Christine VennemannPixelprojekt+City Scripts

Zwischenorte und ihre Bewohner*innen

Zwischenorte und ihre Bewohner*innen Auf den Spuren des RB 43 Erschienen in: Pixelprojekt+City Scripts Von: Christine Vennemann

[Dieser Beitrag erscheint in der Reihe „City Scripts trifft Pixelprojekt_Ruhrgebiet“, einer Kooperation des KWI-Blogs, dem Leiter des „Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ Peter Liedtke (DGPh) und Autor*innen des Forschungskollegs City Scripts, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit Bildserien des Pixelprojekt_Ruhrgebiet auseinandersetzen.]

„Sehr geehrte Fahrgäste, wir begrüßen Sie herzlich in der Regionalbahn 43 von Dortmund nach Dorsten und wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt“. So oder so ähnlich beginnt die Fahrt der Emschertal-Bahn in Dortmund im östlichen Teil des Ruhrgebiets, die innerhalb von 80 Minuten Fahrt an die nördliche Ruhrgebietsgrenze führt. Auf diesem Weg lassen sich Orte entdecken, die sonst schnell übersehen werden. Was macht diese Orte aus, wer fährt hier mit und warum widmet man dem RB 43 eine eigene Fotostrecke?

Wenn man vom Ruhrgebiet spricht, fallen oft Städtenamen wie Duisburg, Essen, Bochum oder auch Dortmund. Doch selten wandert der Blick zu den kleineren Städten, die das Ruhrgebiet gleichermaßen prägen. Mit ihrer Fotoreihe zum RB 43 widmen sich die Fotograf*innen Moritz Kappen und Sabrina Richmann diesen „Zwischenorten“1, wie sie sie selbst bezeichnen, bzw. deren Haltestellen:

Dortmund Hbf – Huckarde Nord – Rahm – Marten – Lütgendortmund-Nord – Bövinghausen – Castrop-Rauxel Merklinde – Castrop-Rauxel Süd – Herne-Börnig – Herne – Wanne-Eickel Hbf – Gelsenkirchen Zoo – Gelsenkirchen Buer-Süd – Gladbeck Ost – Gladbeck Zweckel – Feldhausen – Dorsten.

Die 25 Fotografien, alle im Hochformat gehalten und meist mit einem zentralen Element, zeigen eine Auswahl dieser Haltestellen sowie die Menschen, die an ihnen warten. Diese zwei Elemente der Betrachtung spiegeln sich auch in dem Aufbau des Fotoarchivs wider, denn hier findet man die Serie des RB 43 sowohl in der Kategorie Stadt/Architektur als auch unter Mensch/Soziales. Auf beide Bereiche versucht dieser Beitrag einen Blick zu werfen.

Mit Verlassen des Dortmunder Hbf bleibt auch die größte Haltestelle dieser Strecke hinter uns zurück. Ab hier ist nicht immer zu erkennen, an welchem Ort sich der RB gerade befindet, bis man in Dorsten den Endbahnhof erreicht.

Abbildung eins und zwei zeigen dabei Elemente, die sich in der Fotoserie immer wiederfinden: Die hier abgebildeten Haltestellen haben nur ein einzelnes Gleis, das noch befahren wird, daneben erstrecken sich oft stillgelegte und entsprechend zugewachsene Schienen, die an etwas aktivere, aber vergangene Zeiten des Regionalverkehrs erinnern. Der Standort lässt sich oft nur an einem Schild ausmachen, wie hier an der Haltstelle Gelsenkirchen Buer-Süd mit der Aufschrift „Straße Am Bahnhof Süd“.

