Mark Schmitt5 Fragen an...

5 Fragen an Mark Schmitt

5 Fragen an Mark Schmitt Erschienen in: 5 Fragen an... Von: Mark Schmitt

In der Reihe „Carte Blanche. Forschung aus der Nachbarschaft“ begrüßen wir am 16. Juni Mark Schmitt (Technische Universität Dortmund) mit einem Vortrag zu “The Shape of Things to Come: Gegenhegemoniale Zukünfte und die Möglichkeiten der Cultural Studies”.

Tim Schanetzky (Univ. Jena/KWI) hat Mark Schmitt im Vorfeld dazu interviewt.

(1) Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen?

Das Thema Zukunft drängte sich mir bei der Betrachtung verschiedener, eigentlich nicht direkt miteinander verknüpfter Phänomene in der Geschichte und Gegenwart Großbritanniens auf. Wie kommt es, dass in den letzten Jahren britische Denker*innen kämpferisch eine sich bald manifestierende postkapitalistische Zukunft ausriefen, so etwa Nick Srnicek und Alex Williams1 und Paul Mason2? An welche historischen Vorbilder, beispielsweise sozialistische Utopien des 19. Jahrhunderts, knüpfen sie an? Ein weiterer Aspekt, der mich interessiert, sind Massenproteste und soziale Unruhen: Inwiefern verweisen jüngere Aufstände wie die English Riots 2011 auf historische Vorbilder, etwa antirassistische Proteste in den 1980er Jahren, aber auch Aufstände im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhundert? Und inwiefern präfigurieren sie eine mögliche Zukunft? Und, um ein extremes Beispiel zu nennen: Was unterscheidet und verbindet so gegensätzliche Zukunftsmodelle wie die nostalgische Zukunftsvision der Brexit-Befürworter*innen und die emanzipatorischen, postkolonialen Ideen der Denker*innen des Afrofuturismus?

Ich habe mich gefragt, wie man diese sich wandelnden Zukunftsvorstellungen historisieren kann. Für die britischen Cultural Studies war es immer wichtig, sich mit den möglichen und pluralen Zukünften der Gesellschaft zu beschäftigen. Einer ihrer theoretischen Begründer, Stuart Hall, hat beispielsweise immer wieder auf die noch nicht eingelösten Versprechen der Moderne verwiesen, denen es nachzuspüren gilt. Daraus leitet sich für mich die Frage ab, inwiefern es zu verschiedenen historischen Zeit- und Scheidepunkten jeweils unterschiedlich wahrscheinliche Zukunftsszenarien gegeben hat, oder anders: Wann wird eine bestimmte Zukunft denk-bar?

(2) Wie hängen Zukunftsvorstellungen und Kapitalismuskritik zusammen?

Für beides sind krisenhafte Momente entscheidend. Kapitalismuskritik arbeitet sich seit jeher an der Krisenanfälligkeit des wirtschaftlichen Systems ab und geht davon aus, dass dieses nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Gleichzeitig hat man gesehen, dass die Krisen des Kapitalismus immer wieder kompensiert werden konnten, so dass er mit all seinen ideologischen Erscheinungsweisen wie eine ewige Gegenwart erschien. Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat das als „capitalist realism“beschrieben. Demgegenüber sind die oben genannten Veröffentlichungen von Srnicek, Williams und Mason viel optimistischer und sehen die Finanzkrise 2008 und die Entwicklungen seither als eine Zäsur, die ein radikales Umdenken ökonomischer und sozialer Normen nötig macht. Diese Aufbruchsrhetorik unterscheidet sich deutlich vom bis dahin vorherrschenden Pessimismus, der sich nicht zuletzt im linken kulturkritischen Diskurs ausgebreitet hatte.

Mich hat dieser Paradigmenwechsel fasziniert, denn die ökonomische Krise wird hier als eine Krise der Zeitlichkeit begreifbar, Konzepte von Fortschritt und Kontinuität fundamental hinterfragt. Etwas Ähnliches leisten auch utopische Zukunftsvorstellungen: sie irritieren, vielleicht gerade auch, weil sie vielen Zeitgenoss*innen zunächst als unzeitgemäß, womöglich sogar kindisch erscheinen, und stellen so die Gegenwart und deren Konzept von Zeitlichkeit in Frage.

(3) Unterscheiden sich die britischen Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft grundsätzlich von unseren Ideen?

Wir sehen in Großbritannien ein Spektrum an Szenarien, die gewissermaßen zu einem Kampf um die Zukunft führen: auf der einen Seite ein Wiedererstarken längst überholt geglaubten utopisch-progressiven Denkens, auf der anderen Seite das, was Zygmunt Bauman „Retrotopie“4 genannt hat, also eine nostalgische Rückwärtsgewandtheit.

