Droht ein neuer Faschismus?
Im November 2014 war der Männlichkeits- und Faschismusforscher Klaus Theweleit im Gartensaal des KWI, um einen Vortrag über Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit zu halten. Seine Schlussfolgerung war ziemlich optimistisch: „Wir können feststellen, dass es in unserer Gesellschaft einen sinkenden Verfolgungsbedarf gibt, so wie im Allgemeinen der Giftpegel nach dem Zweiten Weltkrieg gesunken ist.“1 Dann kamen die „Flüchtlingskrise“, das Erstarken der AfD, eine regelrechte völkische Bewegung auf den Straßen und im Netz, zahllose Anschläge und Hasskampagnen gegen Minderheiten und deren Unterstützerinnen. Ein Jahr nach seinem Vortrag schrieb mir Theweleit selbstkritisch: „Ob der ‚Verfolgungsbedarf‘ wirklich gesunken ist, muss sich zeigen.“
Heute ist klar: Viele Menschen gieren geradezu nach Gewalt gegen alles Fremde und Unverstandene und jubeln teilweise unverhohlen über den Tod von anderen, und das nicht nur im Internet. „Absaufen, absaufen!“, grölten Bürger in Dresden bei einer Pegida-Demonstration im August 2018, als sie von ertrinkenden Migrantinnen im Mittelmeer hörten. Als sich im Februar und März dieses Jahres die Krise im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos zuspitzte, die Angst vor Covid-19-Infektionen umging und die Bundesregierung beschloss, eine (viel zu) kleine Zahl von kranken Kindern aus dem Lager zu evakuieren, gab es kein Halten mehr. Nachdem die Tageszeitung Die Welt ein Interview mit Florian Westphal von „Ärzte ohne Grenzen“ veröffentlichte, der für die Rettung von Kindern plädierte, tobten die Leser und forderten in Online-Kommentaren die Zwangsdeportation aller Flüchtlinge in die Türkei oder dahin, wo der Pfeffer wächst. Sollen sich die Leute doch die Hände waschen, schrieb einer. Andere hofften darauf, das Virus möge unter den Flüchtlingen wüten. „Biologische Lösungen“, so der Leser „Björn B.“, seien immer noch die besten.2
Zeigt sich hier eine neue faschistische Mentalität? Jedenfalls haben wir es mit einem Phänomen zu tun, dass sich nicht angemessen unter der Rubrik des „Populismus“ einordnen lässt. Populistisch oder rechtspopulistisch nennen Politikwissenschaftler die weltweit aufsteigenden Parteien und Bewegungen, die im Namen eines halluzinierten „Volkes“ gegen Einwanderung, das Recht auf Asyl, internationale Kooperation, Multikulturalismus, Klimaschutz, Feminismus, den „Islam“, frühkindliche Sexualerziehung, das Rauchverbot in Kneipen, Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in Großstädten, Minderheitenrechte sowie gegen die Autonomie von Wissenschaft, Kunst, Justiz und Medien sind. In so unterschiedlichen Ländern wie Ungarn oder den USA kann man studieren, was passiert, wenn solche Strömungen an die Macht kommen. Aber Populismus ist eine ungenaue, allzu beschönigende Bezeichnung. Wer vom Populismus spricht, sollte über den Faschismus nicht schweigen.
Nun ist „Faschismus“ ebenfalls ein ungenauer Begriff, an dessen Schärfung seit einigen Jahren wieder mehr Sozial- und Kulturwissenschaftlerinnen arbeiten, wie man zum Beispiel an der seit 2012 erscheinenden Zeitschrift Fascism: Journal of Comparative Fascist Studies ablesen kann. Was unterscheidet den Faschismus neuen Typs, den wir heute beobachten, von seinem historischen Vorläufer? Es sind vor allem zwei Dinge. Erstens: Zwischen den 20er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren europäische Nationalsozialisten und Faschisten von dem Wahn besessen, einer revolutionären, maximal gewaltbereiten Elite anzugehören. Diese Elite sah ihre Aufgabe darin, einer vermeintlich verrotteten, historisch veralteten Gesellschaftsform den Todesstoß zu versetzen, um auf ihren Trümmern nichts weniger als eine radikal neue Ordnung, einen neuen Menschen und eine neue politische Religion zu etablieren. Der britische Faschismusforscher Roger Griffin hat das „palingenetischen Ultranationalismus“ genannt. Damit ist ein Nationalismus gemeint, der buchstäblich auf eine „Wiedergeburt“ (palingenesis) des Volkskörpers durch Zucht, Züchtigung und Ausrottung setzt.3 Auch wenn er nicht gänzlich verschwunden ist, hat dieser Mythos in der Zwischenzeit sehr viel von seiner psychoaktiven Kraft verloren.
