Spieglein, Spieglein an der Wand…

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des interdisziplinären Blockseminars “Wohnen – Kulturwissenschaftliche Perspektiven”, das Julika Griem und Tobias Schlechtriemen an der Universität Duisburg-Essen und der Albert Ludwigs-Universität Freiburg mit Studierenden der Sozial- und Kulturwissenschaften im SoSe 2022 durchführten. In den Beiträgen erproben die Bachelor- und Masterstudierenden einzelne kulturwissenschaftliche Perspektiven und Methoden jeweils an einem Fallbeispiel.
…wer ist die Schönste im ganzen Land? Diese Frage stellte sich nicht nur Schneewittchens Stiefmutter in dem über 200 Jahre alten Märchen. Auch heute befragen wir den Spiegel tagtäglich nach unserem Aussehen. Meistens ist es aber nicht unsere Schokoladenseite, nach der wir Ausschau halten, sondern eher ein neuer Pickel, besonders dunkle Augenringe oder das T-Shirt, das nicht richtig sitzt. Doch warum schauen wir so oft in den Spiegel, wenn wir uns häufig danach eher schlechter fühlen? Was hat es mit diesem Möbelstück auf sich, das in jeder Wohnung einen festen Platz hat? Um uns der Bedeutung des Spiegels zu nähern, schauen wir uns erst einmal an, wie Spiegel überhaupt in unseren Wohnungen gelandet sind.
Das Spiegelbild gibt es schon viel länger als den Spiegel selbst, und es hat uns schon immer fasziniert. Es bildet sogar eine wichtige Unterscheidung von Tier und Mensch, dass sich der Mensch im Spiegel selbst erkennt.1 Schon lange betrachten Menschen ihre Spiegelung in stillgelegten Wasserbecken. Um diesen Effekt zu perfektionieren, stellten die Menschen in Anatolien ca. 6000 v. Chr. die ersten Spiegel aus poliertem Obsidian her.2 Aus Ägypten stammen dann wahrscheinlich die ersten Handspiegel der Welt, die aus polierten Kupferscheiben mit Handgriffen gefertigt wurden. Im Laufe der Zeit wird das Kupfer durch das stärkere Metall Bronze ersetzt.3 Um ca. 2000 v. Chr. sind Spiegel weltweit verbreitet und können in fast jeder Region der Welt mit sesshaften Gesellschaften nachgewiesen werden.4 Danach nimmt die Verbreitung von Spiegeln und deren Qualität weiter rapide zu. Den Römern gelingt es, das Metall durch Glas zu ersetzen. Ab dem 14. Jahrhundert gibt es dann neben Handspiegeln auch Taschen- und Tischspiegel.5 Eine weitere Neuerung kommt hinzu, als eine venezianische Glasbläserei großflächige Spiegel herstellt, indem sie eine Masse aus Zinn und Quecksilber hinter eine Glasscheibe gießt. Dadurch ist es möglich, den Körper von Kopf bis Fuß zu sehen. Mit dem Erfolg einer französischen Glasmanufaktur bricht das venezianische Monopol.6 Diese errichtet Ende des 17. Jahrhunderts den prächtigen Spiegelsaal im Schloss Versailles, der Ausdruck der Macht und des Reichtums dieser Zeit ist. Bis zu diesem Zeitpunkt sind Spiegel Luxusgüter und damit schwer zugänglich für Bürger*innen oder gar arme Menschen. Im 19. Jahrhundert ändert sich dies; nun werden Friseure, Kauf- und Kaffeehäuser mit Spiegeln bestückt. Das Luxusgut wird Teil des Alltags. Auch in der Inneneinrichtung wird er ein fester Bestandteil. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es in so gut wie jeder Wohnung einen Spiegel im Schlaf- oder Badezimmer. Durch die Verbreitung des Spiegels rückt das Äußere mehr in den Fokus und ist sicherlich ein Zeichen fortschreitender Individualität: „Eine ganze Gesellschaft entdeckt einen neuen Blick auf sich selbst und eine neue Art sich zu beurteilen“.7
Der Spiegel wird je nach Zeit und Kultur auf vielfältige Weise genutzt. Dabei werden dem Spiegel oftmals übersinnliche Mächte zugesprochen.8 Beispielsweise nutzen heute noch Schamanen den Spiegel, um negative Energien fernzuhalten.9 Auch im Aberglauben spielt die Beziehung zwischen Energiefluss und Spiegeln eine wichtige Rolle. Ein Spiegel darf auf keinen Fall kaputt gehen, ansonsten stehen einem sieben Jahre Unglück bevor. Im Gegensatz dazu geht es in Klöstern nicht um Übersinnliches, sondern man verbietet Spiegel, da sie die Selbstgefälligkeiten fördern könnten.10 Sogar im militärischen Bereich nutzt man Spiegel als Heliographen zur Nachrichtenübermittlung.11 Entscheidend ist er auch im Feng-Shui, der Harmonielehre Chinas. Hierbei gibt es klare Regeln in der Wohnungseinrichtung, wo ein Spiegel hängen darf, um auch hier die Energie nicht zu beeinflussen.12 Im Gegensatz dazu bestimmt in der westlichen Inneneinrichtungs-Welt die Helligkeit und Größe des Raumes den Ort des Spiegels.