Der Brexit zeigt, dass sich Teile der Bevölkerung nach einem nationalen Sonderweg sehnen. Man möchte seine Zukunft wieder als unabhängige Nation selbst schreiben und ist dabei vom Narrativ einer glorreichen nationalen Vergangenheit inspiriert. Diese Version der Vergangenheit ist aber höchst selektiv: In Abhängigkeit von Ethnizität, Klasse oder Geschlecht war sie eben nicht für jede*n gleichermaßen glorreich. Es ist bezeichnend, dass politische Brexit-Hardliner wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg auch als Autoren historischer Sachbücher in Erscheinung getreten sind: Der Premierminister huldigte seinem Idol Winston Churchill (2014) und sein Kabinettsmitglied outete sich als Fan des Viktorianischen Zeitalters und des Empire (2019).5 Sie erzählen die Vergangenheit neu, um den ideologischen Boden für die Zukunft zu bereiten – historische Fakten geraten dabei gern unter die Räder. Innerhalb des Vereinigten Königreichs werden nationale Differenzen verwischt: So übertüncht ein anglozentrisches Narrativ die Tatsache, dass sich die einzelnen Mitgliedsnationen England, Wales, Schottland und Nordirland keineswegs einig sind. Es zeichnet sich das ab, was Tom Nairn bereits 1977 als den „Break-Up of Britain“ bezeichnet hat.

Davon abgesehen steht Großbritannien jedoch vor den gleichen globalen Herausforderungen wie andere Länder auch. Bewegungen wie „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ zeigen, dass kein Weg daran vorbeiführt, den Klimawandel zu berücksichtigen, wenn es darum geht, kommenden Generationen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Hier geht das Zukunftsdenken nicht nur über nationale Grenzen, sondern auch über die eigene Spezies hinaus. Besonders radikal denkt die britisch-australische Philosophin Patricia MacCormack: Vielleicht sei die wirklich nachhaltige Zukunft eine gänzlich ohne Menschen – die Spezies solle auf Reproduktion verzichten, vegan leben und passiv das eigene Aussterben einleiten. Das ist gewiss keine populäre Empfehlung, aber sie ermöglicht doch einen alternativen epistemologischen Blick, auch wenn man ihre Sichtweise nicht teilt.

(4) Brexit, Neuwahlen, Corona – an Beschleunigung und Ungewissheit war gerade in Großbritannien zuletzt kein Mangel. Wie wirkt sich das auf Ihre Forschung aus?

Die britischen Cultural Studies erleben gerade eine aufregende Zeit. Die Entwicklungen seit dem Brexit-Votum lassen mich Fragen nach politischer Zeitlichkeit neu stellen. Und die Coronakrise zeigt, wie belastungsfähig Prognoseinstrumente sein müssen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Sie zeigt auch die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zukunftsforschung auf. Wir erleben nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche, politische und ökonomische Krise, in der plötzlich Ideen diskursfähig werden, die sonst als utopisch abgetan wurden. So erwägen plötzlich einige Regierungen ein bedingungsloses Grundeinkommen. In einer Zeit, in der bisher selbstverständliche Vorstellungen von Kontinuität und Fortschritt aus den Angeln gehoben werden, schlägt möglicherweise die Stunde der vermeintlich unrealistischen Querdenker*innen, die in meiner Forschung eine prominente Rolle spielen. Auf einer ganz praktischen Ebene verhindert die Pandemie aber leider auch meine geplanten Archivarbeiten in London …

(5) Was sollte man aus der „vergangenen Zukunft“ für die Zukunft lernen?

Wenn man mit einem historisierenden Blick beobachtet, welche Vorstellungen für die Zukunft zu einem jeweiligen Zeitpunkt in der Vergangenheit wahrscheinlich schienen, fällt auf, dass die Zukunft im Grunde ähnlich erzählt werden kann wie die Vergangenheit. Das hat schon der Schriftsteller und Futurologe H. G. Wells zu Anfang des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen: Man müsse die Zukunft im Grunde ebenso entdecken wie die historischen Fakten der Vergangenheit – „all the past is but the beginning of a beginning“6. Diese „vergangenen Anfänge“ muss man abhängig von der eigenen Gegenwart immer wieder neu befragen und interpretieren, um die Zukunft – die vergangene und die vor uns liegende – „entdecken“ zu können. Als Beispiel: Der Historiker Christopher Hill hat 1972 in seiner wegweisenden Studie The World Turned Upside Down sozialutopische Kommunen zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert aus Sicht des 20. Jahrhunderts neu gedeutet und daraus nicht nur wichtige Erkenntnisse für das Verständnis britischer Geschichte sondern auch für seine politische Gegenwart abgeleitet.Ergründet man also diese vielfältigen „vergangenen Anfänge“, wird klar, dass es nicht „die“ Zukunft gibt, die sich linear aus der Vergangenheit ableiten lässt, sondern dass es eine Vielzahl von Zukünften gibt, die plural begriffen werden müssen.

References

  1. Nick Srnicek und Alex Williams (2015): Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work, London/New York: Verso.
  2. Paul Mason (2015): PostCapitalism: A Guide to Our Future, London: Allen Lane
  3. Mark Fisher (2009): Capitalist Realism: Is There No Alternative?, Winchester u. a.: Zero Books.
  4. Zygmunt Bauman (2017): Retrotopia, Cambridge: Polity.
  5. Boris Johnson (2014): The Churchill Factor. How One Man Made History, London: Hodder & Stoughton; Jacob Rees-Mogg (2019): The Victorians, London: WH Allen.
  6. H. G. Wells (1913): The Discovery of the Future, S. 60. https://doi.org/10.1001/jama.1913.04340160052033
  7. Christopher Hill (1972): The World Turned Upside Down. Radical Ideas During the English Revolution, London: Temple Smith.

SUGGESTED CITATION: 5 Fragen an Mark Schmitt, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/5-fragen-an-mark-schmitt/], 15.06.2020

DOI: https://doi.org/10.17185/kwi-blog/20200615-0900

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