Zweitens ist der eher reformistische und parlamentarisierte Faschismus der Gegenwart nicht länger an imperialistischen Kriegen und der Eroberung neuer „Lebensräume“ interessiert. Vielmehr ist er ebenso wie seine Gegner das Geschöpf einer kriegsmüden, individualisierten, post-heroischen Gesellschaft. Vielleicht träumen auch die neuen Faschisten noch von Staat und Nation als gepanzerten „Ganzheitsmaschinen“, wie Theweleit sie genannt hat, aber sie sind nicht von vergleichbaren, durch Krieg, Drill und Prügel geprägten Körperzuständen gezeichnet wie ihre Vorfahren nach dem ersten Weltkrieg.4 Die Aggressivität ist heute eine andere. Sie ist anders organisiert und geht in eine andere Richtung. An die Stelle der alten Klage vom „Volk ohne Raum“ tritt die neue Angst vor einem Raum ohne „Volk“ – einem nationalen Territorium, das allmählich und absichtlich in ein bloßes „Siedlungsgebiet“ (Alexander Gauland) für Migranten aus aller Welt verwandelt werde. Die neuen Rechtsradikalen möchten nicht die Welt erobern, sondern sie sich ganz unmetaphorisch – durch möglichst hohe Mauern, Einreiseverbote und ferne Auffanglager für Migranten – vom Leib halten.5
Dieses zentrale Element von Passivität und Rückzug lässt sich auch anders umschreiben. Der Historiker und Sinologe Karl August Wittfogel hat in seiner Studie über „orientalischen Despotismus“ die Unterscheidung zwischen zwei Machtformen eingeführt: der autoritären Kontrolle und der systematischen Vernachlässigung von Bevölkerungen.6 Im Sinne dieser Unterscheidung kämpft der neue „demokratische Faschismus“ (Roger Griffin) für die Wiedergewinnung einer möglichst umfassenden Kontrolle über das „eigene“ Land und seine Grenzen. Zugleich plädiert er für die Vernachlässigung der vielen anderen, die weit weg im Meer ertrinken, in der Wüste verdursten oder in Lagern zugrunde gehen. Dieser passive Faschismus, wie ich ihn nenne, möchte mehr Gleichgültigkeit gegenüber all denjenigen, die nicht zum eigenen, eng definierten nationalen Kollektiv gehören.
Das passt auch zu den eingangs erwähnten Leserbriefen an Die Welt. Wenn Erstsemester im Philosophie-Unterricht lernen sollen, was eine moralische Verpflichtung ist, hören sie das Beispiel von dem Schwimmer, der an einem Teich spazieren geht, in dem ein Kind zu ertrinken droht. Jedem ist dann klar, wozu der Schwimmer verpflichtet ist. Aber an den Anhängern und Mitläufern der neuen völkischen Bewegungen perlt das „Drowning Child“-Gedankenspiel ab. Sie werden nicht berührt vom unverschuldeten Leid der anderen, weil sie selbst in dem Gefühl leben, in den Fluten zu ertrinken, die sich über sie und „ihr“ Land in Gestalt von Flüchtlingen und Migranten ergießen. Sie sehen sich als Opfer eines geplanten oder nicht verhinderten „kulturellen Genozids“7 durch Masseneinwanderung. Jetzt warten sie auf jemanden, der sie rettet.
Bis es soweit ist, erfreuen sie sich an den Säuberungsphantasien der neuen Rechten und sind einverstanden damit, dass der Faschismus zumindest als Sprache und Ideologie zurückkehrt. