Dwelling on a painting / Verweilen bei einem gemalten Bild
In einer Ecke unseres Wohnzimmers hängt ein gemaltes Bild vom Fenster eines alten Gebäudes in La Hoube, Elsass. Ob es das Fenster nach den vielen Jahrzehnten noch gibt? Wir waren dort mit Freund*innen unterwegs, darunter auch ein Künstler, der das Gebäude mit dem Fenster fotografierte. Später malte er das Bild, das jetzt im Wohnzimmer hängt. Damals wirkte das Gebäude heruntergekommen und verlassen. Es sprach förmlich von ärmlichen Verhältnissen und besseren, vergangenen Tagen. So wirkte das Fenster auch auf dem Foto, das der Künstler damals aufnahm. Das gemalte Bild wiederum spricht eine andere Sprache. Es spricht nicht von Verfall oder von In-der-Zeit-Vergessen-Sein, sondern bedient sich der Sprache der Kunst, in der Farben, Form, Linienführung, Gestalt und Proportion zusammenwirken und zum Betrachten einladen.

Die Farbgestaltung und die Komposition des Bildes wirken auf die Betrachter, indem sie eine sinnengeleitete Aufmerksamkeit für das Gemalte bewirken und eine ästhetische Erfahrung hervorrufen. Auch vieles andere mutet uns in ästhetischer Weise an — Musik, Dichtung, Schauspiel, Tanz, Architektur, Landschaften und die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen. Wie aber kommt ein ästhetisches Erlebnis zustande? Traditionell gefragt: Worin besteht ästhetische Erfahrung?
Der Ausdruck ‚Ästhetik’ geht auf das griechische Wort für Wahrnehmung, Empfindung und Einbildungskraft zurück. Obwohl sich Philosoph*innen seit Platon mit Fragen der Kunst und der Kunsterfahrung beschäftigt haben, wurde erst 1735 der Ausdruck ‚Ästhetik’ von dem Philosophen Alexander Baumgarten geprägt, der die Ästhetik als die Lehre der sinnlich vermittelten Erkenntnis und Einbildungskraft definierte.1 Als philosophische Disziplin sollte die Ästhetik die kognitive Leistung sinnlichen Erlebens untersuchen. In den folgenden Jahrhunderten verschob sich der Fokus philosophischer Ästhetik von der sinnlichen Wahrnehmung zu Fragen der Kunst. Heute befasst sich die Disziplin mit der Beschaffenheit ästhetischer Eigenschaften, mit ästhetischen Urteilen und deren Begründung, mit der Frage, ob es eine ästhetische Einstellung im Unterschied zu gewöhnlicher Wahrnehmung gibt, und mit der Frage, wie sich ästhetischer Wert zu ästhetischer Erfahrung verhält. Philosophen*innen gehen Fragen zur Kunst mithilfe von Analysen, Argumenten und Reflexion nach. Sie klären ästhetische Begriffe, setzen sich mit Thesen auseinander und entwerfen Theorien über die Konstitution ästhetischer Erfahrung und den Charakter ästhetischer Phänomene. Ihre Herangehensweise ist durch Reflexion, Klassifikation und Kritik gekennzeichnet. Bis auf die Ausnahme der experimentellen Philosophie spielen Datenerhebung und empirische Experimente keine Rolle bei ihrem Bemühen, ästhetische Erfahrung zu analysieren.
Ästhetische Erfahrung wird oft charakterisiert als „eine Form äußeren Erlebens, in der die Aufmerksamkeit auf die sinnliche Erscheinungsweise des Gegenstandes gerichtet ist“.2 Wir sehen die Eleganz eines pas de deux oder die Opulenz eines Sonnenuntergangs, wir hören die Melancholie im Fado-Gesang und den Wohlklang einer Musikkomposition, und wir empfinden die Verzweiflung eines alten Mannes bei einer Aufführung von König Lear. Demnach nimmt ästhetische Erfahrung ihren Ausgang in der Sinneswahrnehmung, die sich auf die visuellen, auditiven und anderen Eigenschaften eines Gegenstands richtet. Es wird allgemein konstatiert, dass die sinnliche Erscheinungsweise eines Gegenstands für die ästhetische Erfahrung zentral ist. Es wird ebenfalls konstatiert, dass die sinnlichen Eigenschaften, die ästhetisches Erleben auf der bewussten, personalen Ebene ermöglichen, von Prozessen auf einer niedrigeren, subpersonalen Ebene der Wahrnehmungsverarbeitung abhängen. Diese der bewussten Sinneswahrnehmung zugrundliegenden Prozesse werden von der Wahrnehmungspsychologie und der kognitiven Psychologie – beides Bereiche der empirischen Psychologie – erforscht.
Die Bezeichnung ‚empirische Ästhetik’ klingt zunächst wie ein Oxymoron. Denn Ästhetik gilt als philosophische Disziplin. Es handelt sich dabei um eine Teildisziplin der Psychologie, die bereits im 19. Jh. von dem Psychologen Gustav Fechtner gegründet wurde.3 Mit psychophysischen Methoden untersuchte Fechtner die ästhetische Wahrnehmung von Kunstwerken, indem er Reaktionen von Wohlgefallen auf spezifische Eigenschaften der Kunstwerke, etwa Goldener Schnitt, experimentell erforschte. Diese „Ästhetik von unten“ sollte die philosophische „Ästhetik von oben“ ergänzen, nicht abschaffen.