Der Spiegel ist allerdings nicht nur ein Möbelstück, das den Raum verschönert, sondern kann als eigener Mikrokosmos angesehen werden. Er bietet dem Menschen einen Raum, sich selbst wahrzunehmen, eine Beziehung zu sich und dem eigenen Spiegelbild aufbauen. Er dient der Schönheitspflege und Selbstwahrnehmung. Dabei schafft er Selbstvergewisserungs-Momente und verleiht ein Gefühl von Kontrolle. Der Spiegel verbindet damit die Innen- und Außenwelt: zum einen zeigt er, wie wir aussehen und wie uns andere wahrnehmen.13 Zum anderen schafft er einen intimen, privaten Raum, der der Außenwelt nicht zugänglich ist. So wurde der Spiegel im Französischen bis 1850 „Psyche“ genannt, was genau diese Beziehung zwischen dem Inneren und Äußeren beschreibt.14
Der Spiegel scheint Menschen fasziniert zu haben – und stellt längst einen selbstverständlich genutzten Gebrauchsgegenstand dar. Welchen Stellenwert hat er in unseren Lebens- und Wohnwelten? Bewusst fällt er uns im Alltag eher weniger auf. Um genauer zu verstehen, welche Rolle der Spiegel für uns persönlich spielt, haben wir ein Experiment durchgeführt: Eine Woche verzichteten wir auf den Spiegel. Eine gar nicht so leichte Aufgabe, da wir durchschnittlich 50-mal täglich in den Spiegel schauen.15 Wie kann man es verhindern, wenn man nur so von Spiegeln umgeben ist? Allein in der eigenen Wohnung hängen schon mehrere. Auch außerhalb wird man ständig mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert. Für unser Experiment hängen wir16 die Spiegel in der Wohnung ab. Außerhalb der Wohnung setzen wir auf Selbstdisziplin. Wir versuchen also, bewusst nicht in den Spiegel zu schauen oder den Blick abzuwenden. Und dann geht es los!

An den ersten Tagen denken wir ständig an das Experiment und die Existenz der Spiegel fällt uns noch viel mehr auf als sonst. Es geht nicht lediglich um den Schlafzimmer- und Badspiegel, sondern auch um eingerahmte Bilder oder die Ofenscheibe. Das Bedürfnis, einen Blick in den Spiegel zu werfen, ist ziemlich groß und uns passiert es nicht nur einmal, dass wir aus Versehen in den Spiegel schauen. Während wir vor dem Experiment oft unbewusst in den Spiegel geblickt haben, müssen wir uns nun bewusst von ihm fernhalten. Damit ist der Spiegel in der ersten Zeit sehr präsent. Eigentlich präsenter denn je zuvor. Wir dürfen uns selbst zwar nicht sehen, der Spiegel als Gegenstand und seine Allgegenwärtigkeit fällt uns jedoch dadurch viel mehr auf. Die Impulse, in den Spiegel zu schauen, müssen wir uns bewusst abtrainieren. Eine Maßnahme ist zum Beispiel, sich beim Händewaschen auf die Hände zu konzentrieren, um den Blick nach oben in den Spiegel zu vermeiden. Außerhalb der Wohnung stellt sich dies als eine echte Herausforderung dar. Erst jetzt fällt uns auf, wo wir uns überall im öffentlichen Raum selbst begegnen: im Fahrstuhl, in Schaufenstern oder sogar im Videocall. Da wir die Spiegel bei Freund*innen, auf der Arbeit oder im öffentlichen Raum natürlich nicht abhängen können, passiert es doch immer wieder, dass wir einen kurzen Blick in den Spiegel werfen. In diesen Momenten erschrecken wir fast vor uns selbst, bis uns auffällt: „Ach, da bin ich ja!” Manchmal braucht es diese Fauxpas, um zu merken, wie oft wir aus reiner Gewohnheit in den Spiegel schauen. Spiegelnde Oberflächen scheinen unseren Blick regelrecht anzuziehen und es ist schwerer als gedacht, sich dem zu entziehen.
Je länger wir versuchen, auf Spiegel zu verzichten, desto mehr Gedanken machen wir uns über unser Aussehen und Auftreten. „Ist der Haaransatz schon fettig? Ist der Scheitel richtig gezogen? Habe ich etwas zwischen den Zähnen oder vielleicht noch Zahnpasta am Mund?“ Normalerweise lassen sich diese Fragen durch einen kurzen Kontrollblick klären. Da kein Spiegel vorhanden ist, ist aber keine Kontrolle möglich, also müssen die Mitmenschen ran. Um sicherzustellen, dass hygienemäßig alles passt und uns auch kein Fashion-Fauxpas passiert, befragen wir während des Experiments unsere Mitbewohner*innen, Familienmitglieder oder Freund*innen. Auch bauen wir neue und gründlichere Routinen auf. Nach dem Essen spülen wir beispielsweise den Mund mit Wasser aus, um sicherzustellen, dass wir nichts zwischen den Zähnen haben. Wir ersetzen den Blick in den Spiegel durch andere Kontrollmechanismen.
Wir merken schnell, dass das Bedürfnis nach Kontrolle stark mit dem aktuellen Selbstbewusstsein zusammenhängt. An Tagen, an denen wir uns eher unsicher fühlen, fehlt der Kontrollblick in den Spiegel mehr als an selbstbewussten Tagen. Die schlechten Tage sind geprägt von innerer Unruhe oder sogar Stress. Wir haben die ganze Zeit das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Dabei ist es nur ein Kontrollblick, mit dem wir uns vergewissern, dass wir so aus dem Haus gehen können.
Neben der Unsicherheit und der fehlenden Kontrolle stellt sich nach ein paar Tagen gleichzeitig eine gewisse Entspannung ein. Die Kritik, die wir täglich an uns selbst üben und das Nachdenken über die eigenen, äußerlichen Mängel fallen auf einmal weg. Natürlich fühlen wir uns trotzdem manchmal müde und einfach erschöpft. Aber ohne den Spiegel bleibt es nur bei diesem Gefühl. Wir verschlimmern die Situation nicht noch, indem wir die tiefen Augenringe oder den neuen Stresspickel kritisieren. Auch fällt nun die Kleiderwahl viel leichter. Wir suchen uns recht schnell ein Outfit aus, ohne es auf potenzielle Makel zu untersuchen. Teilweise entscheiden wir uns sogar für Kleidung, die wir sonst eher selten tragen. In dieser kurzen Zeit ohne Spiegel sind die Äußerlichkeiten, an denen wir uns sonst schnell aufhängen, auf einmal nicht mehr so relevant, was uns gelassener macht. Die neu gewonnene Zeit können wir für andere, wichtigere Dinge nutzen.
Aber auch wenn wir noch ein paar Tage länger ohne Spiegel aushalten würden, können wir es kaum erwarten, wieder in den Spiegel schauen zu können. Der erste Blick: „Ha, das bin ja ich! Hallo, schön dich zu sehen!“ Doch als hätten wir nichts gelernt über Selbstkritik am Spiegel, gilt der zweite Blick direkt den neuen Pickeln und dem kleinen grünen Spinatblatt, das links oben zwischen den Zähnen steckt. Mist, warum hat denn niemand was gesagt?! Das positive Gefühl vor dem Spiegel überwiegt dann doch, denn wir fühlen uns uns selbst wieder näher als während des Experiments. Der Spiegel zeigt uns eben nicht nur, wie wir von außen wahrgenommen werden, sondern spiegelt auch unser inneres Empfinden. Wenn wir in den Spiegel schauen, bauen wir eine Beziehung mit uns selbst auf. Ohne Spiegel können sich Tage, an denen wir verletzlich und distanziert zu uns selbst sind, noch fremder anfühlen. Deshalb ist unser Fazit:
Für immer auf den Spiegel verzichten? Nein, danke!
