Listen lesen
Listen haben keinen guten Ruf. Als ‚bloße Listen‘ diskreditiert, gehören sie gemeinhin nicht zu den Formen oder Praktiken, denen man ernsthaft Aufmerksamkeit schenkt. Dass es jedoch lohnt, Listen und ihre verwandten Formen der Aufzählung kritisch in den Blick zu nehmen, möchte ich im Folgenden zeigen. Der englische Kritiker Eric Griffiths hat treffend formuliert:
Once something has been identified as a list, it seems there can be nothing more to say about it, because lists are inherently dull, prosaic things, part of the fittings in language’s utility room, whereas literaturists are keen on more glamorous apartments – sun-lounges, libraries, and bed-chambers. But, as with beauty, listlessness is in the eye of the beholder, and if you know how to treat a list right, it will repay the time and attention you devote to it.1
Ich möchte Ihnen einen kleinen Einblick geben in die Listenforschung, die „listology“ oder Listologie, wie wir sie im Rahmen des ERC-Projekts „Lists in Literature and Culture“ (LISTLIT) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg seit 2017 betrieben haben. Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin liegt mein primäres Erkenntnisinteresse in der Erforschung von Listen in literarischen Texten – die aber, wie wir sehen werden, immer wieder eng verbunden sind mit Praktiken der Aufzählung aus alltäglichen Kontexten.
Erstens.
In der Listenforschung wird ‚Liste‘ in der Regel als Überbegriff verwendet, als Abstraktum und Sammelbegriff für eine Vielzahl von verwandten listenhaften Formen und Praktiken wie beispielweise der Katalog, die Enumeration oder Aufzählung, die Beschreibung, die Ekphrase oder rhetorische Formen wie die accumulatio oder amplificatio. Eine Liste im engeren Sinne beschreibt eine Form der Aufzählung, die ohne syntaktische Einbettung einzelne Elemente hintereinander aufführt, in der Regel in vertikaler Anordnung und mit der Option der Reorganisation ohne Bedeutungsverlust (wie in einer Einkaufs- oder To-do-Liste). In literarischen Texten überwiegen jedoch horizontale Listen, die zumindest scheinbar in höherem Maße in den Erzählfluss eingebettet sind.
Zweitens.
Hinsichtlich der Funktionen von Listen scheint das unmittelbar Praktische zu überwiegen. Wir verwenden Listen, wir lesen sie nicht.2 Listen sind primär funktional: Sie ordnen, strukturieren, reduzieren, klassifizieren. Der Effekt ist zum einen ein objektivierender: Wissen, in der Form einer Liste präsentiert, scheint fixiert, autoritativ, wahr. Diese Funktionen finden sich auch in literarischen Texten, doch ist dort der praktische Nutzen in der Regel aufgehoben, so dass andere – ästhetische, erzählerische – Ansprüche in den Mittelpunkt treten.
Drittens.
Ich schlage vor, die Liste im Sinne neuerer formalistischer Theorien als ‚Denkform‘ zu betrachten, deren Bedeutungsspektrum mit dem Konzept der Affordanzen (affordances) beschrieben werden kann.3 Als Form ‚ermöglicht‘ die Liste verschiedenste Interpretationsräume, die sich in der Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen von Listen und Aufzählungen öffnen.
Viertens.
Listen sind textuell distinkt, ihre Form ist vornehmlich eine schriftliche. Der Anthropologe Jack Goody hat gar behauptet, dass die Entdeckung der Listen-Form, ein Meilenstein der Schriftlichkeit, menschheitsgeschichtlich eine Zäsur markiert: Durch das Auflisten wurden neue Ordnungssysteme möglich; Wissen konnte nicht nur bewahrt, sondern angeordnet und immer wieder neu arrangiert werden.4 Ein anderes Denken wurde möglich.
Fünftens.
Mit diesem anderen Denken einher geht das Potenzial der Liste, fremde Welten und fremde epistemische Systeme darzustellen, sie möglicherweise zu verstehen. Michel Foucaults großes Werk über die neuen Wissensordnungen der Moderne, Die Ordnung der Dinge (Les Mots et de Choses), beginnt daher nicht zufällig mit der Diskussion einer der bekanntesten literarischen Listen: Jorge Luis Borges’ vornehmlich aus einer chinesischen Enzyklopädie stammenden Klassifizierung von Tieren.5 Die (nur scheinbar?) so disparaten Gruppen stellen uns, schreibt Foucault, die Alterität eines fremden epistemischen Systems vor Augen. Ich möchte hinzufügen: Gerade weil es eine Liste ist, staunen wir; der Form der Liste wegen, die uns ein geschlossenes Ganzes präsentiert, wollen wir die Objektivität der Kategorien sehen, ihren möglichen Wahrheitsanspruch verstehen – und scheitern an den Parametern, die uns die bekannten Klassifikationen liefern.
Sechstens.
Etymologisch ist die Liste im Wortsinn ‚randständig‘ – im Alt- und Mittelhochdeutschen, wie im Mittellateinischen, bezeichnete lista einen Saum, einen bandförmigen Streifen oder eine Borte, bevor es über das Italienische als Begriff für ein Verzeichnis oder ein Register seinen Weg in die kaufmännische Sprache fand.6 Eine Liste ist ihrem Ursprung nach also dort verortet, wo sich die Fäden des Textes auflösen oder noch nicht verkettet sind. Wann ist eine Liste schon – oder noch nicht oder nicht mehr – ein Gedicht? Wann ist eine Liste schon – oder noch nicht oder nicht mehr – eine Erzählung?
Siebtens.
