Verbindungslinien
[Dieser Beitrag erscheint in der Reihe „City Scripts trifft Pixelprojekt_Ruhrgebiet“, einer Kooperation des KWI-Blogs, dem Leiter des „Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ Peter Liedtke (DGPh) und Autor*innen des Forschungskollegs City Scripts, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit Bildserien des Pixelprojekt_Ruhrgebiet auseinandersetzen.]
Zwischen Stillstand und Veränderung
Als Amerikanistin, die an der Schnittstelle zwischen Kulturwissenschaften und Raumplanung forscht, werde ich häufig gefragt, wie es denn ist, das Ruhrgebiet; was diese Region definiert und ausmacht. Hintergrund dieser Frage sind wohl häufig die Bilder, die gerade außerhalb der Region auch 2022 noch vor dem kollektiven inneren Auge erscheinen: die Stereotypen des Produktionszeitalters – Bilder rauchender Schlote, Fördertürme, die Stadt der tausend Feuer. Ein detaillierter Blick auf das Ruhrgebiet von heute zeigt jedoch keine Region, die in der Vergangenheit steckengeblieben ist und in der immer noch Kohle und Stahl dominieren. Stattdessen findet man deutliche Spuren eines gigantischen Veränderungsprozesses, der sich schon über weit mehr als einhundert Jahre erstreckt: Gemeinsam ist allen Orten des Ruhrgebiets, im Kleinen wie im Großen, die Erfahrung der stetigen Metamorphose – einer Art andauernder Verwandlung, die so umfassend ist, dass das Ausgangsprodukt nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen ist.
Das Ruhrgebiet von heute ist eine Akkumulation vieler Akkumulationen: Städte, Stadtzentren, Felder, Kleingärten – Geschichten, Sprachen, Stimmen und die vielen verschiedenen Menschen, denen sie gehören. Die historischen, industriellen, sozialen und kulturellen Schichten dieser Region – so werden sie von Christa Reicher und den weiteren Autor*innen in der gleichnamigen Veröffentlichung1 aus dem Jahr 2011 bezeichnet – sind das Ruhrgebiet in seiner Essenz. Sie sind miteinander verwachsen und verwoben; sie prägen die Siedlungsformen, denen man begegnet und die Art, wie man sich an welchem Ort fortbewegen kann ebenso wie das Ökosystem, das sich in der Region herausgebildet hat; sie prägen auch die Menschen und ihre Gewohnheiten, die ruppige Offenheit, die so häufig mit der Region assoziiert wird. Und doch: Ganz spezifische Verbindungslinien sind in dieser Vielfalt oft nur schwer zu erkennen. Denn was genau, also ganz konkret, eint denn jetzt Oer-Erkenschwick – am nördlichen Rand des Ruhrgebiets – und Hagen, ganz im Südosten gelegen?
Spätestens seit den 80er Jahren stellt sich das Ruhrgebiet – seine Bürger*innen, aber auch die Stadtverwaltungen – regelmäßig genau diese Frage nach den Verbindungssträngen, die die vielen Bedeutungsebenen zusammenhalten und in die Zukunft führen können, so im Kontext der IBA Emscherpark, die das „Arbeiten im Park“ zum Thema machten und während der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010, die die „Kultur durch Wandel“ beschwor. Jeden Sommer macht die „Nacht der Industriekultur“ eindrücklich sichtbar, welche Zeichen die Schwerindustrie in der Region hinterlassen hat und schafft durch ihre Buslinien wenigstens für 24 Stunden Verbindungen zwischen Orten, die sonst nicht immer als Teil eines „großen Ganzen“ wahrgenommen werden.
Landschaft voller Linien
Die Frage nach den Linien, die in der Region zwischen verschiedenen Orten, Städten, aber auch zwischen zeitlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsphasen gezogen werden können, lässt sich jedoch auch ganz anders beantworten als anhand der Diskussion um die kulturelle Identität und die Rolle von Industriearbeit bzw. deren langfristiger Abwesenheit. Es ist ebenso möglich, sich ausgehend von der Infrastruktur der Region der Frage nach Verbindungen zwischen den einzelnen Orten anzunähern und hier sich nicht nur auf das Offensichtliche – wie die A40, die sich wie eine gigantische Schlange durch das Ruhrgebiet zieht – zu verlassen.
Von oben betrachtet ist das Ruhrgebiet nämlich nicht nur eine Akkumulation von 53 kleineren und größeren Städten, sondern eine Landschaft voller feiner Verbindungslinien. Diese subtilen Linien sind Spuren der Industrie in der Gegenwart. Sie durchziehen und verknüpfen die ganze Region mit allen ihren Schichten. Wie ein gewaltiges Netz aus Furchen im Boden liegen die Spuren der Bahngleise des Industriezeitalters über den Städten und Landschaften der Region. Um das komplexe Geflecht in seiner Größe und seiner Vielfalt wahrzunehmen, bräuchte es wohl einen Helikopter. Aber auch Fotografien, die sich vorsichtig an diese Linien in der Landschaft annähern, zeigen, welches wichtige Potential sie für die regionale Identität haben können – selbst wenn es ironischerweise im Zeitalter der Schwerindustrie wohl sehr häufig eben diese Bahngleise waren, die gewachsene Nachbarschaften durchtrennten und große Flächen der Region für die Bevölkerung unzugänglich machten.
Waren diese Verbindungslinien einst Teile essenzieller Transportstrecken, sind sie heute Muster einer vergangenen Zeit, die sich in die Landschaft eingeschrieben haben. Sie erzählen ihre eigene Geschichte: Es ist eine Geschichte von Produktionsprozessen und von der Einbindung des Ruhrgebiets in die Exportwirtschaft Nordrhein-Westfalens, Deutschlands und darüber hinaus. In der Gegenwart sind sie relevanter Teil von Umnutzung und geben Zeugnis von der andauernden Metamorphose der Region: Vom Industriegelände zum Radweg, vom Transportweg zurück zur (Industrie-)Natur.

Sie stehen auch nicht allein. Denn dazu kommt die weitere Infrastruktur, die mit diesen Bahngleisen zusammenhängt: die inzwischen sicher zum großen Teil ungenutzten Rangierbahnhöfe oder Haltehäuschen, an denen seit vielen Jahren niemand mehr auf einen Güter- oder gar Personenzug gewartet hat. Fast gespenstisch wirken diese Industrielandschaften der gar nicht so fernen Vergangenheit auf den Bildern von Christel Sellmons (geb. 1955 in Bottrop) und Wolfgang Fröhling (geb. 1952 in Bottrop), deren gemeinsame Serie Entgleist nicht nur die Hinterlassenschaften des Industriezeitalters, sondern auch dramatische Wetterkonstellationen zeigt. Nachgezeichnet wird hier nicht etwa ein Zugunfall, sondern vielmehr der Prozess der Entfernung der ungenutzten Bahngleise des ehemaligen Rangierbahnhofs Duisburg-Wedau sowie eine Landschaft, in der Signalposten aber keine Gleise, Stellwerke aber keine Züge zu sehen sind. Im Angesicht gigantischer Wolkenberge oder im aufziehenden Nebel wartet man hier auf die Geister der Vergangenheit, oder auch auf eine Szene aus Stranger Things. Dass diese einzigartige Location nun einem Luxuswohnprojekt weichen muss, ist in diesem Sinne ein Zeichen der Zeit – ob sich im neuen Kontext noch ein Verweis auf die bewegte Vergangenheit des Bodens, auf den dieses Projekt sprichwörtlich gebaut wird, findet, bleibt von daher abzuwarten.

Und doch: An vielen weiteren Orten halten die Reste dieser Infrastrukturen – auch wenn sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion genutzt werden – die Region zusammen, waren und sind Teil ihres Ökosystems und leisten heute teils einen Beitrag zum sozialen System des Ruhrgebiets: als Naherholungsgebiete, als Freiflächen, als Ruhezonen. Gleichermaßen legen diese teils noch klar vorhandenen und teils auch verblassenden Linien in der Landschaft Zeugnis davon ab, dass das oft angeführte „ewige Industriezeitalter“ im Prinzip nur eine kurze Phase überdauerte und im langen Prozess der Metamorphose der Region nur eine Momentaufnahme ist. Die Birkenwäldchen, die zwischen den ehemaligen Produktionsstandorten und neben den ungenutzten Gleisen der Transportwege der Schwerindustrie gedeihen, wie auf den Bildern Joachim Schumachers (geb. 1950 in Saarbrücken) zu sehen, sind die pflanzlichen Pioniere der Natur, die zeigen, dass nach der Industrie eben nicht alles vorbei ist. Sie sind auch ein Zeichen der langsamen und friedlichen Rückeroberung durch die Natur an den Orten, an denen die Industrie und der Mensch die Landschaft sich wieder selbst überlassen haben. Hier entsteht ein ganz spezifisches Ökosystem – eines, welches zur Erholung der Region beiträgt und langsam, aber sicher beginnt, die Linien, die die Industrie in der Landschaft gezogen hat, zu überwuchern und zu verstecken; keineswegs aber verschwinden zu lassen.