Ab und zu den Spiegel vermeiden? Ja, gerne!
Das Experiment hat uns gezeigt, dass der Spiegel alles andere als ein neutraler Gegenstand in unserer Wohnung ist. Er ist immer wertend: Das kann etwas Gutes sein, wenn wir uns schön und selbstbewusst fühlen, und umgekehrt kann er Zweifel und Unsicherheiten verstärken und unser ohnehin schon angekratztes Selbstbewusstsein verschlimmern. Der Spiegel kann also Freund und Feind zugleich sein und erfordert deshalb einen bewussten Umgang. Wie dieser Umgang konkret aussieht, muss jede Person für sich selbst entscheiden, weil der Spiegel auf jeden Menschen anders wirkt. Wenn wir einen Spiegel in der Wohnung aufhängen wollen, ist es also nicht nur sinnvoll, dass er räumlich gut passt, sondern auch psychisch wohlwollend ist. Wir verstehen nun, warum der Spiegel früher „Psyche“ genannt wurde und warum er so oft mit Übersinnlichkeit in Verbindung gebracht wurde: Der Spiegel macht etwas mit uns, er hat Einfluss auf unsere psychische Verfassung. Er ist damit nicht nur ein Dekorationselement in unserer Wohnung, das den Raum vergrößert oder erhellt, sondern ein wortwörtlicher Spiegel für unser aktuelles Befinden. An schlechten Tagen können wir den Spiegel getrost meiden. An guten Tagen aber dürfen wir uns wie Schneewittchens Stiefmutter vor den Spiegel stellen, denn die Antwort lautet dann gerne einmal:
Spieglein, Spieglein, an der Wand, ich bin die Schönste im ganzen Land!
References
- Nielsen, M.; Suddendorf, T.; Slaughter, V. (2006): Mirror Self-Recognition Beyond the Face, in:. Child Development, 77, S. 183. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2006.00863.x.
- Enoch, J. M. (2006): History of Mirrors Dating Back 8000 Years, in: Optometry and Vision Science, 83(10), S. 775. https://doi.org/10.1097/01.opx.0000237925.65901.c0.
- Ebd., S. 776
- Ebd., S. 780.
- Vaupel, B. (online, 2009): Eine kleine Kulturgeschichte des Spiegels. Der Zauber des Widerscheins. https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2009/2/der-zauber-des-widerscheins.php; 16.09.2022
- Arte (2021): Woher kommt der Spiegel? Youtube, 07.06.2021. https://www.youtube.com/watch?v=cB2FL6K32VY; 16.09.2022
- Ebd.
- Concept 2U (online, 2015): Der Spiegel in verschiedenen Kulturen: So wird er genutzt! https://blog.concept2u.de/der-spiegel-verschiedenen-kulturen-wird-er-genutzt.html; 16.09.2022
- Ebd.
- Wikipedia (online, 2022): Spiegel. https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel; 16.09.2022
- Concept 2U (2015).
- WESTWING (online, 2022): Feng-Shui Spiegel. https://www.westwing.de/inspiration/einrichten/nach-feng-shui-einrichten/feng-shui-spiegel/; 16.09.2022
- Arte (2021).
- Arte (2021).
- Gruys, K. (2013): Mirror Mirror off the wall: how I learned to love my body by not looking at it for a year. Avery: Penguin Publishing Group.
- Wir haben das Experiment unabhängig voneinander geführt und unsere Erfahrungen in einem Tagebuch festgehalten. Da wir sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben, werden die Erlebnisse in der gemeinsamen Wir-Form geschildert.
SUGGESTED CITATION: Schmuck, Alena; Steinmetzer, Ida: Spieglein, Spieglein an der Wand…, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/spieglein-spieglein-an-der-wand/], 19.12.2022