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Die inklusive Macht der Liste

Die inklusive Macht der Liste Listen auf Social Network Sites am Beispiel von Facebook Erschienen in: Listen | Lists Von: Elke Wagner, Niklas Barth

Texte über Listen1 beginnen häufig mit einer (listenförmigen) Aufzählung von: Listen.2 Wir kennen zum Beispiel endliche und unendliche Listen, pragmatisch oder poetisch motivierte Listen. Wir nutzen flache Listen, wie das Rating, und hierarchische Listen, wie das Ranking. Unterschiedliche Listen sind in unserem Alltag allgegenwärtig.

Und genau das deutet schon auf eine Funktion der Liste hin. Eine Funktion, die von der listenförmigen Verwaltung von Getreide und Bier im Mesopotamien des 3. Jahrtausends v. Chr. über die Liste als Ordnungs- und Verwaltungstechnik von Menschen, Information und Kapitalflüssen in modernen Organisationen bis hin zu den listenförmigen Infrastrukturen der Sammlung, Speicherung, Verarbeitung und Verbreitung digitaler Daten offenbar nichts von ihrer Attraktivität für Gesellschaften eingebüßt hat.

Weil die hier versammelten Blogbeiträge die Macht der Listen (und die Listen der Macht) verhandeln sollen, stellen wir ganz konkret die Frage: Worin besteht die Macht der Listen im Netz? Welche Medialität weist Facebooks Newsfeed-Liste auf? Welche kommunikativen Anschlüsse und welche Formen von „Öffentlichkeit“ werden hierdurch wahrscheinlicher? Dazu diskutieren wir Listen im Spannungsfeld von Medien (Erfolgs- und Verbreitungsmedien) und Technik einerseits sowie im Verhältnis von Transparenz und Latenz andererseits.

Facebooks Interface ist durch unterschiedliche Listen strukturiert. Fast jeder Klick auf der eigenen Facebook-Seite öffnet oder schließt eine unterschiedliche Liste.

Abbildung 1: Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Listen auf Facebook (Screenshot: #Barth)

Wir konzentrieren uns hier auf die dynamische und interaktive Liste des Newsfeeds. Allen Listen gemeinsam ist eine spezifische mediale Logik. Dass Listen nicht erzählen, sondern aufzählen ist heute die Leitunterscheidung in der Untersuchung von Listen.3 Die Logik der Liste, so hat Jack Goody4 herausgearbeitet, liege in einer Logik der (1) Diskontinuität5 und der (2) De- und Re-Kontextualisierung6.

Der Newsfeed von Facebook entsteht, indem die dort gezeigten Inhalte und Kontakte einmal angeklickt, gelikt oder abonniert wurden. Er errechnet sich aber auch nach einem Algorithmus, der sich nach Aktualität, Aufmerksamkeit und den eigenen Aktivitäten permanent neu bildet – und dessen genaue Selektionskriterien intransparent bleiben. Die Liste des Newsfeeds bringt als Verbreitungsmedium die interaktive Kommunikationsdynamik des Netzwerks zur Darstellung. Die dynamischen Listen werden einerseits von Nutzer*innen geführt, sie sind aber immer auch zugleich die Listen eines Netzwerks: es ist die Arbeit der auch algorithmisch angeleiteten Liste selbst, die sie letztlich ordnet. Und genau diese Ordnungsleistung sorgt auf Seiten der Nutzer*Innen immer wieder auch für Irritation, wie der folgende Screenshot zeigt:

Abbildung 2: Irritationen (Screenshot facebook.com: #Barth)

Wieso sieht mein Newsfeed eigentlich so aus, wie er aussieht, fragen sich die Nutzer*innen hier. Mit Blick auf die vorselektierende Funktion von Algorithmen wird die Machtfrage gestellt: Wer fertigt überhaupt diese Listen nach welchen Kriterien an? Die Ordnungskriterien der Liste des Newsfeeds werden als intransparente Ordnung sichtbar. Die technische Intransparenz der algorithmischen Selektionskriterien wird als vermachtete Ordnung reflektiert und damit als Irritation und Störung erkennbar. Exakt in diesem Transparent-Werden latenter Ordnungsleistungen lässt sich die Macht der Liste sichtbar machen: Im Alltag gelingt es durch das Medium regelrecht hinter dem Rücken der Akteure bestimmte, d.h. selektive, kommunikative Anschlüsse wahrscheinlicher zu machen.

Wir nehmen hier Bezug auf einen kommunikationstheoretischen Machtbegriff, den Niklas Luhmann vorgeschlagen hat: Macht kann man demnach begreifen als eine „Chance (…), die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern.“7 Das Bezugsproblem, dass hier sichtbar wird, ist: die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Diese Unwahrscheinlichkeit des Anschlusses lässt sich mit Luhmann auch als Medien-Effekt beschreiben. Mit dem Einsatz der Schrift wird Kommunikation von den Dringlichkeiten der Interaktion unter Anwesenden gelöst – Abweichungen, Nein-Stellungnahmen und Kritik sind nun vermehrt möglich. Wie aber kann man die Anschlussfähigkeit an Kommunikations-Offerten sichern? Schrift verschärft das Problem der Anschlussfähigkeit von Kommunikation; gleichzeitig sichert Schrift als Medium aber auch den Aufbau neuer Formen der Anschlussfähigkeit: Als Verbreitungsmedium ermöglicht sie Telekommunikation mit Abwesenden in Raum und Zeit. Die Bezugsprobleme von Erfolgs- und Verbreitungsmedien konstituieren und steigern sich also gegenseitig. Wir können an diesen Ausführungen erkennen, dass Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einerseits auf den Einsatz von Schrift als Medium reagiert und gleichzeitig über Schrift als Medium implementiert wird. Macht und Medium hängen damit unmittelbar zusammen.

Medienarchäologisch wissen wir sehr genau, dass einerseits das Anfertigen von Listen der Schriftentwicklung vorausgeht sowie andererseits, dass historisch mit der Ausdifferenzierung einer sozialen Trägergruppe, der Beamtenschaft und ihrem Expertenwissen, Prozesse der sozialen Stratifizierung einher gehen. Mit Blick auf Listen stellten sich also immer schon Fragen nach der Macht über die Liste: Nach welchen Selektionskriterien steht ein Eintrag auf einer Liste? Wer entscheidet hierüber? Jack Goody hat die Liste deshalb als „Kampffeld“8 bezeichnet, da das Anfertigen von Listen mit Praktiken des Ein- und Ausschlusses einhergehe. In dieser Hinsicht lässt sich der Newsfeed als administrative Liste begreifen. Administrative Listen dienen der Verwaltung und des Austauschs von Objekten und Informationen. Eine historisch folgenreiche Form der administrativen Liste ist der Zensus, da wir hier auf die Ko-Evolution des Schreibens von Listen und der Idee der politischen Gestaltbarkeit bestimmter Territorialräume stoßen. Zur politischen Gestaltung braucht man Kollektive, die man jedoch nicht einfach voraussetzen kann, sondern erst erzeugen muss. Und exakt in diesem Zusammenhang steht das Anfertigen von Listen seit seinen Ursprüngen auch im Kontext von Macht. Die Macht der Liste liegt hier in der Steuerung der Emergenz und Sichtbarmachung von Kollektiven.

Medien, so eine zentrale Annahme der Medientheorie, bleiben in ihrem praktischen Vollzug unsichtbar, solange sie funktionieren.9 Die Medialität der Liste entzieht sich beim Posten und Chatten ihrer Beobachtbarkeit und steht unter Latenzschutz10. Gerade diese Latenz ermöglicht es, Listen auch als Technik der Steuerung von Kommunikation, also im Sinne eines instrumentellen Kalküls zu nutzen – von Seiten der Plattformen, wie auch der User*innen. Im Alltag übersehen wir Listen deshalb regelmäßig. Wir nehmen Listen als Technik der „funktionierende[n] Simplifikation“11 wahr, die Reflexivität überflüssig macht, weil ja technisch funktioniert, was sich bewährt hat. Dieses Verhältnis von Technik und Latenz können wir schon daran erkennen, dass wir beim Benutzen weder unseres Toasters noch unseres Computers, unserer Sprache oder unserer Ergebnis-Liste von Google wissen müssen, wie diese Technik jeweils funktioniert. Im Gegenteil gilt sogar: Würden wir beim Sprechen bei jedem Wort hinterfragen, ob die symbolische Übereinkunft der Zeichen tatsächlich Verstehen beim alter ego produziert – wir könnten uns nicht mehr über die Sprache verständigen. Die „Unzuhandenheit“12 und Latenz der Technik ist dabei notwendige Bedingung für ihr reibungsloses Funktionieren. Macht und Technik funktionieren kommunikationstheoretisch strukturäquivalent: Sie sind am effektivsten, solange sie innerhalb der Kommunikation unsichtbar bleiben können, also z. B. die Machtmittel gerade nicht gezeigt werden müssen, sondern alter ego selbst das will, was er soll. Oder alter ego nur solche Kommunikationsofferten sieht, die der Algorithmus vorgeschlagen hat und somit Muster und selektive Anschlussroutinen in die Divergenz von kommunikativen Anschlussmöglichkeiten eingebaut werden können (z. B. bis hin zur technischen, d.h. festen Kopplung von bestimmten Anschlüssen, wie es Filter- und Netzwerkeffekte der Kommunikation zeigen). Und damit wird die Macht der Liste hier im Zusammenhang von Transparenz und Intransparenz sowie von Öffentlichkeit und Geheimnis und damit in einem seit der Aufklärung zentralen Konfliktverhältnis der Öffentlichkeitsbildung verstehbar.

