Laron JanusWohnen | Dwelling

Vom Neolithikum zur neozoophilen Neoallianz

Vom Neolithikum zur neozoophilen Neoallianz Zusammenwohnen von Mensch und Hund in der neosexuellen Revolution Erschienen in: Wohnen | Dwelling Von: Laron Janus

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des interdisziplinären Blockseminars “Wohnen – Kulturwissenschaftliche Perspektiven”, das Julika Griem und Tobias Schlechtriemen an der Universität Duisburg-Essen und der Albert Ludwigs-Universität Freiburg mit Studierenden der Sozial- und Kulturwissenschaften im SoSe 2022 durchführten. In den Beiträgen erproben die Bachelor- und Masterstudierenden einzelne kulturwissenschaftliche Perspektiven und Methoden jeweils an einem Fallbeispiel.

Als sprichwörtlicher bester Freund des Menschen, als Namensgeber des Blickes, dem zu widerstehen kaum jemand in der Lage ist, als Namensvetter einer arg ungemütlichen Wetterlage, bei der man selbigen nicht vor die Tür schicken will, als Wesen, das bei großer Bellbereitschaft geringe Bissfreude vermuten lässt im Allgemeinen und als Begleiter, der die Möglichkeit der Existenz Vico von Bülows zwar nicht hervorgebracht, aber deren Sinnhaftigkeit garantiert hat im Spezifischen – der Hund ist aus dem kulturellen Repertoire unserer Imagination schlicht nicht wegzudenken. In seiner pervasiven Präsenz kommt ihm kein Tier gleich. Allenfalls das Pferd, der Löwe und der Adler haben ähnliche linguistische und imaginative Durchdringungskraft bewiesen, wobei vor allem Letztere, obschon sie sich auf Wappen tapfer halten, im Angesicht der zunehmend sinkenden Nachfrage im Bereich der Heraldik und der Monumentalmalerei durchaus schon bessere Tage gesehen haben dürften.

Der Hund jedoch ist allgegenwärtig. Seine Attribute sind in einer Vielzahl an Sprichwörtern eingefangen, er begleitete jahrhundertelang Fürst*innen auf ihren Porträts, gilt in den USA auch in unserer Zeit – wir müssen nicht weit zurückdenken – als Indikator für einen fürsorglichen Präsidenten, hat als „bester Freund des Menschen“ den Ritterschlag unter den Haustierbeinamen erhalten und ist von seinem Domestikator in den letzten Jahrhunderten in alle nur erdenklichen Formen, Farben und Gebrechen hineingezüchtet worden.

Nicht nur als sprachlich evoziertes Tier steht der Hund in der Mitte unserer Gesellschaft, sondern auch als konkretes Lebewesen. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht allzu ausführlich in die Evolutions- und somit auch Domestikationsgeschichte der Canidae hineinbegeben; es ließe sich viel sagen über die sehr wahrscheinlich zehntausende von Jahren dauernde Koevolution von Mensch und Hund. Die Evolution des Hundes ist insofern interessant, als dass sie, möglicherweise stärker als bei anderen domestizierten Wesen, eine enge Reziprozität zur kulturellen Entwicklung des Menschen aufweist. Hunde rücken, zumindest in westlichen Gesellschaften, zunehmend in die kulturellen Lebensumstände von Menschen ein. In dieser Nähe können sie auch in einem Kontext betrachtet werden, den der Sexualforscher Volkmar Sigusch über verschiedene Werke hinweg als „neosexuelle Revolution“ bezeichnet hat.

Diese Fokussierung mag zuerst irritieren, sie legt einen Tabubruch nahe. Doch der dem Terminus neosexuelle Revolution zugrunde liegende Sexualitätsbegriff schließt den ‚klassischen‘ Geschlechtsverkehr zwar u. a. ein, reicht aber über diesen hinaus. Wir sprechen mit Sigusch von den Neozoophilen, von Menschen, die ihr Tier nicht zwingend als Sexualobjekt im engeren Sinne sehen. Der erweiterte Sexualitätsbegriff, mit dem hier gearbeitet wird, weitet den Blick auf alle Beziehungen, die sich als Intimbeziehungen bezeichnen lassen – auch die empirische Psychologie diskutiert, gerade im Hinblick auf Zoophilie, einen solchen Ansatz.1 Und als solche Intimbeziehung darf die Beziehung zwischen Mensch und Haustier durchaus gelten, denn, so führt Sigusch aus: „Dass in den reichen Ländern viele Menschen mit einem Tier, vor allem mit einem Hund oder einer Katze, in einer intimen Dauergemeinschaft leben, mit einem Tier, das sie wie einen Menschen behandeln, kann manfrau [sic] jeden Tag den Medien entnehmen oder auch ganz unmittelbar erleben.“2

