Nisha KommattamWohnen | Dwelling

Orte der (Zu-)Flucht

Orte der (Zu-)Flucht Dwelling in Aimée Ducs Roman Sind es Frauen? Erschienen in: Wohnen | Dwelling Von: Nisha Kommattam

Literatur hat in den unterschiedlichsten Sprach- und Kulturräumen sowie Epochen oft als eine Art Lebensraum, als ein geschützter Raum fungiert. Ob in Sapphos nurmehr fragmentierten Leidenschaften aus der griechischen Antike, in Virginia Woolfs wohlbekanntem Plädoyer für ein eigenes Zimmer („a room of one’s own“), das dem kreativen Schreiben von Frauen sprichwörtlichen Raum bieten soll, in Anne Franks privatem Tagebuch, das ihr die bedrückende Enge und Gefangenschaft eines Dachbodens zumindest geistig zu verlassen gestattete, oder im rezenteren Kanon von postkolonialer Literatur des globalen Südens – das Schreiben eröffnet herbeigesehnte, dringend benötigte, teils zuvor unbekannte oder unerforschte Orte, die der Identität der Schreibenden wirksamen Ausdruck verleihen. Dieser Effekt ist umso radikaler oder bemerkenswerter, je ungewöhnlicher, tabuisierter oder verfolgter diese Identität ist. Welchen Stellenwert kann also Literatur haben, die ganz bewusst alternative Lebensentwürfe beherbergen will, ja vielleicht allein zu diesem Zweck geschrieben wurde? Welche metaphorischen Rückzugs- oder Zufluchtsorte kann z.B. ein Roman der Jahrhundertwende bieten, der Frauen porträtiert, die sich nicht nur den Zugang zu Universitäten und zur Berufstätigkeit erkämpfen, sondern sich zugleich auch gegen die Ehe und für die Rechte gleichgeschlechtlich liebender Menschen aussprechen? Können solche fiktionalen Räume zeitgleich mit tatsächlich existierenden Orten in der Gesellschaft korrelieren? Und welche Implikationen kann der Akt eines solchen kreativen Schaffens für die Schreibende(n) haben?

Ein wunderbares Beispiel für solch queeres Raum schaffen und Beherbergen ist der Roman Sind es Frauen? Ein Roman über das dritte Geschlecht der deutschen Autorin Aimée Duc (geb. Mina Adelt oder Adelt-Duc) aus dem Jahre 1901.1 Es handelt sich hier um einen der frühesten lesbischen Romane im deutschen Sprachraum. Geschickt verbindet die Autorin eine affirmative, nicht-pathologisierende Lebensgeschichte der Figuren mit einer radikalen politischen Agenda, die ihrer Zeit um etliche Jahrzehnte voraus ist. Zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der damals noch relativ jungen Sexualwissenschaften werden ebenso bewusst in die Romanhandlung eingegliedert wie moderne Rollenvorstellungen der „Neuen Frau“. In gewisser Weise entsprechen mehrere der Protagonistinnen dem Bild einer gebildeten oder sogar studierten, weltbürgerlichen, komfortabel mehrsprachigen Europäerin der gehobenen Mittelschicht – mit einer gravierenden Ausnahme: sie alle identifizieren sich als Angehörige des sogenannten „Dritten Geschlechts“. Da die binäre Zuschreibung traditioneller Geschlechteridentitäten für diese Frauen nicht greift, wurde kurzerhand diese dritte Kategorie hinzuerfunden, die eher auf eine Form von Begehren als auf Verkörperung oder Körperlichkeit hinweisen soll – und damit eine bedeutende, identitätsstiftende Funktion innehat. Das „Dritte Geschlecht“ soll ihnen allen eine Heimat bieten und sie von dem Druck der bürgerlichen Eheschließung befreien. In Klubs und privaten Zusammenkünften suchen und finden die Frauen Zuflucht vor der heteronormativen Realität, in der sie tagtäglich (über-)leben. Die Protagonistin Minotschka – unverkennbar an manchen biographischen Details der Autorin Duc angelehnt – stellt zuweilen ihr eigenes Pensionszimmer, das sie während ihres Studiums bewohnt, als Salon zur Verfügung. Die gutbürgerliche Klassenzugehörigkeit und tadellose Situiertheit Minotschkas verleihen solchen Treffen einen Deckmantel, der sicherlich nicht immer als selbstverständlich hingenommen werden konnte. Gemeinsam mit ihren Kommilitoninnen besucht sie eine Schweizer Hochschule, denn zum damaligen Zeitpunkt war Frauen in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern auch – der Zugang zu einem Hochschulstudium noch verwehrt. Die Schweiz – und Zürich im Besonderen – fungiert hier als Schutzhafen für preußische, bayerische, französische, russische, polnische, jüdische und andere Studentinnen – progressive Hochschulgesetze machen dies möglich.

