Tobias SchlechtriemenSozialfiguren der Corona-Pandemie

Patient 0

Patient 0 – oder die Suche nach dem Ursprung der Pandemie Erschienen in: Sozialfiguren der Corona-Pandemie Von: Tobias Schlechtriemen

Patient 0 ist krank und: Er ist ansteckend. Mitunter bekommt er davon gar nichts mit, weil er keine Symptome zeigt. Dennoch – und gerade wenn er selbst davon nichts merkt – überträgt er die Viren auf andere Menschen, auf viele Menschen. In der Folge weitet sich die Krankheit zu einer Epidemie oder sogar Pandemie aus. Patient 0 bildet dabei den Ausgangspunkt der Ausbreitung. In der Regel wird Patient 0 (epidemiologisch: der Indexpatient) erst im Nachhinein bestimmt. Epidemiolog*innen betreiben dazu das contact tracing, bei dem sie die Ansteckungsketten rekonstruieren. Angesichts gravierender Folgen wird zudem nach der Schuld gefragt – und sie wird dort gesucht, wo alles anfing: bei Patient 0. Für die Frage nach der Verantwortung macht es einen wesentlichen Unterschied, ob Patient 0 von seiner Erkrankung wusste oder nicht. Hat er unwissentlich andere angesteckt oder wissentlich die Ansteckung in Kauf genommen? Hier deutet sich bereits an, dass der Patient oder die Patientin 0 – geschlechtlich ist die Sozialfigur nicht festgelegt – nicht nur epidemiologisch definiert wird, sondern auch moralische Fragen des richtigen Verhaltens und der Verantwortung aufwirft.

Der Auftritt von Patient 0

Jede Sozialfigur hat irgendwann und irgendwo ihren Auftritt. Patientin 0 betritt die öffentliche Bühne in Deutschland bereits Ende Januar im Bayerischen Unternehmen Webasto. Eine chinesische Mitarbeiterin war zu einer Fortbildung angereist und wurde bei ihrer Rückkehr in China positiv auf das neuartige Coronavirus getestet. Während der Arbeitstreffen in Stockdorf hatte sie mehrere Mitarbeiter*innen angesteckt. Der Spiegel bezeichnete dies als „Die unglückliche Reise von Patientin null“1. Über die Nachverfolgung der Kontakte, die direkte Isolation und Quarantäne-Maßnahmen konnte eine weitere Ausbreitung gestoppt werden. Ende Februar in Heinsberg gelang die Rekonstruktion der Infektionsketten nicht mehr so schnell. Entsprechend gab es zunächst keinen Patienten 0. In Italien spitzte sich zur gleichen Zeit die Lage zu und Patient 0 fungierte als verzweifelt gesuchte, aber unerreichbare Zielfigur.

Im Tiroler Skiort Ischgl tauchte etwa zeitgleich eine Variante von Patient 0 auf: der ‚Superspreader‘. So wird der Barkeeper der Après-Ski-Bar Kitzloch genannt. Der Superspreader markiert nicht unbedingt den Anfang, aber er beschleunigt die Ausbreitungsdynamik erheblich. Von ihm aus laufen die Ansteckungsketten in alle Richtungen. Après-Ski-Parties und Fussballspiele, aber auch Gottesdienste und Chorproben werden in der Folge als ‚Superspreading-Events‘ bezeichnet. Auf internationaler Ebene wird der Ausbruch und damit die Frage nach Patient 0 in den wechselseitigen Schuldzuschreibungen zwischen den USA und China verhandelt. Die genannten Stationen zeigen, dass die historische Eingrenzung des Auftritts einer Sozialfigur vom Standpunkt der Betrachtung abhängig ist. Patient 0 kann daher für einen regionalen Ausbruch ermittelt werden, aber auch für die Pandemie insgesamt.

