Jan RheinLetzte Sätze

Textgrenzen und Übergangszonen

Textgrenzen und Übergangszonen Zu Michel Houellebecqs letzten Sätzen Erschienen in: Letzte Sätze Von: Jan Rhein

Achtung Spoiler: Die Bücher Michel Houellebecqs enden meist nicht gut. In seinem ersten Roman Extension du domaine de la lutte (1994) versinkt ein Informatiker in einer deprimierenden Abwärtsspirale; der Erzähler in Sérotonine (2019) hat sich in ein einfaches Zimmer zurückgezogen, die Wände vollgehängt mit Erinnerungen an sein Leben; der erfolgreiche, aber phlegmatische Künstler in La Carte et le Territoire (2010) lebt in einem zugewucherten Anwesen und arbeitet an einem hermetischen Kunstprojekt; in Plateforme (2001) hat der Funktionär Michel seine große Liebe bei einem Terroranschlag verloren und in La possibilité d’une île (2005) hat ein Atomkrieg die Welt verwüstet.

Houellebecqs letzte Sätze sind darum meist auch die Resümees zu Ende gehender Lebenswege und damit Teil des ‚Markenkerns‘ seiner Romane, die fast ein eigenes Genre bilden.1 Stets drehen diese sich um die Gefangenheit mittelalter Männer im eigenen Lebensgebäude, ergänzt um Bezüge zu aktuellen Themen und Debatten (Gentechnik, Migration, Bauernproteste, Sterbehilfe …). Aufgrund dieser Homogenität und ihrer gegenwartsdiagnostischen Dimension erinnert Houellebecqs Werk an die Romanzyklen des 19. Jahrhunderts.2 Mit Autoren wie Balzac oder Zola teilt er die Ambition, ein zusammenhängendes Großwerk zu schaffen: Als Ideal hat er einmal formuliert, das Leben lang an einem einzigen Buch zu schreiben,3 in dem jeder Werkbestandteil gewissermaßen evolutionär auf dem vorangegangenen aufgebaut4 – und zwar nicht nur seine Literatur, sondern auch weitere künstlerische Äußerungen wie Chansontexte, Fotografien oder auch öffentliche Verlautbarungen der Kunstfigur Michel Houellebecq.

Auch seine Literatursprache hat sich über die Jahre wenig verändert. Houellebecq, ein entschiedener Gegner von Sprachspielereien und Sprachkritik im Geiste von Nouveau Roman oder Poststrukturalismus,5 bevorzugt einen style plat,6 der vorgibt, die Wirklichkeit abzubilden, in einer einfachen, metaphernarmen, möglichst unprätentiösen Sprache. Die in dem Begriff des style plat anklingende räumliche Dimension suggeriert eine Erzählung als plane Fläche ohne größere ‚Erhebungen‘. Diesen Lektürezugang legen auch weitere Faktoren nahe: die Romantitel, die oft Raumkategorien aufgreifen (Kampfzonen, Inseln, Plattformen, Karten und Gebiete …); aber auch innerliterarische Perspektivierungen, die eine Art Aufsicht auf das erzählte Geschehen werfen.7 Oft gibt es auch eine extradiegetische Instanz, die aus einer Zukunftsebene auf die eigentliche Haupthandlung zurückschaut, sie mit analytischem Blick einordnet, rahmt und so zum exemplarischen ‚Anschauungsobjekt‘ macht. All dies hat Folgen für Houellebecqs letzte Sätze, die gerade durch die sprachliche und konzeptuelle Homogenität des Werks in den Fokus rücken.

Am Ende seines Debütromans Extension du domaine de la lutte (1994) steht ein banaler Satz:

„Il est deux heures de l’après-midi.“8

Der Hauptprotagonist, der Erzähler, ist nach einem Leben voller Niederlagen am Ende seiner Kräfte, flieht aus der Psychiatrie in einen Wald, wo er feststellen muss, dass die ersehnte Verbindung mit der Natur nicht eintreten wird und das Leben gescheitert ist (vgl. den vorletzten Satz, ebenso lakonisch: „Le but de la vie est manqué“9). Dass der Text mit besagter Zeitangabe abbricht, verleiht seinem Ende eine gewisse Wucht, indem er die Leserschaft fragend zurücklässt. Wenn der Erzähler sich noch für die Uhrzeit interessiert, will das ja immerhin etwas heißen. Nur was? Oder hatte der Autor einfach keine Lust weiterzuschreiben? Der Satz ist eine Absage an jedes Pathos, mit dem diese Flucht in den Wald aufgeladen werden könnte, und – als Ende des Debütromans – ein Kunstgriff Houellebecqs, seine (Anti-)Poetik zu etablieren.

Auch am Ende von La Possibilité d’une île steht der Versuch einer „fusion sublime“10 von Subjekt und Welt – mit einem auf den ersten Blick hoffnungsvolleren Resümee:

„La vie était réelle.“11

Doch dieser Satz stammt von einem Klon namens Daniel25, der in ferner Zukunft in einer Art Urzustand aufgeht, inmitten des inzwischen ausgetrockneten Mittelmeers von Salz und Sonne lebend. Die Imperfektform suggeriert zudem, dass dieser Zustand womöglich von kurzer Dauer gewesen sein wird – denn Daniel25 weiß, dass auch sein Ende naht.
Andere Bücher, so Plateforme, formulieren die Ausweglosigkeit noch klarer, wo sie – in Futurform – zu einer Gewissheit wird:

„On m’oubliera vite.“12

Die Hauptfigur Michel hat sich nach Thailand zurückgezogen, und stellt, auf den Tod wartend, Reflexionen über ihr langsames Verschwinden aus der Welt an. Die Frage nach dem eigenen Über- und Weiterleben ist ein Thema, das Houellebecq seit seinem frühen Essay Rester Vivant (1997) beschäftigt,13 und dass Verschwinden und Vergessen früher oder später eintreten werden, ist auch seine eigene Sorge: „On ne m’oubliera pas forcément très vite, mais on m’oubliera quand même.“14 So markiert der letzte Satz in Plateforme nicht nur die Grenze des Buchs, sondern öffnet als Übergangszone zwischen Fiktion und Autorenaussage den Text zu einer außerliterarischen Sphäre.

Noch sichtbarer und effektiver rückt diese Textschwelle auch der Schluss von Les particules élémentaires ins Licht:

„Ce livre est dédié à l’homme.“15

Es handelt sich um den letzten Satz eines Epilogs durch einen in der Zukunft angesiedelten Erzähler, der außerhalb der Binnenerzählung steht. Doch welches Buch ist dem Menschen gewidmet: Die Erzählung im Roman? Oder das Buch, das wir in den Händen halten?

Ein ähnliches Rahmungsverfahren nutzt auch der Künstlerroman La carte et le territoire. Dieser schließt mit der interpretatorischen Einordnung eines Kunstprojekts der Hauptfigur Jed Martin, welches „une méditation nostalgique sur la fin de l’âge industriel en Europe, et plus généralement sur le caractère périssable et transitoire de toute industrie humaine“ bilde:

Ce sentiment de désolation, aussi, qui s’empare de nous à mesure que les représentations des êtres humains qui avaient accompagné Jed Martin au cours de sa vie terrestre se délitent sous l’effet des intempéries, puis se décomposent et partent en lambeaux, semblant dans les dernières vidéos se faire le symbole de l’anéantissement généralisé de l’espèce humaine. Elles s’enfoncent, semblent un instant se débattre avant d’être étouffées par les couches superposées de plantes. Puis tout se calme, il n’y a plus que des herbes agitées par le vent. Le triomphe de la végétation est total.16

Deutlich wird hier ein im Werk Houellebecqs oft anklingender „discours totalisant“,17 erzeugt durch den gelehrt klingenden Erzähler, der wissenschaftliche Autorität suggeriert und nicht nur vom Ende Jed Martins berichtet, sondern auch vom Niedergang der Menschheit insgesamt,18 welche mit dem letzten Satz völlig – „total“ – von der Natur überwuchert wird. Wohlgemerkt nur in der Kunst Jed Martins, was aber die wirkungsvollen letzten Sätze fast vergessen lassen. Auch durch ihre Kunstfertigkeit unterscheiden sich diese vom sachlichen Ton des vorangegangenen Absatzes – immerhin endet das Buch mit zwei Alexandrinern.19 Während von den letzten Jahren des Künstlers Jed Martin im Imperfekt und passé simple erzählt wird, wechselt der Erzähler am Ende zudem in die Präsenzform – verlässt also den Berichtsmodus und kommt zu einem allgemeinen (oder: allgemeingültigen?) Schluss.

Auffällig moduliert wird auch der letzte Satz des Roman Soumission, der von einer muslimischen Regierungsübernahme in einem Frankreich in naher Zukunft erzählt; die Hauptfigur, François, ein Universitätsangestellter, fügt sich umstandslos in das umgekrempelte Bildungssystem und schließt:

„Je n’aurais rien à regretter.“20

Das Versprechen auf eine glückliche Zukunft wird im Konjunktiv formuliert und ist keinesfalls gesichert – durchaus möglich, dass François alles zu bereuen haben wird.21 Die hier erzeugte Ambivalenz ist gerade deshalb hervorzuheben, weil der – in Frankreich genau am Tag der Charlie Hebdo-Attentate erschienene – Roman so kontrovers diskutiert wurde.

Auch Sérotonine endet mit einem Moment des Zweifels. Der schwer depressive Florent muss an Christus am Kreuz denken: „Est-ce qu’il faut vraiment […] que je donne ma vie pour ces minables ?“ und bejaht diese Frage mit dem letzten Satz:

„Il semblerait que oui.“22

Für Florent stellt sich in seinen dunkelsten Stunden etwas Trost ein: Neben der dépression steht die, wenngleich ins Konditionell versetzte consolation23 – mithin eine wenigstens interpretatorisch mögliche Relativierung des übrigen Romans.

Houellebecqs letzte Sätze sind also mehr als nur apodiktische Sentenzen. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich nicht nur als Resümees, sondern auch als Korrektive des Texts, indem sie dessen vermeintliche Realitätsabbildung und klar formulierte Gegenwartskritik nuancieren oder gar aufbrechen. Gerade durch ihre inhaltliche Ambivalenz schließen sie den Text nicht nur ab, sondern öffnen ihn zum Lesenden. Als deutlich herausgestellte Bruchkanten markieren sie die Grenzen des Texts. Dadurch sind sie – ähnlich wie Widmungen, Titel und andere Paratexte – Textschwellen zwischen Innen und Außen der Fiktion, die, mit Genette, auch den Text selbst präsent machen.24 Doch die literarische Welt Houellebecqs endet mit den Buchdeckeln, sondern setzt sich in einem „livre unique“ fort, das auch weitere künstlerische Ausdrucksformen umfasst. Insofern sind letzte Sätze hier Übergangszonen zum weiteren Werk, teils auch zu Äußerungen der Kunstfigur Michel Houellebecq selbst.

Diese Funktion letzter Sätze beschränkt sich nicht auf die Romane: 2016 betätigte sich der Autor auch als Ausstellungsmacher. Seine Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo trug den Titel Rester Vivant – dass dies erneut den Titel seines frühen Essaybands aufgriff, ist ein weiterer Hinweis auf Houellebecqs Arbeit an einem „livre unique“. Die Ausstellung endete mit einem dunklen Gang mit Schwarz-Weiß-Fotografien des Künstlers. Manche waren zusätzlich mit einem Gedichtvers versehen, deren letzter lautete:

„Nous habitons l’absence“

Abb. 1: „Nous habitons l’absence“, Michel Houellebecq im Palais de Tokyo, Ausstellung „Rester Vivant“ (23.6.2016–11.9.2016) © Michel Houellebecq, https://admin.palaisdetokyo.com/wp-content/uploads/2021/11/2016-07-11_12h07_07.jpg

Wie in Houellebecqs Romanen schließt der letzte Satz der Ausstellung die Museumserzählung ab, wobei er seine Leserschaft – ohne Punkt am Satzende – ins Offene entlässt. Die Abwesenheit bewohnen: Das passt zu den Romanen. Es richtet sich aber auch an die Museumsgänger, die kurz darauf wieder in die Straßen von Paris treten werden.