Die Tatsache, dass die Lebensgemeinschaft eine Dauergemeinschaft ist, reicht nun aber noch nicht aus, um den Umstand ihrer Intimität zu erklären. In gewisser Weise ist auch das gemeinsame – oder: gemeinschaftliche – Dasein unter dem Dach des Langhauses, das sich in sogenannten vorzivilisatorischen Zeiten Mensch und Tier in diesen Breitengraden teilten, eine Gemeinschaft von Dauer. Sie dauert nicht nur an, sondern sie ist auch andauernd präsent; Mensch und Tier sind in einem gemeinsamen Raum kopräsent. Doch in der spezifischen Dauergemeinschaft, der Sigusch im neosexuellen Zeitalter Intimität attestiert, leben Tier und Mensch nicht als Tier und Mensch zusammen, den architektonischen Sachzwängen und der germanischen Land- und Hauswirtschaft geschuldet – sondern begegnen sich auf einer neuen Ebene, auf der sich Mensch und Tier gewissermaßen in einer Umkehrbewegung annähern: Die Menschen vertierlichen und die Tiere vermenschlichen. Dieser Prozess ist eine grundsätzliche Dynamik der neosexuellen Revolution, die Volkmar Sigusch „Hylomatie“ nennt.3 Hylomatie bezeichnet eine Bewegung der Dinge – zu denen wir die Tiere hier einmal zählen wollen, weil es auf eine Historie des Nicht-Subjekt-Status verweist. Die Hylomatie der Dinge läuft auf „Entstofflichung hinaus, indem sie jetzt über Qualitäten verfügen wie Liebreiz […], Sex Appeal, Kommunikabilität, Kreativität […]“.4

Dieses hylomatische Emporsteigen der Tiere in den Bereich des Geistigen/Subjekthaften ermöglicht eine wechselseitige Bezugnahme, die Spuren des Begehrens trägt. Sie ist erotisch, weil sie Abgründe überbrückt; das Tier ist dabei nicht Metapher/Fetisch, sondern Ersatz/Neofetisch (zum Beispiel für einen besten Freund, Lebenspartner).5 Dieses Begehren/diese Erotik erschließt sich einen Raum: Obschon Germanien und mit ihm das Langhaus lange passé sind, ist die gemeinsame Geschichte des Hundes und des Menschen eine Geschichte der Kohabitation, nicht zuletzt sprechen wir von Haus-Tieren. Diese Kohabitation, nennen wir sie, um Siguschs Stil treu zu bleiben, Neokohabitation, materialisiert sich heutzutage unter anderen empirischen Bedingungen.

In Deutschland (und vielen anderen Ländern der sog. westlichen Welt) wächst die Zahl der alleinlebenden Menschen kontinuierlich. So stieg der Anteil der Alleinlebenden in den Jahren 1996-2019 von 15,6 auf 20,8 Prozent an.6 In den großen und wachsenden Städten ist dieser Trend noch viel deutlicher. Mehr Menschen wohnen also immer einsamer in immer größeren Mengen nebeneinander; sie driften voneinander ab, während sie aufeinander hocken. Der Kontaktaufbau wird – wenn er überhaupt geschieht – digital stattfinden und ist dort mit einem großen Reflexionsapriori versehen.7 Gleichzeitig rücken Mensch und Tier in der Intimität aufeinander. Der Mensch räumt dem Tier einen Ort in der Wohnung ein. Man mag insistieren, dass Kultur flexibler ist als Beton und deswegen die bauliche Struktur des urbanen Umfeldes einen gewissen drag auf menschliche Umgangsformen ausübt. So ist der Neozoophile gezwungen, einen Hund in eine Neokohabitation zu drängen, die zwar einer äußerlich-materiellen Kausalität folgt (in Neukölln wäre schlichtweg kein Platz, den Hund gleich dem bismarckschen Tyras im Zwinger zu halten), aber in kulturellen Evokationen resultiert. Das gemeinsame Behausen oder Bewohnen (der Mensch haust, das Tier wohnt) der Stadtparzelle forciert die dem hylomatischen Charakter der neosexuellen Revolution entsprechenden Objektivierungsprozesse.

Statt das dem Tier der Raum des Draußen zugewiesen wird, was in der Metropole schlichtweg selten möglich ist, erobert sich der Hund Raum für Raum die Wohnung. Er beginnt, zu (be-)wohnen. Auf das Draußen folgte historisch gesehen der Zwinger und die Hundehütte. Beide dieser Orte sind ihrer Funktion nach dem Tier zugewiesen. Ein Hund gehört in den Zwinger, so wie ein Vogel in die Voliere gehört. Doch der moderne Hund entwickelt eine eigene Wohnkultur. Dort, wo der Mensch sein Essen zubereitet, isst auch der Hund, zwar (noch) nicht am Tisch, aber doch nicht selten zur gleichen Zeit. Neben der Couchecke steht der Hundekorb, durch die Terrassentür schießt im Frühjahr der junge Retriever und springt in den Swimming Pool zum Planschen.