Die Macht der Liste liegt also darin, dass sie unter der Hand Kommunikationsprozesse ordnet und damit auch nicht intendierte kommunikative Formen des Öffentlichen hervorbringt: geringere inhaltliche Kohärenz-Erwartungen an Kommunikation, eine beiläufige und schnelle zeitliche Taktung der Kommunikation sowie die Versammlung heterogener Publika machen die hohe Inklusivität von sozialen Netzwerken sichtbar. Nutzer*innen können alles posten, Kontexte, Themen und Adressaten leicht und schnell wechseln und dabei auch immer wieder neu anfangen, ohne etwas „zu Ende“ zu diskutieren. Und so werden im Medium der Liste kontinuierlich diskontinuierliche Anschlusskommunikationen über differente Kontexte wahrscheinlich.13 Man kann dies letztlich als die inklusive Macht der Liste auf Facebook beschreiben: Sie basiert gerade nicht auf Kohärenz und Beständigkeit, wie man sich dies vielleicht aus einer diskurstheoretischen Perspektive auf Öffentlichkeit vorstellt und dann mit Enttäuschung reagiert14 (zuletzt Habermas 2021), sondern sie besteht in der hohen Inklusivität einer durch eine Logik der Diskontinuität und (De-) Kontextualisierung geordneten Liste.

References

  1. Die folgenden Ausführungen basieren in Teilen auf bereits von uns publizierten Einsichten: Wagner, Elke/Barth, Niklas (2016): Die Medialität der Liste. Digitale Infrastrukturen der Kommunikation. In: Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften. München: Wilhelm Fink. S. 343-358. https://doi.org/10.30965/9783846757048_019.
  2. Siehe hierzu im Beobachtungsmodus zweiter Ordnung: Schaffrick, Matthias/Werber, Niels (2017): Die Liste, paradigmatisch. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47, S. 303–316. https://doi.org/10.1007/s41244-017-0069-z.
  3. Stäheli, Urs (2011): Listing the global: dis/connectivity beyond representation? In: Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory, 13/3. S. 233-246. https://doi.org/10.1080/1600910X.2012.724646; Stäheli Urs (2016): Indexing – The politics of invisibility. Environment and Planning. In: Society and Space. 34(1): S.14-29. https://doi.org/10.1177/0263775815604925; Contzen, Eva von (2016): The Limits of Narration. Lists and Literary History. In: Style 50, Heft 3, S. 241–260. https://doi.org/10.1353/sty.2016.0015; Schaffrick, Matthias/Werber, Niels (2017): Die Liste, paradigmatisch. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47, S. 303–316.
  4. Goody, Jack (1977): The Domestication of the Savage Mind, Cambridge.
  5. Goody, Jack (2012): Woraus besteht eine Liste? In: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, Berlin, S. 384.
  6. Stäheli, Urs (2011): Listing the global: dis/connectivity beyond representation? In: Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory, 13/3. S. 233-246.
  7. Luhmann, Niklas (1975/2012): Macht. Konstanz/München: UVK/UTB, S. 20.
  8. Goody, Jack (2012): Woraus besteht eine Liste? In: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, Berlin, S. 147.
  9. Krämer, Sybille (2008): Die Heteronomie der Medien. Versuch einer Metaphysik der Medialität im Ausgang einer Reflexion des Boten. In: dies. (Hg.): Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 26ff.
  10. Barth, Niklas (2020): Gesellschaft als Medialität. Studien zu einer funktionalistischen Medientheorie, Bielefeld: transcript, S. 70ff., 226ff. https://doi.org/10.1515/9783839452363.
  11. Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin: De Gruyter, S. 97.
  12. Heidegger, Martin (2001): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, S. 73.
  13. Wagner, Elke/Barth, Niklas (2016): Die Medialität der Liste. Digitale Infrastrukturen der Kommunikation. In: Kalthoff, Herbert / Cress, Torsten / Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften. München, Wilhelm Fink.
  14. Habermas, Jürgen (2021): Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In: Leviathan, 49 (Sonderband 37), 470 – 500. https://doi.org/10.5771/9783748912187-470.

SUGGESTED CITATION: Barth, Niklas; Wagner, Elke: Die inklusive Macht der Liste. Listen auf Social Network Sites am Beispiel von Facebook, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/die-inklusive-macht-der-liste/], 11.05.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220511-0830

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