References

  1. Vgl. ausführlicher zur Einordnung von Houellebecqs Werk auch Rhein, Jan (2025): Literatur im Museum und literarische Musealität. Theorien und Anwendungsbeispiele (Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq), Tübingen: Narr Francke Attempo, S. 369–376.
  2. Vgl. etwa Schober, Rita (2003): Renouveau du réalisme?, in: Dies.: Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer, Berlin: Walter Frey, S. 195–207; van Wesemael, Sabine (2014): Michel Houellebecq. Un auteur postréaliste, in: Dies. u. a. (Hrsg.): L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq, Paris: Classiques Garnier, S. 325–336.
  3. Vgl. Houellebecq, Michel (2009): Avant-Propos, in: Ders.: Interventions 2. Traces, Paris: Flammarion, S. 7f., hier S. 8: „tout devrait se transformer en un livre unique, que l’on écrirait jusqu’aux approches de la mort“.
  4. Houellebecq, Michel (2017): Confessions d’un enfant du siècle. Entretien avec Agathe Novak-Lechevalier [2011], in: Agathe Novak-Lechevalier (Hrsg.): Michel Houellebecq, Paris: Éditions de l’Herne, S. 334–342, hier S. 338: „[J]e trouvais que Plateforme était insuffisant sur le thème du tourisme, donc je suis revenu au thème du tourisme dans La Carte en basculant l’axe.“
  5. Vgl. etwa Houellebecq, Michel (2009): Coupes de Sol [2008], in: Ders.: Interventions 2. Traces, Paris: Flammarion, S. 277–282.
  6. Vgl. u.a. Maris, Bernard (2016 [2014]): Houellebecq économiste, Paris: Flammarion Champs, S. 49; schon im Debütroman heißt es: „[I]l faudrait inventer une articulation plus plate, plus concise et plus morne“, Houellebecq, Michel (2018 [1994]): Extension du domaine de la lutte, Paris: J’ai lu, S. 42.
  7. Vgl. Rhein 2025, S. 423–427.
  8. Houellebecq 2018 [1994], S. 156.
  9. Ebd.
  10. Ebd.
  11. Houellebecq, Michel (2008 [2005]): La possibilité d’une île, Paris: Fayard, S. 474.
  12. Houellebecq, Michel (2002 [2001]): Plateforme, Paris: J’ai lu, S. 351.
  13. Vgl. Houellebecq, Michel (1997): Rester vivant suivi de La poursuite de bonheur, Paris: Flammarion.
  14. Vgl. Houellebecq, Michel (2009): Entretien avec Christian Authier [2002], in: Ders.: Interventions 2. Traces, Paris: Flammarion, S. 191–205, hier S. 202.
  15. Houellebecq, Michel (2000 [1998]): Les particules élémentaires, Paris: J’ai lu, S. 317.
  16. Houellebecq, Michel (2012 [2010]): La Carte et le Territoire, Paris: J’ai lu, S. 413f.
  17. Houellebecq, Michel und Jean de Loisy (2016): Entretien, in: Michel Houellebecq: Rester Vivant. To stay alive, Paris: Palais de Tokyo/Flammarion, S. 12–15, hier S. 12.
  18. Vgl. Novak Lechevalier, Agathe (2016): Porté disparu: Michel Houellebecq et l’art de l’évanouissement, in: Raphaël Baroni und Samuel Estier (Hrsg.): Les ‚voix‘ de Michel Houellebecq, http://www.fabula.org/colloques/document4307.php (letzter Zugriff: 10.01.2025), https://doi.org/10.58282/colloques.4307 .
  19. Vgl. ebd.
  20. Houellebecq, Michel (2015): Soumission, Paris: Flammarion, S. 300.
  21. Vgl. Novak Lechevalier 2016.
  22. Houellebecq, Michel (2019): Sérotonine, Paris: Flammarion, S. 347.
  23. Vgl. zu diesem letzten Satz auch Lane, Jeremy F. (2020): Rouge-Brun or Counter-Revolutionary? Another Look at Michel Houellebecq’s Politics, in: The Modern Language Review, Heft 115, Nr. 1, S. 63–82, hier S. 81. Vgl. zu Verzweiflung und Trost bei Houellebecq auch Rhein 2025, S. 408–411, https://doi.org/10.1353/mlr.2020.0036.
  24. Vgl. Genette, Gérard (1987): Seuils, Paris: Édition du Seuil, S. 7. Paratexte, so Genette, „entourent et prolongent“ den Hauptext, „pour le présenter, au sens habituel de ce verbe, mais aussi en son sens plus fort : pour le rendre présent“.

SUGGESTED CITATION: Rhein, Jan: Textgrenzen und Übergangszonen. Zu Michel Houellebecqs letzten Sätzen, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/textgrenzen-und-uebergangszonen/], 10.03.2025

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20250310-0830

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