Im Vordergund ist ein stillgelegtes Gleis zu erkennen, dahinter ein intakes. Das Bild allein lässt nicht genau festhalten um welche Haltestelle es sich handelt. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).
Abbildung 1: Im Vordergrund ist ein stillgelegtes Gleis zu erkennen, dahinter ein intaktes. Das Bild allein lässt nicht genau festhalten, um welche Haltestelle es sich handelt. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

 

Haltestelle Buer-Süd, die nur an dem gezeigten Schild zu erkennen ist.
Abbildung 2: Haltestelle Buer-Süd, die nur an dem gezeigten Schild zu erkennen ist. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

Würde man diesen Teil der Fotoreihe zusammenfassend beschreiben, ließen sich viele Parallelen zwischen den einzelnen Stopps des RB 43 ziehen:

Verwaiste Wartehäuschen und kaputter Asphalt betonen den baulich maroden Zustand der Haltestellen, die sich durch einen monotonen, austauschbaren Charakter auszeichnen. Die kahlen Bäume suggerieren, dass es sich um Aufnahmen im Winter handelt, die durch den grauen Himmel den Eindruck der Monotonie und Abgeschiedenheit untermalen. Im Jahre 2008 aufgenommen, spiegeln die Bilder einen Zustand wider, der sich zu heute kaum verändert hat und durch eine gewisse Tristesse definiert.

Doch warum macht man nun so eine Bilderreihe, wenn die verschiedenen Stationen so austauschbar und unbedeutend scheinen? Und warum schreibt man einen Beitrag dazu? In meinen Augen wird die Monotonie der Stationen durch die dort wartenden Menschen durchbrochen und in einen neuen Kontext gesetzt.

Ein älterer Mann steht in Anzug und Zigarre in der Hand vor einem Wartehäuschen, an dessen Wand eine Aktentasche gelehnt ist
Abbildung 3: Ein älterer Mann steht in Anzug und Zigarre in der Hand vor einem Wartehäuschen, an dessen Wand eine Aktentasche gelehnt ist. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

 

Abbildung 4: Ein Junge von etwa 10 Jahren steht in Winterjacke an einem Gleis und scheint zu warten. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

Die hier im Einzelformat aufgenommenen Personen schauen alle relativ ernst in die Kamera und ihre winterliche Kleidung unterstreicht den tristen Unterton der Fotoreihe. Klickt man durch die Aufnahmen, so kontrastieren die Bilder der Personen unumgänglich den verwaisten Eindruck der Bahnstationen. Der Blick wendet sich von der physischen Beschaffenheit eines Ortes zu den Menschen, die ihn ausmachen. Statt trister Bahnsteige sind die Personen, frontal stehend und im Portrait aufgenommen, das zentrale Element der Aufnahmen und man beginnt sich zu fragen, warum diese Personen hier stehen und was sie vorhaben. Auch wenn es sich hier um Einzelaufnahmen handelt, bilden die Personen in ihrer Gesamtheit gesehen eine äußerst heterogene Gruppe: Menschen verschiedenster Generationen, Frauen, Männer, Kinder und junge Erwachsene sind hier zu sehen und warten auf den RB 43. Aus dieser Perspektive sind Haltestellen äußerst spannend und gleichzeitig ambivalent, denn obwohl alle Wartenden dasselbe Verkehrsmittel nutzen, um von A nach B zu kommen, haben alle ein anderes Ziel.

Dabei ist es hier Interpretationssache, weswegen sie den RB nutzen: Sind sie auf dem Weg zur Arbeit in die nächstgrößere Stadt, müssen sie in die Uni oder befinden sich auf dem Weg nach Hause? Oder freuen sie sich auf einen abenteuerlichen Tag im Moviepark? Etwas fundiertere Interpretationen lassen sich anhand der nachfolgenden Abbildungen treffen:

Eine junge Frau in Winterkleidung mit einem Reisekoffer. Auf dem Bild ist sie allein.
Abbildung 5: Eine junge Frau in Winterkleidung mit einem Reisekoffer. Auf dem Bild ist sie allein. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

 

Ein älterer Mann mit seinem Fahrrad. Am Lenker befindet sich eine mit Lebensmitteln gefüllte Einkaufstasche von Lidl, auf dem Gepäckträger ein Korb sowie Satteltaschen
Abbildung 6: Ein älterer Mann mit seinem Fahrrad. Am Lenker befindet sich eine mit Lebensmitteln gefüllte Einkaufstasche von Lidl, auf dem Gepäckträger ein Korb sowie Satteltaschen. (© Sabrina Richmann und Moritz Kappen).