Der Ausbruch in Wuhan – der chinesische Fischhändler Chen Qingbo

Der Leitartikel des Spiegel vom 9. Mai 2020 rekonstruiert den Ausbruch der Pandemie auf dem Huanan-Markt in der chinesischen Metropole Wuhan. Patient 0 tritt dabei gleich zu Beginn des Textes auf: „Am Morgen des 20. Dezember 2019 räumt der chinesische Fischhändler Chen Qingbo seinen Markstand auf. Er ahnt nicht, dass er bald zum Forschungsgegenstand wird, dass er ein Virus in sich trägt, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und dass sein Schicksal verbunden ist mit dem der ganzen Menschheit.“Chen Qingbo arbeitet als Kleinunternehmer sieben Tage die Woche. In die Regelmäßigkeit seines Arbeitsalltags und die Vorbereitungen des alljährlichen Neujahrsfestes bricht die Katastrophe ein. Er ist noch ahnungslos, aber die Leserinnen und Leser wissen bereits von seiner globalen Bedeutung. Der Text lässt kontrastierend die lokalen Alltagsrhythmen und das Ereignis mit weltweiter Relevanz aufeinanderprallen.

Zum lokalen Setting gehört der Huanan-Markt, in dessen Ostteil sich Chen Qingbos Fischstand befindet. Im Westteil des Marktes „befinden sich einige Stände, die exotische Ware anbieten: Schlangen-, Fuchs- und Salamanderfleisch; Skorpione und Krokodile, lebende Igel […] und Schleichkatzen […]. Letztere gelten als Überträger des 2002 in Südchina ausgebrochenen Sars-Coronavirus.//Die Tiere werden unter erbärmlichen Bedingungen in Käfigen gehalten; Bilder, die von diesem Teil des Marktes vor seiner Schließung am 1. Januar gemacht wurden, zeigen düstere Marktstände und schauderhafte hygienische Verhältnisse.“‚Exotisch‘, ‚erbärmlich‘, ‚schauderhaft‘ – so wird hier das Szenario am vermeintlichen Ursprung des Virus geschildert. Es besteht eine Nähe von Menschen und Tieren, die den Übersprung von Krankheitserregern begünstigt. Die virologische Annahme, die dem zugrunde liegt, ist die Zoonose, die Übertragung einer Krankheit vom Tier auf den Menschen. Chen Qingbo hatte – so legt es der Artikel nahe – zumindest indirekten Kontakt mit dem Westteil des Marktes, infizierte sich und verbreitete anschließend das Virus.

Auch wenn es sich bei dem Fischhändler Chen Qingbo um eine historische Person handelt, werden ihm im Spiegel deutliche Züge der Sozialfigur verliehen. In die Personenbeschreibung dieses Artikels – wie in viele andere Darstellungen von Patient 0 – mischen sich Elemente, die mitunter eine lange Geschichte haben, zum Teil aus popkulturellen Darstellungen stammen und diese Versatzstücke so einbringen, dass gesellschaftliche Fragen am Beispiel der Figur verhandelt werden können. Zu Patient 0 gibt es insbesondere zwei Vorläuferfiguren, zwei Präfigurationen, die als Kern von ganzen Narrativen im kulturellen Gedächtnis abgelagert sind und bei einer solchen Gelegenheit reaktiviert werden: Mary Mallon, die als ‚Typhoid Mary‘ bekannt wurde, und Gaëtan Dugas, der lange Zeit als erster HIV-Infizierter Nordamerikas galt.

Typhoid Mary

Anfang des 20. Jahrhunderts spürten die Gesundheitsbeauftragten George Soper und Josephine Baker Mary Mallon in New York auf.Ihnen war aufgefallen, dass immer wieder Mitglieder der wohlhabenden Familien, für die sie als Köchin arbeitete, an Typhus erkrankten. Die Erkenntnis, dass eine Person, die selbst keine Symptome aufweist, dennoch als Trägerin andere infizieren kann, war zu dieser Zeit neu. Zum Schutz der Bevölkerung wurde Mary Mallon auf die Insel North Brother Island vor New York gebracht. Das geschah gegen ihren Willen und so stellte sich die Frage, wie lange sie dort festgehalten werden konnte.

Abb. 1: Zeitungsartikel „Typhoid Mary: Most Harmless Yet Most Dangerous Woman in America"
Abb. 1: „Typhoid Mary: Most Harmless Yet Most Dangerous Woman in America”5

Als erster dokumentierter Fall einer solchen Übertragung ohne Symptome provozierte Mary Mallon eine kontroverse Berichterstattung, in der sich die Figur der ‚Typhoid Mary‘ herausbildete. Ihre Zugehörigkeit zur Unterschicht spielte dabei eine ebenso wichtige Rolle wie ihre irische Herkunft. Sie wurde als ‚nicht besonders reinlich‘, ‚aufmüpfig‘ und mit ‚männlichen Allüren‘ beschrieben.Immer wieder wurde ihr unmoralisches Verhalten vorgeworfen, etwa dass sie nicht mit den Gesundheitsbehörden kooperiere und Inspektoren mit der Gabel aus dem Haus jage. Letztendlich blieb sie fast drei Jahrzehnte bis zum Ende ihres Lebens auf der Quarantäne-Insel. In der Folge wurde ihr öffentliches Bild in zahlreichen Romanen, Filmen und Comics bearbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit den Impfstoffen gegen Polio, Pocken und Typhus verschwindet die Geschichte von Typhoid Mary weitgehend und mit ihr auch das „Outbreak-Narrative“, wie es Priscilla Wald nennt.Sie tauchen erst in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit AIDS wieder auf.

Gaëtan Dugas

Zu dieser Zeit geriet der franko-kanadische Flugbegleiter Gaëtan Dugas in den Fokus der Öffentlichkeit, der lange als die Person galt, die HIV nach Amerika brachte. Er starb 1984 an den Folgen von AIDS. Mit Dugas erhielt Patient 0 erst seinen Namen: In einem Diagramm von 1982 wurde er als Patient O für „Outside of California“ bezeichnet (vgl. Abb. 2). Durch einen Übertragungsfehler verwendeten die CDC (Centers for Disease Control) anschließend „Patient Zero“. Diese Bezeichnung übernahm wiederum der Journalist Randy Shilts in seinem Buch And the Band Played On.8

Abb. 2: “Cluster of Cases of the Acquired Immune Deficiency Syndrome: Patients Linked by Sexual Contact”
Abb. 2: “Cluster of Cases of the Acquired Immune Deficiency Syndrome: Patients Linked by Sexual Contact”9

In Shilts Bestseller von 1987, der maßgeblich das öffentliche Bild von Dugas als patient zero prägte, sind die Rollen klar verteilt: Dugas verkörpert dabei den Bösewicht. Er sei nicht bereit gewesen, seine zahlreichen Sexualkontakte einzustellen, als klar wurde, dass er ansteckend sein könnte. Im Gegenteil: Er habe wissentlich das Virus über ganz Amerika gestreut. Die Darstellung ist von Motiven geprägt, die den Figurenbeschreibungen von Typhoid Mary ähneln. Dazu gehört, dass Dugas den Anfang markiere, dass er von außen gekommen sei und wesentlich zur Ausbreitung des Virus beigetragen habe, sowie der Vorwurf unmoralischen Verhaltens. Nicht bei Shilts, aber in vielen anderen Darstellungen kommt die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Homosexuellen-Szene hinzu.

Zum Umfeld der Figur, ihrer Figurenkonstellation, gehören prominent die medizinischen Expert*innen Luc Montagnier, Françoise Barré-Sinoussi und Robert Gallo, die 1983 erstmals das HIV Typ 1 identifizierten, wie Soper und Baker bei Typhoid Mary und Shi Zhengli, die sich mit Chen Qingbo befasste. In der Aids-Erforschung der folgenden Jahre wird sich herausstellen, dass HIV bereits deutlich vor Dugas in den USA zirkulierte. Und es begegnet uns ein weiteres Motiv aus Chen Qingbos Geschichte: die Zoonose. Man geht davon aus, dass HIV Anfang des 20. Jahrhunderts von Primaten in Westafrika auf den Menschen übertragen wurde und dann über Haiti nach Nordamerika kam.10

Die gesellschaftlichen Themen der sozialfigurativen Beschreibungen

Welche gesellschaftlichen Fragen werden anhand der Sozialfigur des Patienten 0 artikuliert?

1) Zunächst einmal stellen sich moralische Fragen nach dem richtigen oder falschen Verhalten. Wer sollte sich wie nach welchem Wissensstand und zum Wohle der Gemeinschaft verhalten?

2) Nicht nur der Umgang mit anderen Menschen, auch der Umgang mit der Natur wird problematisiert. Der Huanan-Markt mit seinen ‚erbärmlichen‘ Verhältnissen und der Enge von Menschen und Tieren ermöglicht erst den Übersprung des Virus’. Auch die Gegenthese, das Virus sei im Labor gezüchtet und entwichen, impliziert einen problematischen Umgang mit der Natur.

