Volker M. Heins

Hinter Mauern

Hinter Mauern Wie Abschottungsfantasien die offene Gesellschaft gefährden Von: Volker M. Heins

Der folgende Beitrag basiert auf der Einleitung zu einem Buch, das in diesem Frühjahr erscheint: Volker. M. Heins und Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2023.

Die neuen Mauern um Europa – der hohe Stahlzaun an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland, der ungarische Zaun an der serbischen Grenze, das Mittelmeer oder der Ärmelkanal als „schwimmende Berliner Mauern“, wie es ein amerikanischer Anwalt einmal ausdrückte – all diese Mauern beschädigen unsere Gesellschaft. Nicht schlagartig, sondern allmählich und unauffällig. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen, – Grenzen, die angeblich dem Schutz aller dienen. Einige dieser Bilder sind ikonisch geworden und haben sich unauslöschlich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des kleinen Jungen in kurzen Hosen, der an einem Strand an der türkischen Mittelmeerküste liegt, wo er tot angeschwemmt wurde. Das Bild mit den zwei Golfspielern, die auf dem Fairway ihres Golfplatzes in der spanischen Exklave Melilla stehen, während im Hintergrund ein gutes Dutzend Flüchtlinge über den hohen Zaun klettern will, der die Exklave in Nordafrika von Marokko trennt. Oder vielleicht auch das Bild des total erschöpften afrikanischen Migranten, der unter den Augen von Touristen in Badeanzügen auf allen Vieren über einen Strand auf den Kanarischen Inseln kriecht.

Schlüsselbilder der Migrationskrise

Solche Schlüsselbilder bedürfen keines Textes, um sofort eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte über extreme Ungleichheit, über Not und Verzweiflung oder die „Festung Europa“. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer. Als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, Jemen, Ägypten, Irak und Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Beamten mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“.1 Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden verfasst, Zäune errichtet. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten – 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 bestätigt.2 Die EU hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato erklärte ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“.

Über das Medium der einströmenden Bilder wurden unterschiedliche Diskurse weitergesponnen und ausgeformt. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten auf die Bilder von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten mit Entsetzen und dem Hinweis auf europäische Werte, die Menschenwürde und das internationale Recht. Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich vor einem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“3 Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr überhaupt nicht bewusst zu sein.

Bilder aushalten

Andere Politiker ließen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung der Bilder notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas. Wir müssten sie „aushalten“, sekundierte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer.4 Interessant an diesen Aussagen war, dass sie allesamt nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland gerichtet waren. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich gebaut wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie richteten sich die Appelle aber an die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der mangelnden „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind.

Gesellschaft als Insel?

Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, von der erwartet wird, dass sie ebenfalls auf Abwehr umschwenkt. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere gewählte Politiker forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sind. Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans Utopia (1516). Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs war es, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, so dass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.5

Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, je radikaler sie sich nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Mit diesen Auswirkungen von befestigten Grenzen nach innen gilt es sich näher zu beschäftigen.

Zu beachten ist auch, dass die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend waren allerdings viele Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.6 Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext. Und anders als den Studierenden aus afrikanischen oder asiatischen Ländern, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs in der Ukraine aufhielten und an der ukrainischen Grenze bei Ausreise aus dem Land sowie bei der Einreise in die EU diskriminiert wurden.7

Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe von weißen Flüchtlingen aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die von syrischen Flüchtlingen vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen des gleichen Landes die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten. Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge.“8

Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen.9 Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.10

Leben hinter Mauern

Notwendig ist ein Perspektivenwechsel. Während der Wandel von Gesellschaften durch Migration ein oft behandeltes Thema ist,11 haben sich nur wenige mit dem Thema beschäftigt, wie sich Gesellschaften verändern, wenn sie Migration mit immer massiveren Mitteln abwehren. Wir gehen nicht davon aus, dass die Abwehr von unerwünschter Migration, besonders aus dem globalen Süden, immer und dauerhaft gelingt. Das oft bemühte Bild von der „Festung Europa“ ist ohne Zweifel problematisch. Die Abschottung gegen Migranten ist keine stabile Realität, sondern Wille und Vorstellung, Tendenz und Fantasie.12 Das macht sie erst recht beunruhigend. Ein regressiver gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht erst mit dem Erfolg des Abschottungsprojekts. Er geschieht bereits dann, wenn die kollektive Absicht, Migranten notfalls mit Gewalt abzuwehren, zu einem Projekt wird, dem sich große Teile der Bevölkerung und der Eliten verschreiben. Ganz gefährlich wird es, wenn dieses Abwehrprojekt idealistisch aufgeladen und mit dem Projekt Europa verschmolzen wird.

Der Perspektivenwechsel vom Wandel durch Migration zum Wandel durch die Abwehr von Migration erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit für die oft schleichenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Zielregionen der globalen Migration, besonders in Europa. Damit radikalisieren wir ein Argument, das bereits Wendy Brown in ihrer Kritik an „Mauern“ angedeutet hat.13 Eher im Vorbeigehen identifiziert die amerikanische Philosophin ein Paradox: Je militanter die staatliche Grenze zwischen einer vermeintlich guten, geordneten Innenwelt und einer bösen, chaotischen Außenwelt verteidigt und befestigt wird, desto mehr verschwimmt sie, und das Chaos schleicht sich auch ins Innere der Gesellschaft ein. Diesen Gedanken führt Brown jedoch nicht aus. Mauern sind für sie in erster Linie Projektionsflächen von Wünschen und Fantasien totaler Sicherheit in einer neoliberalen Welt schwindender Staatssouveränität, in der das Leben der meisten immer prekärer wird.

Aber die physischen, rechtlichen und symbolischen Mauern, die zur Abwehr von Migration hochgezogen werden, sind nicht nur politische Projektionsflächen. Vielmehr haben die Mauern ganz konkrete soziale und normative Auswirkungen, indem sie destruktiv in die Gesellschaft zurückwirken, deren Schutz sie angeblich dienen sollen. Die hochgerüsteten Grenzen der Gegenwart sind keineswegs nur „Sortiermaschinen“, die allein den anderen, den Aussortierten, schaden.14 Sie sind auch Disziplinierungsmaschinen, die die Gesellschaft zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss erziehen.

References

  1. Zit. in Grupa Granica (2021): “Humanitarian crisis at the Polish-Belarusian border”, Report by Grupa Granica, 10. Dezember, S. 18. https://www.grupagranica.pl/files/Grupa-Granica-Report-Humanitarian-crisis-at-the-Polish-Belarusian-border.pdf [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  2. Vgl. Cowles, Ben (2022): “Refugees trapped at Poland-Belarus border are freezing, starving and sick, some are being sexually abused by border guards, activists say”, The Civil Fleet, 5. Dezember. https://thecivilfleet.wordpress.com/2022/12/05/refugees-trapped-at-poland-belarus-border-are-freezing-starving-and-sick-some-are-being-sexually-abused-by-border-guards-activists-say/ [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  3. Göring-Eckardt, Twitter, 2. November 2022, https://twitter.com/goeringeckardt/status/1587825549526925314?s=43&t=6l0h9h_fqykAQ3XkQYivcA [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  4. „Heiko Maas zu Migranten an der belarussischen Grenze“, EU-Info.Deutschland, 16. November 2021, https://www.eu-info.de/dpa-europaticker/313710.html; MDR aktuell: „Kretschmer gegen Aufnahme von Migranten aus Belarus“, MDR aktuell, 14. November 2021. https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/kretschmer-aufnahme-migranten-belarus-100.html#Bilder [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  5. Vgl. Morus, Thomas (2012): Utopia. Lateinisch/Deutsch, übersetzt von Gerhard Ritter, Stuttgart: Reclam, S. 123, 125.
  6. So die bayerische Landtagsabgeordnete und Integrationsbeauftragte der Staatsregierung Gudrun Brendel-Fischer, zit. in Auer, Katja (2022): “Die integrative Wirkung der CSU“, Süddeutsche Zeitung, 23./24. April.
  7. Vgl. Thust, Sarah (2022): „Augenzeugen berichten über Diskriminierung von Schwarzen an der ukrainischen Grenze“, Correctiv, 11. März. https://correctiv.org/faktencheck/2022/03/11/ukraine-augenzeugen-berichten-ueber-diskriminierung-von-schwarzen-an-der-grenze/; Sammann, Luise (2022): „Unmut über ungleiche Behandlung von Kriegsflüchtlingen“, Deutschlandfunk, 6. Mai. https://www.deutschlandfunk.de/zwei-klassen-gefluechtete-100.html [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  8. Zit. in Schälter, Verena (2022): „Mit ‚echten‘ gegen ‚unechte‘ Flüchtlinge“, Tageschau.de, 1. April. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/griechenland-migration-103.html [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  9. Vgl. Achiume, E. Tendayi (2022): “Racial Borders”, The Georgetown Law Journal, Vol. 110, No. 3, S. 445-508. Verfügbar unter: https://www.law.georgetown.edu/georgetown-law-journal/wp-content/uploads/sites/26/2022/05/Achiume_RacialBorders.pdf [letzter Aufruf: 14.12.2022]
  10. Diese doppelte Bedeutung des älteren Begriffs der Korruption (corruzione) geht zurück auf Machiavelli, Niccolò (2007): Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von Rudolf Zorn, 3. Aufl., Stuttgart: Kröner, S. 65-70.
  11. Vgl. Castles, Stephen (2010): „Understanding Global Migration: A Social Transformation Perspective”, Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 36, No. 10, S. 1565-1586. https://doi.org/10.1080/1369183X.2010.489381
  12. Vgl. Stümer, Jenny (2022): Walled Life: Concrete, Cinema, Art, London: Bloomsbury. https://doi.org/10.5040/9781501380396
  13. Vgl. Brown, Wendy (2018): Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, übersetzt von Frank Lachmann, Berlin: Suhrkamp, Kap. 3 und 4.
  14. Vgl. Mau, Steffen (2021): Sortiermaschinen: Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München: C.H. Beck. https://doi.org/10.17104/9783406775772

SUGGESTED CITATION: Heins, Volker M.: Hinter Mauern. Wie Abschottungsfantasien die offene Gesellschaft gefährden, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/hinter-mauern/], 16.01.2023

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20230116-0830

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