Im Roman werden die alltagspraktischen Dimensionen von Listen oftmals als Mittel des world building eingesetzt – die fiktionale Welt wird verbunden mit realen Praktiken, um Figuren zu charakterisieren oder Wissenskontexte aufzumachen oder um Realismus, im Sinne des Barthes’schen „Realismus-Effekts“, zu erzeugen. Im Modus des Beschreibens bedienen sich Autor*innen der Liste, um Atmosphäre zu schaffen oder um Figuren zu charakterisieren.
Achtens.
Listen brechen den narrativen Modus auf: Sie halten den Erzählfluss an und können so zu anderen Leseerlebnissen führen. In der folgenden Passage aus Reif Larsens Roman I Am Radar (2015) rekapituliert Professor Fumes seine persönliche Lesebiographie:
“And I read like an addict, like a man gasping for air.” His voice fell into a kind of trance. “I read Homer and the plays of Euripides and Aristophanes. I read Plato and Aristotle and Lucretius and Cicero. I read Virgil and Ovid and Sappho and Seneca. I read Defoe and Asturias and Sterne and Stendhal and Verga and Carducci and Blasco Ibánez and Hugo and Verne and Balzac and Stendhal and Flaubert and Baudelaire and Sand and Verlaine and Paz and Maupassant and Ibsen and Wordsworth and Austen and Colerdige and Shelley and Keats and Blake and Scott and Carpentier and Garciá Márquez and Puig and Cortázar and García Lorca. I read Dickens and Stevenson and Eliot and Wilde and Cabrera Infante and Onetti and Thackery and the Brontes and Proust and Borges and Carroll and Trollope and Ruskin and Hoffman and Nietzsche and Emerson and Dickinson and Whitman and Melville and Shelley and Poe…”7
Diese Liste ist eine Inkantation – gleich einer Litanei wird sie zum Rhythmus, fast zum Lied – und ist ein Beispiel dafür, dass Listen auch und gerade im Performativen einen besonderen Reiz ausüben.
Neuntens.
Listen und Erinnerung – Erinnerungskultur – sind eng miteinander verknüpft. Wir gedenken Opfern und Held*innen in Form von Listen. Judith Schalansky erzählt in jedem der Kapitel in Verzeichnis einiger Verluste (2018) von etwas, das verlorengegangen ist; das gesamte Buch ist also der Form des Verzeichnisses verpflichtet und bedient sich zugleich immer wieder der Liste als Form des Fortschreibens. Umberto Eco, ein großer Listenliebhaber und Verfechter des Listenschreibens als poetisches Mittel, brachte es einmal auf die Formel: „Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen.“8 – Das Führen von Listen, das Fortschreiben, Ansammeln, Hinzufügen von Einträgen erlaubt, auf formaler Ebene, die Illusion von Kontinuität und Fortleben im Akt des Immer-Weiter und ermöglicht letztlich die Annäherung an, ja den Ausdruck von, Unendlichkeit.9
Zum Schluss.
Die Liste ist zwar eine alte Form, gar transhistorisch in ihrer über Jahrtausende hinweg konstanten Verwendung als praktisches Medium, und dabei so trivial, dass ihre Ästhetisierung schnell lächerlich wirken mag. In literarischen Kontexten frustrieren und faszinieren Listen gleichermaßen; stellen in Frage, was eine Erzählung ausmacht und wie wir lesen. Zugleich war und ist die Liste Ausdruck einer Sehnsucht nach Einfachheit, Ordnung und Komplexitätsreduktion, die immer auch Einblick gibt in die Ordnungspraktiken des historischen und kulturellen Kontexts, in dem ein Werk entstanden ist. Dabei ist die Objektivierung der Welt durch die Liste eine trügerische: Die Form der Auflistung schafft eigene Welten, deren Prämissen und Intentionen oftmals schwer zu durchschauen sind. Ich möchte zu guter Letzt vorschlagen, sich auf die Listen, die Ihnen begegnen – ob in literarischen Texten oder im Alltag – einzulassen, ihre Prämissen zu hinterfragen. Und nutzen Sie das positive Potenzial der Liste – Sie werden es brauchen.
References
- Eric Griffiths (2018): If Not Critical, Hg. v. Freya Johnston. Oxford: Oxford University Press, S. 10.
- Lucie Doležalová (2009): Introduction: The Potential and Limitations of Studying Lists. In: The Charm of a List: From the Sumerians to Computerised Data Processing. Hg. v. Lucie Doležalová. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1–8.
- Zu affordances: Levine, Caroline (2015): Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton/Oxford: Princeton University Press. Siehe Eva von Contzen (2017): Die Affordanzen der Liste. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2017), S. 317-26. https://doi.org/10.1007/s41244-017-0062-6.
- Siehe Jack Goody (1977): What’s in a List? In: The Domestication of a Savage Mind. Cambridge: Cambridge University Press, S. 74–111.
- Michel Foucault (1966): Les Mots et les Choses. Une Archéologie des Sciences Humaines, Paris, Gallimard. Siehe die Liste (samt einer lesenswerten Diskussion über „Borges als Lexikograph“ von Monika Schmitz-Emans) hier: http://www.actalitterarum.de/theorie/mse/enz/enzd01.html
- DWDS: Liste (https://www.dwds.de/wb/Liste#et-1).
- Reif Larsen (2015): I am Radar. London: Harvill Secker, S. 636-637.
- Umberto Eco (2009): Die unendliche Liste. München: Hanser.
- Susanne Beyer / Lothar Gorris: Spiegel-Interview mit Umberto Eco, 11. November 2009: http://www.spiegel.de/international/zeitgeist/spiegel-interview-with-umberto-eco-we-like-lists-because-we-don-t-want-to-die-a-659577.html
SUGGESTED CITATION: von Contzen, Eva: Listen lesen. Eine literaturwissenschaftliche Perspektive, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/listen-lesen/], 06.04.2022