Abbildung fünf zeigt eine junge Frau mit einem großen Koffer, die sich vermutlich zu einer Reise aufmacht oder von dieser zurückkehrt. Die sechste Abbildung stellt einen älteren Herren mit voll beladenem Fahrrad dar, der womöglich seine Einkäufe erledigt hat und diese nach Hause bringt oder sie zu einem Freund oder Bekannten fährt. Exemplarisch für viele weitere Personen in dieser Fotoreihe gibt ihre Anwesenheit den Bahnstationen einen Sinn, der über die einfache physische Beschaffenheit hinausgeht. Sie verwandeln ein einfaches, asphaltiertes Bahngleis in einen Ort des Wegfahrens als auch des Ankommens, der Trennung und des Wiedersehens; den Startpunkt für eine Reise oder den Endpunkt eines Einkaufs. Für Pendler*innen wiederrum signalisiert er gleichermaßen Arbeitsbeginn und Feierabend. Doch all diese Situationen entstehen eben erst, wenn die Bahnstationen von ihren Anwohner*innen genutzt werden.

Diese veränderte Betrachtung von Räumen gliedert sich in einen Paradigmenwechsel im Zuge des spatial turns der 1980er Jahre ein. Dieser beschreibt eine Kehrtwende von der Betrachtung von Räumen als einfache bauliche Struktur zu einer erweiterten gesellschaftlich-soziologischen Auffassung des Raumbegriffs.2 Kulturgeografisch kann man dabei noch eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Ort und Raum vornehmen. Lars Wilhelmer erklärt auf der Basis von Martin Löws Arbeit: „[Der Ort] gibt den dynamischen, flexiblen und diskontinuierlichen Raumkonstruktionen einen Fixpunkt, an dem sie sich lokalisieren lassen“.3 Ein Ort scheint damit festzustehen, während ein Raum konstruiert und dementsprechend veränderbar ist. Henri Lefebvre stellt die These auf, dass Räume das Ergebnis sozialer Produkte seien und dass jede Gesellschaft ihre eigenen Räume konstruiert.4 Daraus abgeleitet sind es also Menschen, die einem Ort erst eine bestimmte Funktion und damit einen Sinn geben. Erst durch die Nutzung der hier abgebildeten Personen werden aus den einfachen Haltestellen beispielsweise Räume des Wartens und aus dem RB eine Bahn, die Personen von A nach B befördert.

Wichtig ist es hier zu betonen, wie es Kappen und Richmann auch in ihrer Kurzbeschreibung tun, dass der RB 43 für viele Anwohner*innen einen „existentielle[n] Anbindungspunkt“5 darstellt und somit auch ein starkes Abhängigkeitsverhältnis. Oft ist es die einzige Möglichkeit die nächstgelegene Stadt zu erreichen.

Der Notwendigkeit der Bahnstrecke für die Bewohner*innen der verschiedenen Orte stand jahrzehntelang die immer wiederkehrende Debatte einer Stilllegung der Strecke gegenüber. Seit den 1990ern wurde diskutiert, ob sich der RB 43 in dieser Form noch lohnt. 2013 wurde laut der Stadt Dortmund eine Sicherung der Bahnstrecke bis 2028 mit dem VRR vereinbart.6 Gleichzeitig sieht die Stadt Potenzial darin die Strecke langfristig zu erhalten und führt verschiedene Maßnahmen an, die zu einem Erhalt der Emschertal-Bahn beitragen könnten.

Mit dem heutigen Fokus auf den Ausbau des ÖPNVs und emissionsärmere Verkehrsmittel ergibt eine (Teil-)Stilllegung keinen Sinn. Vielmehr wäre eine sicherere und barrierefreie Gestaltung der Haltestellen eine Möglichkeit, die Strecke für mehr Personen attraktiver wirken zu lassen.

