Tobias Kreutzer

True Detective: Night Country

True Detective: Night Country Wissenschaft und ihre Alternativen am Ende der langen Polarnacht Von: Tobias Kreutzer

Spoiler-Warnung: Der folgende Text enthält Plot-Details der HBO-Serie True Detective: Night Country

Im menschenfeindlichen Eis von True Detective: Night Country wird der übernatürliche Existenzialismus der zu ihrer Zeit umgehend kanonisierten ersten Staffel des HBO-Serienhits um feministische und postkoloniale Perspektiven erweitert. Bemerkenswert prominent dekonstruiert die mexikanische Regisseurin Issa López dabei auch die hehren Aufklärungsideale westlicher Wissenschaft. Dazu verlagert sie die Show in den hohen Norden Alaskas und besetzt die Detectives erstmals mit zwei Frauen. Diese ermitteln im Falle des Verschwindens einer Gruppe internationaler Wissenschaftler (tatsächlich nur Männer), die ohne Vorwarnung aus ihrer Forschungsstation nahe der fiktiven Kleinstadt Ennis verschwinden und wenig später erfroren im Eis aufgefunden werden. Ein grausames Detail in der verwaisten Station verbindet den Fall schon bald mit dem unaufgeklärten Mord an einer indigenen Aktivistin, die gegen die umwelt- und gesundheitsschädlichen Aktivitäten eines Bergbau-Unternehmens in Ennis protestierte. Große Teile des Geschehens spielen sich dabei in der Schwärze der langen Polarnacht kurz vor dem Jahreswechsel ab. Die Geister ungelöster Kriminalfälle, persönlicher Tragödien und indigener Traditionen, die fast alle Bewohner:innen von Ennis heimsuchen, beginnen in diesem unwirklichen Setting sehr real zu wirken.

Abb. 1: Nordlichter © Bryan Goff / Unsplash

Hard-boiled intersectionality

 

Well, shake it up, baby, now
Twist and shout
Come on, come on, come, come on, baby, now
Come on and work it on out
Well, work it on out, honey
You know you look so good
You know you got me goin‘ now
Just like I knew you would

The Beatles – “Twist and Shout”

Die Gewalt, mit der Chief Danvers (Jodie Foster) in einer der ersten Einstellungen von True Detective: Night Country die Verkabelung aus der Musikanlage reißt und damit Stille über die neonflimmernde Forschungsstation im Nirgendwo Alaskas bringt, hat sich aufgestaut. Nach drei Staffeln voller toxischer Männlichkeit und ein bisschen Nietzsche bringt ausgerechnet die nach heutigen Maßstäben zutiefst bürgerliche Pilzköpfigkeit der Beatles das Fass zum Überlaufen. In einer Welt, in der „sich Winden und Schreien“ den femizidalen Todeskampf der Frau mindestens ebenso treffend beschreibt wie den ekstatischen Tanz, gibt es keine safe spaces. Die Entscheidung von Showrunnerin Issa López, dem vierten Teil des Serien-Franchises von Cast bis Score eine weiblich dominierte Perspektive zu ermöglichen, war sicherlich überfällig. Wie Inkoo Kang in ihrer Rezension für den New Yorker betont, ist die Serie, obschon kein bisschen weniger explizit in ihren Darstellungen, selbst in ihrem Umgang mit Gewalt feministisch: „There’s a refusal to separate or elevate sensational brutality from the everyday sort in this latest installment of the HBO anthology drama.“1 Die Gewalttat lädt eben nicht in bester True Crime-Manier zum behaglichen Frösteln hinter dem Panzerglas der Fiktion ein. Sie ist, vor allem für eine Hälfte der Weltbevölkerung, nur allzu real und alltäglich.

Diese neuartige Geschlechterperspektive ist jedoch nur die vielleicht offensichtlichste Ausprägung des ambivalenten Verhältnisses zwischen Abhängigkeit und Emanzipation, in dem sich True Detective: Night Country gegenüber der allerersten Blaupausen-Staffel positioniert. Ganz im Geist der Intersektionalität lässt sich dieses Thema kaum von den postkolonialen Perspektiven trennen, die True Detective: Night Country durchziehen, wie die tückischen Eishöhlen die Gegend rund um das fiktionale Ennis, AK. Nicht nur kriegt Jodie Foster mit der ehemaligen Profi-Boxerin Kali Reis eine First Nation-Partnerin an die Seite gestellt – vielmehr erscheint ganz Ennis wie ein ethnisches Patchwork-Projekt, dessen ökonomische Abhängigkeit von der örtlichen Bergbau-Gesellschaft zur ständigen Zerreißprobe für den social fabric der Region wird.

In Verbindung mit der zentralen Rolle der Wissenschaft in der Serie, spiegeln beide Perspektiven, die feministische und die postkoloniale, einen andauernden Diskurs der Wissenschaftsforschung wider, und machen diesen zum bemerkenswert ausführlich behandelten Gegenstand der Wissenschaftskommunikation im populären Medium TV-Serie.

Ambiguität als Wissenschaftskritik?

Das Spiel mit dem Übernatürlichen, das von Beginn an ein zentrales Merkmal von True Detective war, gerät in dieser Gemengelage zu etwas Grundsätzlichem und wirft essenzielle Fragen danach auf, welchen Wissenskulturen und Institutionen wir in welchen Zusammenhängen noch glauben können. Die durch das „alte“, naturverbundene Wissen und Empfinden der Indigenen fundierte Multiperspektivität gewinnt an Plausibilität. In der langen Polarnacht Alaskas sehen alle Gespenster und „nobody ever really leaves“, auch nicht im Tod, wie es im Verlauf der Serie immer wieder Mantra-ähnlich heißt. In einem Vorab-Interview erklärt Showrunnerin und Regisseurin López:

There’s a real explanation for every single event in the series that does not require the presence of the supernatural. But there’s a read where every event is related to what I call a wider world, and it’s up to you, like an inkblot test, to decide which series you’re watching. Or maybe it’s mostly of one with touches of the other, but it’s your decision.2

Die Serie erhält diese Ambiguität bis zum Ende aufrecht. Es gibt keinen Jupiter-Jones-Moment, in dem alles Geschehene zweifelsfrei durch wissenschaftliche Logik aufgeklärt wird. Parallel dazu werden durch die sukzessive aufgedeckten Verflechtungen der Interessen der Forschenden mit denen des ansässigen Bergbau-Unternehmens systematisch Zweifel an der Glaubwürdigkeit westlicher Wissenschaft und ihrer Vertreter gesät. Nur vordergründig geht es darum, ob die Wissenschaftler Opfer eines rächenden Lynchmobs oder eines Inuit-Geists wurden. Dahinter steht die Frage, ob westliche, hyper-kapitalistische und nicht zuletzt patriarchale Systeme in ihrem Monopol auf die moderne Wissensproduktion unhinterfragt bleiben sollten.

Epistemologie am Ende der Welt

Am Ende von True Detective: Night Country ist klar, dass die Wissenschaftler die Minenmanager mit gefälschten Grundwassermesswerten gedeckt haben – und dass sie damit mindestens indirekt für zahlreiche Totgeburten in der Region verantwortlich sind. Zudem haben sie einen gemeinschaftlichen Mord an einer indigenen Aktivistin zu verantworten. Das Motiv? Bessere Forschungsbedingungen für einen potentiellen wissenschaftlichen Durchbruch, extrahiert aus dem tauenden Permafrost. Das Vertrauen in die Wissenschaft, als gesellschaftliche Institution das beste verfügbare Wissen über die Welt, in der wir leben, zu liefern, ist vollständig zerstört. „Alternative“ Erklärungen und Wissensformen für Kriminalfälle und andere, ganz existenzielle Fragen erscheinen plötzlich, zumal in einer so unwirklichen Umgebung zwischen Schneeblindheit und langer Polarnacht, plausibel.

In vielen Staaten der USA und Kanadas ist es vor allem im Kontext staatlicher Institutionen mittlerweile gängig, dem eigenen Wirken (zum Beispiel im Spiegel des Web-Auftritts) ein Land Acknowledgement voranzustellen, das Demut und Lernwilligkeit im Umgang mit dem indigenen Erbe des Kontinents und seinen Vertreter:innen verspricht. An Universitäten berührt diese Selbstverpflichtung bisweilen auch den Kern des wissenschaftlichen Ethos. So heißt es bei der University of Alaska: „We acknowledge that we arrived here by listening to the peoples/elders/lessons from the past and these stories carry us as we weave a healthier world for future generations.“3 Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen zudem, dass die hier angestrebte Dekolonialisierung keineswegs Lippenbekenntnis bleibt und in der Tat verstärkt Einzug in Curricula erhält.4 Wissenschaftsforschung und Wissenschaftstheorie blicken auf eine lange Tradition vergleichbarer Öffnungs- und Kontextualisierungsbestrebungen der wissenschaftlichen Arbeit zurück. Von Ludwig Flecks durch Thomas Kuhn wiederentdeckter Abhandlung zur „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“5 über Bruno Latours Laborstudien6 bis hin zur Edinburgh School um Bloor, Barnes, Collins und andere mit ihrem „strong programme7 – zumindest in der Fachdebatte kann sich wissenschaftliches Wissen seines einstmaligen Status‘ als privilegiertes Wissen längst nicht mehr sicher sein. Lange gepflegte hegemoniale Objektivitätsansprüche und unhinterfragte soziale Prämissen und Entstehungskontexte werden im Zuge der Öffnung der „Blackbox Wissenschaft“ in Frage gestellt.