Minotschka, die zutiefst europäische Kosmopolitin, durchlebt etliche Momente in denen sie eine Heimat, einen sicheren Lebensraum für sich selbst zu kreieren versucht – sei es im Moment einer tiefen Lebenskrise, in dem sie auf einmal bisher ungeahnte Wünsche auf den fernen Kontinent Australien projiziert und um ein Haar auswandert; sei es in einem Anfall von Nostalgie, in welchem sie die Stätte ihrer Kindheit, Paris, aufsucht, um sich dort ihrer tiefen Verwurzelung in der alten Welt schmerzhaft bewusst zu werden und Europa als ihr einzig mögliches Zuhause zu akzeptieren. Die Flucht ins Ausland, geboren aus tiefer psychologischer Not – sie misslingt also, und dennoch gelingt es ihr, sich selbständig und unabhängig etwas zu erschaffen, das wir heute als queeren Lebensraum deuten dürfen. Bisweilen ist es auch die Natur, in der die Protagonistin Zuflucht findet – die neugewonnene Mobilität durch das um die Jahrhundertwende noch provokante, jedoch erstarkende Damenradfahren erlaubt die gelegentliche Flucht aus der erdrückenden Zivilisation, die der urbane Raum trotz aller Vorteile und Anonymität repräsentiert.

Auch die Autorin Duc, obwohl sie selbst nie das Privileg eines Studiums gehabt zu haben scheint, scheint sich auf abenteuerlustige und selbstbewusste Art und Weise neue Lebensräume auf der halben Welt erschaffen zu haben. Nach einer kurzen Ehe mit dem Schweizer Politiker Oskar Wettstein, einigen Buchpublikationen und diversen journalistischen Tätigkeiten (u.a. als Herausgeberin von „Draisena“, einer Zeitschrift für modernen Damenradfahrsport), beginnt Duc Anfang des 20. Jahrhunderts als Auslandskorrespondentin in verschiedenen europäischen Ländern zu leben und zu arbeiten. Mit ihrem zweiten Ehemann bricht sie in den Nahen Osten auf, um sich nach verschiedenen Stationen für etliche Jahre im britisch besetzten Indien niederzulassen. Ob die Weltenbummlerin Mina Adelt-Duc, gleich ihrer Protagonistin Minotschka, gewisse Sehnsüchte auf ferne, unbekannte Länder projizierte, sei dahingestellt. Ihre ungewöhnliche und mutige Migration hinaus aus dem vertrauten Europa scheint darauf hinzudeuten, dass auch Duc eine gewisse Begabung dafür zu haben schien, sich eigene, neue Lebensräume zu suchen und zu erschaffen – und dies immer und immer wieder. Selbst wenn es gewisse Momente der Rastlosigkeit oder gar Heimatlosigkeit gegeben haben sollte in Ducs Nicht-Sesshaftigkeit über viele Jahre hinweg, so liegt vielleicht gerade in dieser Mobilität das Potential für sich wandelnde Identität und Kreativität.

Sara Ahmed und ihre Kolleginnen sehen in der Einleitung zu ihrem Buch Uprootings/Regroundings. Questions of Home and Migration (2003) genau diese Art von weitreichender Mobilität als fundamentalen Bestandteil des heutigen Kosmopolitismus. Sie warnen davor, dies vorschnell als etwaige Wurzellosigkeit zu kategorisieren. Im Gegenteil: Das Konzept eines Zuhauses („home“) stehe nicht etwa im Gegensatz zu „Migration“, sondern in kontinuierlichem Austausch und in direkter Beziehung.2 Gerade queere Formationen eines Zuhauses, wie wir sie in Ducs Roman so eindringlich geschildert bekommen, nehmen hier natürlich einen besonderen Stellenwert ein. Aufgrund der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft, in der die Figuren ihre tabuisierte Identität stets neu navigieren müssen, ist das Bewohnen eines sicheren Ortes/Raumes/Körpers eine Grundvoraussetzung für das eigene Überleben. Wann immer dies für marginalisierte Gruppen in einer Gesellschaft nicht möglich war, dürften zumindest manche literarischen Werke einem – vielleicht flüchtigen, vielleicht imaginierten – Gefühl der Zugehörigkeit Raum und Zuflucht geboten haben.

References

  1. Duc, Aimée (2020): Sind es Frauen? Ein Roman über das Dritte Geschlecht, Berlin: Querverlag.
  2. Ahmed, Sara, Claudia Castañeda, Anne-Marie Fortier und Mimi Sheller (Hrsg.) (2003): Uprootings/Regroundings. Questions of Home and Migration Oxford, New York: Berg, S. 6.

SUGGESTED CITATION: Kommattam, Nisha: Orte der (Zu-)Flucht: Dwelling in Aimée Ducs Roman Sind es Frauen?, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/orte-der-zu-flucht/], 09.05.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220509-0830

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