Idyllen mit toten Bäumen
Der Harz ist ein Garant für erschreckende Bilder, mit denen der üble Zustand des deutschen Waldes verdeutlicht werden kann. Dass es den Harzwäldern schlecht gehe, darüber berichten sogar BILD und web.de, deren Interesse an ökologischen Themen anderweitig gering ist. Im Modus des Skandals, der Erschreckendes aufzudecken und Verantwortliche anzuklagen vorgibt, nimmt sich die Tagespresse des Harzes an, und bemüht sich wiederkehrend um den Eindruck, Informationen mit Neuigkeitswert zu versenden. Schlägt man indessen einige historische Texte zum Harz auf, lässt sich schnell feststellen, dass die erschreckenden Anblicke, Lamenti und Schuldzuweisungen feste Topoi der Harzliteratur sind – seit Jahrhunderten schon, durch alle Gattungen und literarischen Schreibweisen.

Den vielleicht drastischsten Versuch, den Harz als dystopisches Ende der Welt zu beschreiben, hat Wilhelm Blumenhagen im 19. Jahrhundert unternommen, der die wilde und erhabene Naturlandschaft, die Heine und andere angezogen hat, unmittelbar in ein „Reich der Vernichtung“ übergehen lässt:
Der Freund des Finsteren, Gewaltigen, Tragischen und Erschütternden wird sich plötzlich von himmelansteigenden Zackenfelsen umringt sehen, die auf ihn niederzustürzen drohen, die ihm den Ausgang zauberisch zu verbauen scheinen und aus deren gähnenden Spalten ihn alle jene mißgeformten Spukgestalten anglotzen, die aus den Märchen der Kinderwärterin in seinem Gedächtnis geblieben sind. Er schlürft mit Wollust alle Grauen dieses Geisterkessels ein, erklettert im Rausch des Hexentranks die Spitzen der Masten dieses verwünschten Steinschiffs und schleicht sich mit Zwang losreißend endlich weiter. Aus einem schlichten, einförmigen und einfarbigen Laubhölzchen ermattet eine Höhe hinansteigend, glaubt er jetzt sich plötzlich in ein Reich der Vernichtung versetzt, und der letzte Tag der Erde steht vor seiner Phantasie, wenn er sich am Rande eines erstorbenen, abgenadelten, ausgedörrten Fichtenwaldes findet, dem der verheerende Borkkäfer und der Holzwurm Saft und Mark geraubt haben und der als ein Schatten einstiger Kraft und Hoheit, einem ausgesogenen und entnervten Volk gleich, seine nackten Hungerarme in stummer Verzweiflung zum verschlossenen Himmel streckt. Es ist ein Siechenhaus, ein Kirchhof der Natur, und der erschütterte Wanderer wendet das Auge ab; da fesselt seinen Blick noch höher hinauf ein nicht geringeres Schauerbild. Ein unabsehbarer Wald liegt als Windbruch gestürzt und nach einem Strich niedergeworfen da, gleich einem hingeschlachteten Heer des Völkerkriegs; ein einziger Hauch der Allmacht schuf dieses undurchdringliche Verhack von Riesentannen, die aus dem zerrissenen Boden ihre kolossalen Wurzeln wie trockene Knochen eines Hünengrabes hervorstrecken, und um diesen Schauplatz wüstester Zerstörung, der das sündig-bange Herz an die Grauen des raschen, ungeahnten Todes mahnt, an Abbadonnas, des finsteren Engels, Abruf aus dem Taumel der Weltfreuden, mitten aus dem Trugtraum unverwüstlicher Gesundheit mahnt – um dieses Schauerbild noch furchtbarer zu machen, schnaubt ein ungeheurer schwarzborstiger Keiler drohend mit scharfen, glänzenden Hauern an ihm vorüber, die giftige, graue Wolfsotter hebt sich aus dürrem Moos und zischt ihn an, und ein gieriges Geierpaar kreist gespenstisch rauschend mit weitgespannten Flügeln über seinem Haupt, und der Wolkensegler abgestoßenes, weithin gellendes Gekreisch spricht ihm deutlich die feindliche Absicht aus, den unberufenen Eindringling aus dem usurpierten Korsarenstaat mit echt barbaresker Rücksichtslosigkeit zu vertreiben.1
Blumenhagen ruft in seinen Wanderungen durch den Harz von 1838 eine Reihe von Topoi auf, die bereits die Harzreisen zahlreicher Romantiker bestimmt hatten: vor allem die überraschenden wie spektakulären Eindrücke, die schroffe Abhänge, Wasserfälle und tiefe Täler den Reisenden bereiten. Doch Blumenhagen geht über alle seine Vorgänger hinaus, indem er umfangreich beschreibt, was Trockenheit, Borkenkäfer und Sturm anrichten können. Zuletzt bleibt bloß ein „Kirchhof der Natur“, ein Ort der Erinnerung an das, was er einstmals an Leben getragen hat. Blumenhagens Band ist allerdings Teil der zehnbändigen Buchreihe Das malerische und romantische Deutschland (1837–1850), die für Reisen und Wanderungen durch die deutschen Lande werben will. In toto ist daher auf den über 250 Seiten von Blumenhagens Wanderungen gut erkennbar, dass die Zerstörungen nur lokal begrenzt sind und nicht repräsentativ für die gesamte Region des Harzes stehen. Der „letzte Tag der Erde“ ist noch keineswegs angebrochen, denn es gibt immer noch ausreichend verwunschene Märchenwälder, saubere Quellen und malerische Hänge, sodass der Kontrast der versehrten und niedergeworfenen Stellen letztlich ästhetisch reizvoll erscheinen kann. Aus solchen Kontrasten von Abraumhalden auf der einen und intakter Natur mit scheinbarer Wildnis auf der anderen Seite beziehen viele Harzreiseberichte ihr Material. Als einer der ersten erwähnt Johann Christian Kestner von seiner Reise auf den Harz im Dezember 1763 die Schäden, die von der „vergifteten“ Innerste ausgehen,2 die bei Wilhelm Raabe wegen der Fabrikabflüsse „heulen“3 müsse, und überhaupt gebe es „viel zu viele niedergeschlagene Wälder“4 zu beklagen. Auf Eichendorffs Harzreise (1805) trägt ein „ungeheuerer Windbruch“ dazu bei, die „schauerliche Waldgegenden […] noch fürchterlicher“ zu machen und so den „janisch[en]“5 Charakter der Gegend hervorzukehren, den auch Hans Christian Andersen 1831 insbesondere als olfaktorisches Phänomen, als „Schwefliges und Brandiges“6, empfindet. Fontanes Berliner Harzreisende in Cécile (1886) erstaunen die rauchenden Schornsteine in Thale und erwarten daher, dass sie dort „vierzehn Tag lang im Schmook hängen“ werden,7 bei Luise Reischauer (1912) hingegen lassen die „metallischen Dämpfe“ einer Silberhütte die „Vegetation“ leiden, aber nur punktuell – und daher in der Erzählung – kurz.8 Jüngst fühlte sich der britische Reiseschriftsteller Paul Scraton auf seinen Harzwanderungen (2023) bisweilen so, als würde er „durch Gemälde von Anselm Kiefer […] spazieren“9, und denkt angesichts der „Szenen der Verwüstung“ und den spänernen Überresten der „Opfer“10 an Kiefers düstere Winterlandschaft (1970) und den Mann im Wald (1971).
Beispiele, die sich um viele weitere ergänzen ließen, denn unabhängig von ihrer Gattungszugehörigkeit behandeln Harztexte in bemerkenswerter Konstanz die Folgeerscheinungen und Schattenseiten der früh einsetzenden Industrialisierung, die insbesondere durch den Bergbau mit besonderen Belastungen für die Arbeitenden wie die Umwelt einhergegangen ist. Doch solange noch ein „janischer“ Charakter beschrieben wird, handelt es sich eben um Schattenseiten, die in den Berichten als Ausnahmen erscheinen. Solange noch von Schatten und Schattenseiten gesprochen wird, befinden sich Lichtquelle und Kontrastfolie in Sichtweite, die den Gegensatz bewusst machen. Den frühen Reisenden, von denen einige vor allem wegen der Bergwerke in den Harz kommen, ist nicht bewusst, dass es sich bei großen Teilen der ‚wilden Natur‘, die sie zu sehen bekommen, um Bergbauwald handelt, für den der ursprüngliche, von Buchen dominierte Mischwald schrittweise durch monokulturelle Fichten-Forste ersetzt wurde. Ein Wald, der auf die Gewinnung von Nutzholz ausgerichtet ist, das die Bedingung für die Möglichkeit der Montanindustrie darstellt, da für den Ausbau von Stollenanlagen, in der Wasserwirtschaft sowie in der metallurgischen Folgeindustrie (von den Pochwerken bis zu den Schmelzöfen) Bau- wie Brennholz benötigt wurde. Als die ersten Harzreisenden Ende des 18. Jahrhunderts ihre Berichte zu verfassen beginnen, finden sie bereits einen primär auf den Bedarf dieser Industrien ausgerichteten Wald vor, der erst im Gefolge der weithin rezipierten Reiseberichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Tourismus und Kurbetrieb erschlossen wird.
Die reizvollen Kontraste schwinden allerdings dort, wo größere Waldflächen verschwinden und eine (zumindest für das Auge) als Brache erscheinende karge Landschaft zurückbleibt. Dies ist immer wieder dort der Fall, wo Wälder von der Käferkalamität betroffen sind. Insbesondere der Oberharz wurde in regelmäßigen Abständen heimgesucht und großer Flächen seines Waldbestandes beraubt. Eine frühe systematische Darstellung ist Johann Friedrich Gmelins Abhandlung über die Wumtroknis von 1787, eine deprimierende Schrift, die Seiten über Seiten an Negativbefunden versammelt und tabellarisch auswertet. Gmelin listet in chronologischer Folge die Plagen, Zerstörungen und Verluste auf, die dem „schwarzen Wurm“ zugerechnet werden können. Vom Anfang des Jahrhunderts bis in seine Gegenwart erstrecken sich die Zeugnisse, die, weil sie eine reine Verlusterzählung sind, jeden Glauben an einen bessernden Fortschritt und die Einsichtsfähigkeit des Menschen Lügen strafen. Denn Gmelin dokumentiert minutiös, in welchen Orten und Revieren Fällung, Schälung und Abtransport der kranken und abgestorbenen Bäume zum Teil über Jahrzehnte nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sind. Ein Anhang von „Aktenstüken die Troknis am Harze betreffend“ vollzieht auf über 250 Seiten nach, was wo (nicht) ordnungsgemäß getan wurde. Wo er Gründe dafür angibt oder sich diese zumindest erahnen lassen, sind dies unter anderem das königliche Geheiß, die Forstarbeit ruhen zu lassen, immer wieder individuelle Nachlässigkeiten, aber auch schlichtweg fehlende Arbeitskräfte, um das leisten zu können, was getan werden müsste. Gmelins hauptsächliches Plädoyer zielt auf die akribische und flächendeckende Kontrolle der Baumbestände, denn nur die „äußerst nöthige Fürsicht“ gegen den „furchtbaren Feind“11 könne der periodischen Kalamität vorbeugen. Bis heute hat sich wenig, in jedem Fall zu wenig geändert, um an dieser Misere grundsätzlich etwas zu ändern.
Das Försterkollektiv, das kürzlich in einer Streitschrift (Harzinfarkt, 2023) die Fehler der gegenwärtigen Strategie des Nationalparks Harz scharf kritisiert hat, mahnt, wie bereits Gmelin, eine umfassende und permanente Kontrolle an. Nur diese könne eine schrittweise Rückverwandlung in ‚Naturwald‘ ermöglichen, nicht aber die radikale Deforestation durch den Borkenkäfer. Den Wald ‚sich selbst zu überlassen‘, spart hingegen Personal und begleitende Kontrollen, die auch deswegen nicht mehr zu leisten seien, weil immer mehr Maschinen anstelle von Menschen zum Einsatz kommen und ein Harvester, der rund zehn menschliche Arbeitskräfte ersetzt, für Kontrollen nicht geeignet ist. Die „Idylle mit toten Bäumen“ und „Schreckenslandschaft“ sei auch die Konsequenz einer Politik der „schwarzen Null“12, die den Kunstforst allzu gerne als ‚Natur‘ begreift, wenn sich dadurch Kosten vermeiden lassen. Egal, welchen historischen Aspekt des Harzwaldes man fokussiert, die Ökonomie ist letztlich immer bestimmend. Einen flächendeckenden Naturwald hat es im Harz seit vielen Jahrhunderten nicht gegeben (die Zyklen der Be- und Entwaldung von Brocken, Wurmberg und anderen Hängen lassen sich anhand von Kupferstichen gut nachvollziehen), dem Funktionsprinzip des „Natur Natur sein lassen“13 entspricht die neoliberal imprägnierte Vorstellung der „Schwarzen Null“, die nicht nur das soziale Kahlschlagprogramm der Bundesregierung motiviert, sondern auch dem Nationalpark eine Laissez-faire-Attitüde auferlegt und die vormaligen Bergbauwaldflächen sich selbst überlässt, dies quasi kulturlos, ohne Pflege und jenen behutsam moderierten Übergang, den die ehemaligen Forstbeamten fordern. Stattdessen tritt diese Strategie in ein Glücksspiel auf Zeit ein – ob Anpflanzungen und Anwuchs gelingen, die neuen (Natur-)Wälder ausreichend Zeit und Schutz bekommen und ob diese von den kontingenten Faktoren Hitze, Dürre, Sturm und Käferkalamität lange genug verschont bleiben, ist offen – bei steigender Wahrscheinlichkeit, dass es sich vielleicht nicht ausgehen wird.
References
- Blumenhagen, Wilhelm (1838): Wanderung durch den Harz. Mit Stahlstichen nach Ludwig Richter, Leipzig: Georg Wigandʼs Verlag [Reprint: Hildesheim u. a.: Olms 1996], S. 14–15.
- Kestner, Johann Christian (2013): Reise auf den Harz. Tagebuch vom 24. Dezember 1763 bis zum 3. Januar 1764. Mit einem Nachwort hg. v. Alfred Schröcker, Hannover: Wehrhahn, S. 17.
- Raabe, Wilhelm (1985): Die Innerste, in: Ders.: Krähenfelder Geschichten. Werke in Einzelausgaben, Bd. 2, hg. v. Hans-Jürgen Schrader, Frankfurt a. M.: Insel, S. 213.
- Ebd., S. 218.
- von Eichendorff, Joseph (1994): Tagebuch der Harzreise (1805), in: Romantische Harzreisen. Reiseaufzeichnungen von Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine und Hans Christian Andersen mit 12 Stahlstichen von Ludwig Richter, hg. v. Rolf Denecke, 4. Aufl., Hildesheim: Lax, S. 20, 16.
- Andersen, Hans Christian (1994): Reiseschatten (1831), in: Romantische Harzreisen. Reiseaufzeichnungen von Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine und Hans Christian Andersen mit 12 Stahlstichen von Ludwig Richter, hg. v. Rolf Denecke, 4. Aufl., Hildesheim: Lax, S. 85.
- Fontane, Theodor (1887): Cécile, 2. Aufl., Berlin: Verlag von Emil Dominik, S. 18.
- Reischauer, Luise (1912): Unsere Harzreise, in: Dies.: Meine erste Residenzfahrt. Unsere Harzreise. 2 Erzählungen, Hermannsburg: Verlag der Missionshandlung, S. 20–21.
- Scraton, Paul (2023): Harzwanderungen. Auf Heines Spuren durch den deutschen Wald. Übers. von Ulrike Kretschmer, Berlin: Matthes & Seitz, S. 125.
- Ebd., S. 93–94.
- Gmelin, Johann Friedrich (1787): Abhandlung über die Wurmtroknis, Leipzig: Crusius, S. 176, https://doi.org/10.5962/bhl.title.151381.
- Schüler, Hinrich Hubertus Köhler, Wolf-Eberhard Barth, Hubert Steinbrich, Heinz Soltendieck, Henning Kurth, Ottomar Greger, Albrecht von Kortzfleisch (2023): Harzinfarkt. Eine Streitschrift über den Zustand der Wälder im Nationalpark Harz, Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger Verlag, S. 33.
- Ebd., S. 20, 55.
SUGGESTED CITATION: Penke, Niels: Idyllen mit toten Bäumen. Über die Versehrungsgeschichte des Harzes, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/idyllen-mit-toten-baumen/], 05.02.2024