3) Nicht zuletzt wird eine Globalisierungsdynamik problematisiert, bei der ein ärmliches, lokales, meist von Agrarwirtschaft geprägtes Leben vor Ort auf eine wohlhabende, transnationale Lebensform trifft, die durch globale Mobilität charakterisiert ist, wie sie der Flugbegleiter Gaëtan Dugas verkörpert.11Anhand der Sozialfigur des Patienten 0 thematisiert die Gesellschaft folglich Fragen nach dem Verhalten der Einzelnen in Relation zum Kollektiv, nach einem angemessenen Umgang mit der Natur und nach der Gestaltung des transnationalen Zusammenlebens.

Die Form, in der dies geschieht, ist allerdings in doppelter Hinsicht problematisch. Mit Patient 0 wird die Frage nach dem Ursprung personalisiert. Es wird hier nicht in erster Linie ein virales Geschehen geschildert. Im Fokus steht vielmehr eine Person, der ein erheblicher Teil der Schuld zugeschrieben wird. Anstatt also Fragen nach den Ursachen der Krankheit in ihrer Komplexität zu betrachten, werden sie anhand des Verhaltens eines einzelnen Menschen zuspitzend ‚vereinfacht‘.

Mit der Personalisierung geht zudem ein othering einher, denn die Person wird einem Außen zugerechnet. Ob Typhoid Mary als irische Einwanderin, Gaëtan Dugas als von außen Kommender, der ‚exotische‘ Teil des Huanan-Marktes in China – in der Regel wird mit Patient 0 eine klare Grenze gezogen zwischen einem ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘. Ganz im Sinne von René Girards Sündenbock-Mechanismus wird alles Problematische auf eine Figur außerhalb der Gemeinschaft projiziert und das Eigene demgegenüber bereinigt. Anstelle der Schuldzuschreibung auf die Figur des Fremden ginge es aber eigentlich darum, die verhandelten Themen als eigene Herausforderungen zu begreifen und als solche zum Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu machen.

References

  1. Der Spiegel, Nr. 21, 16.5.2020.
  2. Der Spiegel, Nr. 20, 9.5.2020, S. 9.
  3. Ebd., S. 11.
  4. Zur Geschichte von Mary Mallon vgl. Marouf A. Hasian, Power, Medical Knowledge, and the Rhetorical Invention of “Typhoid Mary”, in: Journal of Medical Humanities, Vol. 21, No. 3, 2000, S. 123-139. https://doi.org/10.1023/A:1009074619421
  5. Ausschnitt aus „Typhoid Mary: Most Harmless Yet Most Dangerous Woman in America”, in: New York American 20. Juni 1909. Abbildung verfügbar unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mallon-Mary_01.jpg
  6. Vgl. Hasian 2000, S. 130.
  7. Priscilla Wald, Contagious. Cultures, Carriers, and the Outbreak Narrative, Durham/London: Duke University Press 2008.
  8. Randy Shilts, And the band played on: politics, people and the AIDS epidemic, New York [u. a.]: Penguin Books, 1988.
  9. Aus: Richard A. McKay, ‘Patient Zero’: The Absence of a Patient’s View of the Early North American AIDS Epidemic, in: Bulletin of the History of Medicine, 2014, 88: S. 161-194, hier: S. 172. https://doi.org/10.1353/bhm.2014.0005
  10. Paul M. Sharp and Beatrice H. Hahn Origins of HIV and the AIDS Pandemic, in: Cold Spring Harb Perspect Med, 2011, Sept. 1 (1). https://doi.org/10.1101/cshperspect.a006841
  11. Wald erläutert, wie dabei Schuld zugeschrieben und eine ‚moderne Teleologie‘ etabliert wird: „Displacing the problem of poverty onto the danger of ‘primitive practices‘ allowed these accounts to offer modernization as a promised solution to, rather than part of the problem of, emerging infections.“ (Wald 2008, S. 8)

SUGGESTED CITATION: Schlechtriemen, Tobias: Patient 0 – oder die Suche nach dem Ursprung der Pandemie, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/patient-0/], 16.11.2020

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20201116-0905

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