Besonders eindrücklich ist der Veränderungsprozess der Erzbahntrasse, wie die Bilder von Stefanie Eulig (geb. 1987 in Gelsenkirchen) zeigen. Diese wurde einst gebaut, um die Hochöfen des Bochumer Vereins mit Eisenerz zu versorgen. Sie wurde fast genau 100 Jahre nach ihrem Baubeginn der neuen Nutzung als Rad- und Gehweg zugeführt. Die Erzbahntrasse ist ein Beispiel dafür, wie Industrielandschaft im postindustriellen Zeitalter im wahrsten Sinne des Wortes genutzt werden kann. Sie macht das Ruhrgebiet sprichwörtlich erfahrbar. Über die Trasse können bedeutende Industriedenkmäler leicht erreicht werden. Dazu gehören nicht nur die Jahrhunderthalle und die ehemalige Zeche Hannover, sondern auch Teile der eigenen Infrastruktur, wie die sogenannte Rote Brücke von 1928, die seit ihrer Sanierung Teil des Radwegs ist und mit ihrer weit sichtbaren Farbe selbst in einer verschneiten Landschaft gut erkennbar ist.
Die Strecke weist auf ihren 9 Kilometern auf viele der räumlichen Besonderheiten der Region hin: die industrienahe Natur, die Verbindung von Leben und Produktion, der Zusammenhang zwischen Industrie und Kunst – Elemente, die sich allesamt auch in der Fotografie Euligs finden. Die Erzbahntrasse ist nicht nur eine Verbindungslinie zwischen Bochum und Gelsenkirchen, sondern auch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; zwischen den Errungenschaften der Schwerindustrie und der heutigen Bevölkerung und damit ist sie prägend für die Identität. Sie ist nicht einfach nur „Infrastruktur“, sondern längst zum Bedeutungsträger geworden.
Verbindung in die Welt
Ausgehend von Fragen nach der Struktur des Ruhrgebiets und den vielen Schichten seiner Identität frage ich mich regelmäßig, welche Rolle die Region und ihre Metamorphose eigentlich für den transatlantischen Austausch spielt und spielen kann. Die offensichtlichste Verbindung führt hier in die Region der Vereinigten Staaten, die ebenso von der Schwerindustrie geformt wurde und sich derzeit ebenso auf der Suche nach ihrer Identität im postindustriellen Zeitalter befindet: der sogenannte „Rostgürtel“, der sich von den Großen Seen bis in den Nordosten der USA erstreckt und Städte wie Detroit, Cleveland und Pittsburgh umfasst.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass zahlreiche der seit der Jahrtausendwende erschienenen Rust-Belt Romane, darunter z.B. Christopher Barzaks One for Sorrow (2007)2 und Philipp Meyers American Rust (2009)3, ehemalige Bahngleise und die damit verbundenen und inzwischen verlassenen Infrastrukturen zu zentralen Orten der Handlung machen. Diese stellten nicht nur in der Vergangenheit die Anbindung der Region an den Rest der Nation sicher und werden besonders schnell von der Natur zurückerobert – sondern sie verbinden den Rust Belt auch visuell mit anderen postindustriellen Landschaften in der ganzen Welt. Sie sind auch außerhalb des Ruhrgebiets längst Teil der Bildsprache, die sich im Kontext des Sprechens über diese Transformationsprozesse etabliert hat. Es sind eben doch nicht nur rauchende Schlote und Fördertürme. Es sind auch feine Linien im Boden, die die Rust Belts dieser Welt zusammenhalten.
References
- Reicher, Christa, Kunzmann, Klaus et. al. (2011): Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets. Jovis.
- Barzak, Christopher (2007): One for Sorrow. Bantam.
- Meyer, Philipp (2009): American Rust. Simon & Schuster.
SUGGESTED CITATION: Sattler, Julia: Verbindungslinien, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/verbindungslinien/], 08.06.2022