Zugegeben, dieses Plädoyer mag etwas parteiisch sein: als gebürtige Ruhrpottlerin, die in Dorsten aufgewachsen ist und seit 7 Jahren in Dortmund lebt und arbeitet, hat der RB 43 für mich eine gesonderte Stellung und verbindet meine Heimat mit meinem Zuhause. Seit Beginn meines Studiums habe ich unzählige Stunden in dieser Bahn verbracht und dabei oft genug Haltestellen angefahren, an denen die Beleuchtung nur mäßig funktionierte oder an denen der Höhenunterschied zwischen Zug und Bahnsteig so versetzt war, dass ein Ein- und Aussteigen mit Kinderwagen, Gehhilfen oder größeren Gepäckstücken kaum möglich war. Ob meine eigenen Beobachtungen eine objektive Perspektive widerspiegeln sei dahingestellt, doch decken sich viele davon mit der Analyse der Stadt Dortmund, die unter anderem eine „bessere Aufenthaltsqualität der Stationen und deren Umfeld“7 sowie „eine Anpassung von Bahnsteigen und Zugängen im Sinne der Barrierefreiheit“8 vorschlägt. Die Umsetzung dieser Maßnahmen scheint schleichend voranzugehen, aber sie tut es. So befindet sich beispielsweise der Bahnhof in Dorsten zurzeit im Umbau9 und ermöglicht einen barrierefreien Zugang zum RB43.

Die gesamte Diskussion um Mobilität, Stilllegung oder Nicht-Stilllegung, aber auch um Zugänglichkeit zu öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Sicherheit an den Haltestellen ließe sich endlos weiterführen, verließe damit aber den Rahmen dieses Beitrages.

Festzuhalten ist, dass die Fotoserie von Kappen und Richmann den Fokus gezielt auf eine sonst eher unscheinbare Gegend setzt und damit die Wichtigkeit einer einzelnen Bahnstrecke für diese gesamte Region und allen voran ihrer Bewohner*innen verdeutlicht. Nach wie vor stellt der RB 43 eine essenzielle Verbindung für die Anwohnenden dar, die auf diese Strecke nicht nur angewiesen sind, sondern sie auch selbst mitgestalten und mit jeder Fahrt sowohl ihre Notwendigkeit demonstrieren als auch zu ihrem Erhalt beitragen.

References

  1. Kappen, Moritz und Sabrina Richmann (2008): RB 43, in: KWI- Pixelprojekt-Ruhrgebiet, [https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/rb-43], (letzter Zugriff: 02.06.2022).
  2. Wilhelmer, Lars (2015): Transitorte-Orte in der Literatur: Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld: transcript, S. 19-58. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839429990.
  3. Ibid., S.28.
  4.  Lefebvre, Henri (1974): Die Produktion des Raums, in: Dünne, Jörg und Stephan Günzel (Hrsg.) (2018): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: suhrkamp taschenbuch, S.330-342.
  5. Kappen, Moritz und Sabrina Richmann (2008): RB 43, in: KWI- Pixelprojekt-Ruhrgebiet, [https://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de/serie/rb-43], (letzter Zugriff: 02.06.2022).
  6. Stadt Dortmund: Regionalbahn RB 43 Dortmund [https://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/planen_bauen_wohnen/stadtplanungs_und_bauordnungsamt/stadtplanung/verkehrsplanung/nahverkehr_oepnv/projekte_5/regionalbahn_rb_43.html], (letzter Zugriff: 03.06.2022).
  7. Ibid.
  8. Ibid.
  9. Stadt Dorsten: Wir machen MITte: Die integrierte Entwicklung der Innenstadt Dorsten, [http://wirmachenmitte.de/projekte/soziales-miteinander/umbau-und-umnutzung-des-denkmalgeschuetzten-bahnhofsgebaeudes/], (letzter Zugriff: 02.06.2022).

SUGGESTED CITATION: Vennemann, Christine: Zwischenorte und ihre Bewohner*innen. Auf den Spuren des RB 43, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/zwischenorte-und-ihre-bewohnerinnen/], 29.06.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220629-0830

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