Im 21. Jh. haben die Möglichkeiten der nicht-invasiven bildgebenden Verfahren in den Kognitions- und Neurowissenschaften ein neues Feld der empirischen Ästhetik etabliert — die Neuroästhetik. Ihr Ziel ist die Untersuchung der neuralen Prozesse, die der ästhetischen Erfahrung und der Kunstproduktion zugrunde liegen, um deren neuronale Mechanismen zu identifizieren. In einer frühen Phase zeichneten prominente Neurowissenschaftler Parallelen zwischen neurobiologischen Ergebnissen und den formalen Strukturen bestimmter Kunstwerke.4 Mit neuen bildgebenden Verfahren, welche Aktivierungen im Gehirn messen können, und neuen Formen der Datenanalyse ist die experimentelle Neuroästhetik entstanden. Aufgrund von Daten, die bei Personen im Gehirnscanner mit statischen Bildern gewonnen werden, analysieren viele Studien visuelle Kunsterfahrung, um das neurale Substrat ästhetischer Erfahrung aufzudecken. Exponate der Malerei dienen als Reize. Das bringt uns zurück zum Bild des Fensters im Wohnzimmer. Was hat die experimentelle Neuroästhetik über die ästhetische Erfahrung des Bildes zu sagen?
Zunächst hat die Neuroästhetik Kandidaten für die neuronalen Korrelate ästhetischer Erfahrung ermittelt. Dabei wird die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), basierend auf der Blutoxygenierung, zusammen mit statistischen Korrelationsanalysen verwendet, um Aktivierungen in Hirnregionen zu untersuchen. Durch Veränderungen in der Blutoxygenierung kann die neuronale Aktivität im Gehirn mit fMRT bildlich dargestellt werden. Neurowissenschaftler*innen haben entdeckt, dass das menschliche Gehirn aus multiplen Netzwerken besteht, in denen räumlich auseinanderliegende Gehirnregionen miteinander funktional verknüpft sind. Zwei großflächige Hirnnetzwerke stehen im Fokus der Neuroästhetik, das Central Executive Network (CEN) und das Default Mode Netzwerk (DMN). Das CEN zeigt eine Aktivierung bei Aufgaben, die extern fokussierte Aufmerksamkeit erfordern, wie das Betrachten eines Bildes. Das DMN hingegen ist intern fokussiert. Es ist bei spontanem selbstgeneriertem und reizunabhängigem Denken aktiv. Das CEN und das DMN verhalten sich in der Regel anti-korreliert. Ist der Aufmerksamkeitsfokus auf etwas Externes gerichtet, wie beim Betrachten eines Bildes, vermindert sich die Aktivierung im DMN und gleichzeitig erhöht sich die Aktivierung im CEN und umgekehrt. Neuroästhetische Studien mit fMRT haben aber festgestellt, dass bei ästhetischer Erfahrung mit Bildern, welche Probanden besonders gefallen, die beiden Netzwerke gleichzeitig aktiviert werden.5 Dies ist ein überraschendes Ergebnis, das die Besonderheit ästhetischer Erfahrung suggeriert. Die Frage, worin ästhetische Erfahrung besteht, ist aber damit nicht beantwortet, denn es muss auch gezeigt werden, dass keine anderen Erfahrungen eine gleichzeitige Aktivierung des CEN und des DMN herbeiführen. Zudem ist es ein langer Weg von neuralen Aktivierungen zu der bewussten ästhetischen Erfahrung, die bei der Betrachtung des gemalten Bildes im Wohnzimmer hervorgerufen wird. Um ästhetische Erfahrung empirisch zu untersuchen, muss das Phänomen erst näher spezifiziert werden. Damit kehren wir zum Ausgangpunkt der Ästhetik in der Philosophie zurück, um einer fruchtbaren Analyse ästhetischer Erfahrung in interdisziplinärer Zusammenarbeit von empirischen und nicht-empirischen Wissenschaften den Weg zu bahnen.
References
- Baumgarten, A. G. (1735): Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Hg. Heinz Paetzold. Hamburg: Meiner 1983, §CXVI, S. 86; Baumgarten, A. G. (1750/58): Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Hg. Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner 2007, §1.
- Von Kutschera, Franz (1988): Ästhetik. Berlin: de Gruyter, S. 74. https://doi.org/10.1515/9783110857382.
- Fechtner, Gustav (1876): Die Vorschule der Ästhetik. Leipzig: von Breitkopf & Härtel.
- Zeki, Semir (1999): Inner Vision: An Exploration of Art and the Brain. Oxford: Oxford University Press.
- Vessel, E. A., Starr, G.G., Rubin, N. (2012): The brain on art: Intense aesthetic experience activates the default mode network. Frontiers in Human Neuroscience 6:66, https://doi.org/10.3389/fnhum.2012.00066; Belfi, A. M., Vessel, E. A., Brielmann, A., Isik, A. I., Chatterjee, A., Leder, H., Pelli, D. G., Starr, G. G. (2019): Dynamics of aesthetic experience are reflected in the default-mode network. NeuroImage 188, 584–597, https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2018.12.017.
SUGGESTED CITATION: Röska-Hardy, Louise: Dwelling on a painting/Verweilen bei einem gemalten Bild. Worin besteht ästhetische Erfahrung?, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/dwelling-on-a-painting/], 16.05.2022