Ausgangslage
Schwerpunkt: Kanon, Kanonisierung, Kanonizität
Im Mai und Oktober 2019 fand am KWI und am German Department in Stanford ein zweiteiliger Workshop statt, der sich mit einem jüngst wieder prekär gewordenen Begriff auseinandersetzte. ‘Dem’ Kanon widmete sich eine Gruppe von Kultur- und Bildwissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Medienwissenschaftler*innen auf der Suche nach brauchbaren Zugängen für ihre jeweilige Fachkultur. In den kommenden Wochen dokumentieren wir einige der dort gehaltenen Referate, die die Perspektiven der beteiligten Fächer aufzeigen. Erst im transdisziplinären Austausch zeigt sich die durchgreifende Kraft von Kanondebatten.
Im Sommer 2018 war es wieder soweit: Es ergab sich eine Kanondebatte, angefacht durch einen Artikel in DIE ZEIT, in der der Autor Thomas Kerstan eine Liste derjenigen Kunstwerke durchgab,1 die einen segensreichen Einfluss auf die ästhetischen Erfahrungen auch künftiger Generationen ausüben sollten. Hurtig wurden Gegenkanones entworfen,2 ein Hashtag auf Twitter festgelegt (#dieKanon) und die entstehende Debatte in Lehrpläne integriert (nachlesen kann man diese Entwicklung ebenfalls auf Twitter unter dem Hashtag #RelevanteLiteraturwissenschaft). Wer soll im Kanon vorkommen, und wer hat über dieses Sollen zu bestimmen? Wie könnte man Forderungen nach dem Ausmustern bestimmter Autor*innen, Themen oder Genres überhaupt begründen? Forderungen nach einer Repräsentation von Minoritäten in kulturellen Diskursen, Universitäten und Schulen prallten auf bildungsbürgerliche Bestrebungen, die eigenen geschmacklichen Präferenzen zu konservieren.
Wurde diese Debatte nicht ganz ähnlich schon mehr als einmal geführt? Und warum bewegt sie sich so wenig vom Fleck, warum treten immer wieder einander so stark ähnelnde Positionen gegeneinander an? Leichte Ratlosigkeit in den Kulturwissenschaften. Im Sommer 2018 entstand die Idee, dieser Ratlosigkeit mit einem zweiteiligen Workshop am KWI in Essen und am German Department in Stanford zu begegnen. Unterschiedliche Fächerkulturen und deren unterschiedliche regionale Ausprägungen miteinander ins Gespräch zu bringen und sich gegenseitig danach zu fragen, wie es mit dem Kanon oder den Kanones des jeweiligen Faches bestellt sei, schien ein guter erster Schritt. Wie wird die Diskussion um das (fachlich) Maßgebliche, das Vorbildliche und Verbindliche geführt? Gibt es überhaupt eine belastbare Verbindung zwischen einer im Feuilleton ausgetragenen und einer fachlichen Diskussion? Wie wirken sich andere zeitgenössische Diskussionen zu Identitätspolitik oder Geschlechtergerechtigkeit auf diese Fragen aus? Und ̶ jetzt mal ehrlich! – : was wollen wir behalten, woran wollen wir uns in Zukunft erinnern? Wer ist wir?
Ausgangspunkt unseres Workshops war die Beobachtung, dass Kanondebatten vor allem in ihrer Eigenschaft als Selbstverständigungsdiskurse ein guter Gegenstand sind, um sich damit auseinanderzusetzen, was im Fach als verbindliches Wissen angesehen wird. Kanones sind dabei nicht allein Richtmaß, Lektürevorschrift oder Sammlung von Vorbildlichem. Als solche sind sie auch Instrumente zur Komplexitätsreduktion: Wer sich sicher sein kann, dass eine Mehrheit der Diskursteilnehmenden einen bestimmten Text, ein bestimmtes Kunstwerk kennt, kann mit viel weniger Aufwand darauf Bezug nehmen, als wenn erst langwierig erklärt werden muss, worum es überhaupt geht. Die Diskussionen des Workshops thematisierten aber auch genau diese Annahme als eine heuristische Fiktion und fragten danach, wie man überhaupt herausfinden könne, ob es jemals eine goldene Zeit allgemein geteilter Referenzen auf einen bestimmten Kanon gegeben habe, und wie diese genauer zu beschreiben sei.
Von Interesse waren insbesondere die hohen normativen Inwertsetzungen, die in allen Debatten über Kanon mit diesem Begriff verbunden werden. Um zu klären, wie diese überhaupt zustande gekommen sind, hilft es, sich damit zu beschäftigen, welche Rolle Kanones dabei spielen, ein “kulturelles Gedächtnis” zu formieren. In seiner grundlegenden Studie dazu aus dem Jahr 1992 setzt sich Jan Assmann ausgehend von den Schriftkulturen der Antike damit auseinander, in welcher Weise Erinnerung sozial wirksam werden kann. Teil seiner Auseinandersetzung mit diesen Fragen, die mittlerweile selbst eine eigene Rezeptionsgeschichte aufweisen und viele weitere Forschungen motiviert haben, ist ein Kapitel über den Begriff des Kanons. Assmann bietet dazu zunächst einen historischen Überblick an und stellt die Begriffsgeschichte vor allem in den Kontext einer Ideengeschichte der Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit von Texten oder Textsammlungen. “Kanon” bezeichnete lange Zeit vor allem eine listenförmige Nennung von Texten, der weder etwas hinzugefügt noch entnommen werden darf, ohne ihre Maßgeblichkeit zu beschädigen.