In letzter Konsequenz dieses Prozesses entwickelt sich das Draußen, also der Raum, in dem der Mensch nicht geschützt, sondern exponiert, der Natur ausgesetzt ist, auch zum Draußen für den Hund; er verliert zusehends seine Natürlichkeit. Und so verlassen Hund und Mensch zusammen die gemeinsame Wohnung im Partner Look: angezogen.

Abb. 1: Kotbeutelchen mit dem gleichen Aufdruck waren im angezeigten Shop nicht verfügbar. https://www.instagram.com/p/Cel6eEooMNc/?igshid=YmMyMTA2M2Y=., 9. Juli 2022.

Sehr wahrscheinlich funktionieren der Aufstieg der Tiere in den Bereich des Subjekthaften auch deswegen so gut, weil sie dem Kapitalismus einen ganzen neuen Markt, eine ganze neue Konsumklientel erschließen. Der Hund wird zum Konsumenten, der Mensch zum Erfüllungsgehilfen des Konsums seiner treuen Gefährten. Der Schaufensterbummel durch die Stadt ist für den Menschen auch ein Gang durch die Stadt mit „Hundeblick“, in Antizipation dessen, was dem Intimpartner mitzubringen und zu schenken sein wird.

Abb. 2: Hundefashion auf Österreichisch (Foto: Janus)
Abb. 3: Neozoophilie unverhohlen, die Liebe (zum Konsum) ist endlos. (Foto: Janus)

Das Tier ist dankbar zu beschenken; noch ist seine Entstofflichung nicht so weit fortgeschritten, dass es aus Lifestylegründen heraus die Gabe verschmäht. Orthopädische Sitzkissen, altersschwächegerechtes Nassfutter, dem Modell des Herrchens baugleiche Hundestrandkörbe …

Im Allgemeinen zeigt sich hier, dass die hylomatische Umkehrbewegung die Machtverhältnisse bisher noch nicht kippen lässt. In der Privatheit der eigenen Wohnung ist der Hund seinem Protektor immer noch auch unterworfen. Der Wunsch nach dem Fall in die Objekthaftigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Erotischen auch ein Einander-Exponiert-Sein innewohnt. Die Überbrückung des existentiellen Abgrundes hin zum Anderen bringt auch – zumindest potentiell – das Transgressive mit sich. Schlussendlich sind sich Mensch und Tier wechselseitig ausgeliefert: „Die Bezeichnungen Tierhalter und Hundebesitzer sagen schon, worum es eigentlich geht: die Macht haben über ein anderes Wesen, alles kontrollieren können, ebenso zärtlich wie gewalttätig sein dürfen, ohne Strafe, Vergeltung und Verachtung wirklich befürchten zu müssen.“8

In der Privatheit der Wohnung kulminiert die Dialektik der Hylomatie, sie bietet eine Szenerie für die Komödie des tapsigen Welpen und die Tragödie des verstorbenen Hundesenioren mit seinem Urnenplatz im Fernsehschrank. Sie ist Zeugin der fortschreitenden Menschwerdung des Tieres und Rahmen für die Verstofflichung des Menschen. Einer der zentralen Katalysatoren der neozoophilen-neosexuellen Revolution umgibt uns alle.

Abb. 4: Obschon die Namen der Magazine Anderes vermuten lassen, sind die Leser*innen hier zumeist noch menschlich, im Zentrum steht dennoch das Tier, nicht sein*e Halter*in. © hundeliebling.at (2022). Fachzeitschriftreferenzen (Stand 7. Juli 2022, 12:20), Cheer Motion Limited, Hong Kong.

References

  1. Vgl. Beetz, Andrea (2002): Love, Violence and Sexuality in Relationships between Humans and Animals. Aachen: Shaker Verlag, S. 394f.
  2. Sigusch, Volkmar (2013): Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 392.
  3. ebenda S. 95
  4. ebenda S. 96
  5. Hierzu sei die Lektüre zur These der „Dispersion der Sexualfragmente“ von Sigusch empfohlen.
  6. https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61572/alleinlebende-nach-geschlecht-und-familienstand/
  7. Vgl. Illouz, Eva (2016): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. 6. Auflage. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. Insbesondere: S. 116-120
  8. Sigusch 2013, S. 394.

SUGGESTED CITATION: Janus, Laron: Vom Neolithikum zur neozoophilen Neoallianz. Zusammenwohnen von Mensch und Hund in der neosexuellen Revolution; in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/vom-neolithikum-zur-neozoophilen-neoallianz/], 21.12.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20221221-0830

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