an den legalen Wänden.

In seiner Bildreihe Graffiti City hat der Fotograf Benito Barajas das Graffiti in Dortmund und im übrigen Ruhrgebiet jenseits von legalen Hall-of-Fames und gesäubertem Image sowie einem gut vermarktbaren Street-Art-Ansatz verewigt. Insbesondere das am Südbahnhof entstandene Bild, in dem drei dunkle Silhouetten auf dem Dach einer bemalten Halle stehen, zeigt den im Graffiti inhärenten Ansatz der (temporären) Aneignung des öffentlichen Raums deutlich. Die dreidunklen Gestalten bleiben – wie im Graffiti üblich – für außenstehende Betrachter*innen anonym und zeigen gleichzeitig ihren Mut und Willen zur Aneignung des Raums auch durch das Erschließen von Räumen, die so nicht für die Öffentlichkeit gedacht oder sogar verboten sind – so wie das nur schwer zugängliche Dach auf dem sie stehen (Fig. 1). Barajas nächtliche Aufnahmen sind sowohl lokal als auch auf zeitlicher Ebene nah an der Kunst und deren Machern*innen: So sind die Fotografien zu der Zeit entstanden, in der üblicherweise auch ein Großteil der illegalen Kunstwerke selbst entsteht. Die Dunkelheit dieser Bilder lässt die Betrachter*innen in Gedanken selbst in die Rolle der Writer schlüpfen, die nachts das Gesicht der Stadt verändern.

Fig. 1: Benito Barajas Foto aus der Serie Graffiti City, Südbahnhof, Dortmund, 2010 (© Benito Barajas).

Durch die besondere Ausleuchtung lenkt der Fotograf den Blick geschickt auf die eigentlichen Protagonisten seiner Bildreihe, nämlich die im Mittelpunkt stehenden Graffiti. Durch die starke Vignettierung der Bilder wird dieser Effekt noch verstärkt. Die Wandbilder selbst zeigen eine für die Kunstform typische stilistische Vielfältigkeit und Varianz: So finden sich neben Characters und vergleichsweise kleinen Schriftzügen/Panels im aufwendigen Wildstyle, auch ein großflächiges, in simplen Blockbuchstaben gehaltenes Chrom-Bild mit den Buchstaben SEG (Fig. 1). Außerdem sind kleinere Chrom-Bombings an den Seiten der Halle und umliegenden Mauern genauso zu finden wie eine Vielzahl an Tags, die zwar einen gleichbedeutenden Bestandteil der Subkultur darstellen, der im öffentlichen Diskurs allerdings auf die größte Ablehnung stößt.

Barajas integriert neben den drei Personen auf dem Dach und den, durch deren Ausleuchtung besonders betonten, Graffiti auch den Boden vor der Halle. Dieser trägt, mit einem Bildanteil von etwas weniger als einem Drittel, nicht nur zu den harmonischen Proportionen des Fotos bei, die der Regel des goldenen Schnitts entsprechen zu scheinen.6 Es wird auch das Umfeld beziehungsweise das Setting der Halle trotz der Dunkelheit im Bild betont. Auf dem Untergrund lässt sich einiger Müll und Schrott erkennen, der den Standort als ehemals industriell genutzten Raum markiert. Die Halle befindet sich offensichtlich in einem Gebiet, welches nicht regelmäßig gereinigt wird, man könnte von einem verwahrlosten Teil der Stadt sprechen oder einfach von einer typischen postindustriellen Brache. Deren noch nicht vollzogene Umdeutung/Strukturwandel beziehungsweise der noch nicht durchgeführte Abriss und nachfolgende Neubebauung ermöglichen die kreative Umgestaltung des Raumes auf Zeit.

Fig. 2: Benito Barajas Foto aus der Serie Graffiti City, Südbahnhof, Dortmund, 2010. (© Benito Barajas).

In fast allen anderen Bildern von Barajas Serie finden sich keine menschlichen Protagonisten und der Fokus liegt auf den Graffiti und ihrer Umgestaltung des Raumes, aber auch der Anpassung an den jeweiligen Raum. Die Eroberung beziehungsweise temporäre Aneignung dieser städtischen Räume durch das Hinterlassen von grafischen und textlichen Zeichen und Alter-Egos wertet diese, in Marc Augés Sinne, zum Ort auf. Die Bestandsdauer solcher Aneignungen beziehungsweise subjektiven Aufwertungen ist stark an die Öffentlichkeit des Ortes im Stadtbild gekoppelt. Der Südbahnhof oder auch der Dortmunder Hafen zeichnen sich dabei durch ihre geringe Zentralität für Außenstehende aus. Um mit Augé zu sprechen, handelt es sich in den meisten Fällen um sogenannte Nicht-Orte7 (aus dem Französischen non-lieux), also solche Plätze und Stellen bei deren Aneignung die Künstler*innen auf wenig Widerstand durch Anwohner und/oder staatliche Organe treffen. Die Ausdrucksflächen für eine marginalisierte Gruppe sind somit im wahrsten Sinne des Wortes an ebenso marginalen Plätzen verortet: das heißt, an Transitorten und städtischen Randgebieten, wie Bahnhöfen und Schallschutzwänden an Autobahnen, sowie an ehemaligen Industriestandorten und in leerstehenden Gebäuden (Fig. 2).

References

  1. De Certeau, Michel (1984): The Practice of Everyday Life. University of California Press, S. 37.
  2. Michel de Certeau beschreibt die ungeplante beziehungsweise illegale Nutzung öffentlichen Raumes durch marginalisierte Bewohner – egal ob diese Marginalisierung auf wirtschaftlicher, ethnischer, religiöser oder kultureller Grundlage geschieht, oder wie in den meisten Fällen aus einer Kombination – zu ihrem eigenen Nutzen als Taktiken. Er stellt diese subversive Raumnutzung und temporäre Aneignung, die Bottom-Up geschieht, den ‚Strategien‘ (36) gegenüber, welche durch die dominanten Kräfte in einem Raum vorgegeben werden. Als Beispiel für eine solche Strategie könnte man einen Bebauungsplan nennen, der eine raumbezogene Planung und Vorgabe darstellt, welche von städtischer Seite ausgeht.
  3. Schacter, Rafael (2014): Ornament and Order: Graffiti, Street Art and the Parergon. Ashgate, 2014, S. 10.
  4. Für eine detaillierte und bebilderte Geschichte des Graffitis in Dortmund von seiner Anfangszeit in den 1980er Jahren bis zu den frühen 2000er Jahren siehe Markus Wiese (2002): Iron City: Graffiti Dortmund. MASmedia.
  5. Für eine systematische Klassifizierung unterschiedlicher Graffiti-Styles siehe Lisa Gottlieb (2008): Graffiti Art Styles: A Classification System and Theoretical Analysis. McFarland.
  6. Paterna, Stefano (2018): Urbane Fotografie – In der Stadt fotografieren: Sehenswürdigkeiten, Architektur, Menschen. mitp Verlag.
  7. Augé, Marc (2014): Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, 4. Auflage, C.H. Beck (1960).

SUGGESTED CITATION: Deckers, Florian: Graffiti im Ruhrgebiet. Zwischen öffentlicher Kunst und Gestaltungshoheit im städtischen Raum, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/graffiti-im-ruhrgebiet/], 22.06.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220622-0830

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