Eine entscheidende Zuspitzung erhält das Kapitel jedoch in einem Abschnitt, der sich eher den Funktionen eines Kanons widmet. Auf Grundlage des von ihm entfalteten historischen Panoramas hält Assmann fest:
In Zeiten verschärfter innerkultureller Polarisierung, Zeiten zerbrochener Traditionen, in denen man sich entscheiden muß, welcher Ordnung man folgen will, kommt es zu Kanonbildungen. Der Kanon verkörpert in diesen Situationen konkurrierender Ordnungen und Ansprüche den Anspruch der besten oder der einzig wahren Tradition. Wer sich ihr anschließt, bekehrt und bekennt sich zugleich zu einer normativen Selbstdefinition, zu einer Identität, die im Einklang steht mit den Geboten der Vernunft oder der Offenbarung.3
Die Veränderungen dessen, was als eine “normative Selbstdefinition” gelten könnte, standen im Zentrum der Kanondebatte von 2018f., die den Anstoß dafür gab, dass wir uns dazu entschlossen, ihre Auswirkungen für die Arbeit in den Kulturwissenschaften genauer anzuschauen. Schließlich war bei einigen, die sich nun für einen “neuen” Kanon einsetzten, die Hoffnung auf dessen weltverbessernde Wirkung deutlich formuliert:
[Es] ist Zeit für eine neue Liste, die wir nach intensiven Studien der Lehrpläne und Feuilletons, in denen wir kaum einen der aufgeführten Namen gefunden haben, erstellt haben: Neue Namen mit Ideen und der Kompetenz, die vielleicht etwas zu einem freundlicheren Miteinander in der Welt beitragen können.4
Die Hoffnung an den Workshoptagen war etwas weniger hochgeschraubt, für alle Teilnehmenden stand jedoch auch besonders dringend das Interesse im Vordergrund, eine Verständigung über die Gestaltung von Lehrplänen zu erreichen. Dabei geht es nicht allein darum zu klären, wie geteilte Voraussetzungen bei Studierenden und Lehrenden geschaffen werden können. Es geht, und das ist weitreichender, auch darum zu fragen, welche Repräsentationsansprüche welcher Gruppen von Autor*innen, Leser*innen und Forscher*innen in der Zusammenstellung eines Kanons überhaupt erfüllt werden können, und welche ethischen und ästhetischen Kriterien für die Aufnahme darin mobilisiert werden sollen. Die Diskussion dieser Kriterien, sowie die Kritik an deren Genese ist dabei unumgänglich, was eben auch bedeutet, dass Kanon- und Leselistendebatten höchst selbstreflexive Angelegenheiten sind. Ihr Erkenntnisgewinn liegt vermutlich in anderen Bereichen als denen, wer wem welche Lektüren oder sonstigen Rezeptionsvorgänge ins Hausaufgabenheft diktieren darf. Einsichten sind insofern vor allem hinsichtlich des aktuellen Standes im Umgang mit dem Begriff der Repräsentation zu erwarten – das wäre allerdings nicht das wenigste.
Lesen Sie hier in den folgenden Wochen Beiträge von Adrian Daub, Sina Farzin, Leon Gabriel, Margarete Pratschke, Anja Schürmann und Linda Waack. Jeder dieser Texte kommentiert einen Text, der die Auseinandersetzung mit dem Thema Kanon in dem jeweilig vertretenen Fach exemplarisch verdeutlicht.
References
- Thomas Kerstan: Wir brauchen einen neuen Kanon. Die Welt ist in Unordnung. Wie verständigt sich eine Gesellschaft in Aufruhr? Durch einen gemeinsamen Fundus an Wissen. Machen Sie mit? In: DIE ZEIT, Nr. 34/2018, 16. August 2018.
- Dazu gehören die Liste, die unter dem Titel Kanon, du lebendiges Ding von Ann-Kristin Tlusty, Julia Meyer und Judith Luig ebenfalls in DIE ZEIT lanciert wurde, sowie das Projekt https://diekanon.org/ von Laura Ede, Jelena Gučanin, Nana Karlstetter, Simone Meier, Julia Pühringer, Theresia Reinhold, Hedwig Richter, Nicole Schöndorfer, Margarete Stokowski und Brigitte Theißl. „Die Kanon“ versammelt ausschließlich Namen und Werke von weiblichen und queeren Personen.
- Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 3. Aufl. München: Beck, 2000, S. 125f.
- Sibylle Berg in einem Vorwort zur Aktion „die Kanon“, unter https://diekanon.org/.
SUGGESTED CITATION: Engelmeier, Hanna: Ausgangslage, Schwerpunkt: Kanon, Kanonisierung, Kanonizität, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/ausgangslage/], 30.03.2020