In der feministischen8 sowie in der postkolonialen9 Wissenschaftstheorie finden die erwähnten Hauptmotive von True Detective: Night Country ihre konkrete Entsprechung in der Wissenschaftsforschung. Gleichsam öffnen sie einer Multiperspektivität das Feld, die männliche und westliche Perspektiven nicht mehr als alleinige Fixpunkte akzeptiert.

Reflexion oder Paranoia? Das Wissenschaftsbild in True Detective: Night Country

Es ist die Verbindung von feministischen und postkolonialen Untertönen in einem maximal verunsicherten Setting mit einer bemerkenswert prominenten Inszenierung von Wissenschaft als männlich, moralisch fehlgeleitet und unglaubwürdig, die True Detective: Night Country zu spannendem Anschauungsmaterial für die Wissenschaftskommunikation in populären Medien macht. Am Rande der westlichen Zivilisation lösen sich sicher geglaubte Gewissheiten auf und die Geisterwelt unter und über dem Eis erscheint immer glaubwürdiger. Auch abzüglich des selbstverständlich intendierten reinen Entertainment-Faktors des Übernatürlichen drängt die Serie sich als Kommentar zur „Krise der Faktizität“10 auf. Die Sehnsucht nach einer „Rückkehr zur Natur“ und ihren essenziellen Wahrheiten angesichts postmoderner Überforderung tritt ebenso als Motiv in Erscheinung wie das allgemeine Misstrauen in einer KI-generierten digitalen Sphäre der öffentlichen Kommunikation. Dabei geht True Detective: Night Country über die vielfach bemängelte populäre Reproduktion von wissenschaftlichen Stereotypen wie dem „unmenschlichen Rationalisten“11 hinaus, indem zusätzlich alternative Formen der Erkenntnis angeboten, und, bewusst oder unbewusst, wissenschaftsphilosophische und -soziologische Fragestellungen bearbeitet werden.

References

  1. Kang, Inkoo (2024): “True Detective: Night Country” finds the heart of darkness, in: The New Yorker [https://www.newyorker.com/magazine/2024/01/22/true-detective-tv-review-hbo-max], 13/01/2024 (letzter Zugriff: 23.02.2024).
  2. Navarro, Meagan (2024): “True Detective: Night Country” Showrunner Issa López on Ghosts and Season One Connections [Interview], in: Bloody Disgusting [https://bloody-disgusting.com/interviews/3795130/issa-lopez-true-detective-night-country/], 10/01/2024 (letzter Zugriff: 23.02.2024).
  3. University of Alaska (2024): Land Acknowledgements [https://www.alaska.edu/redis/ansi/land_acknowledgements.php] (letzter Zugriff: 28.02.2024).
  4. Aikenhead, Glen S. u. Dean Elliott (2010): An Emerging Decolonizing Science Education in Canada, in: Canadian Journal of Science, Mathematics and Technology Education, Nr. 10, S. 321–338, https://doi.org/10.1080/14926156.2010.524967.
  5. Fleck, Ludwig (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Berlin: Suhrkamp.
  6. Latour, Bruno u. Steve Woolgar (1979): Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills: Sage Publications.
  7. vgl. Bloor, David (1976): Knowledge and Social Imagery, Chicago: University of Chicago Press.
  8. vgl. Harding, Sandra (1986): The Science Question in Feminism, Ithaca/London: Cornell University Press.
  9. vgl. Harding, Sandra (Hrsg., 2011): The Postcolonial Science and Technology Studies Reader, Durham/London: Duke University Press, https://doi.org/10.1515/9780822393849.
  10. vgl. Rhine Ruhr Center for Science Communication Research [https://rhine-ruhr-research.de/] (letzter Zugriff: 23.02.2024).
  11. Allgaier, Joachim (2017): Wissenschaft und Populärkultur, in: Heinz Bonfadelli et al. (Hrsg.): Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation, Wiesbaden: Springer VS, S. 239–250, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12898-2.

SUGGESTED CITATION: Kreutzer, Tobias: True Detective: Night Country. Wissenschaft und ihre Alternativen am Ende der langen Polarnacht, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/true-detective-night-country/], 08.04.2024

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20240408-0830

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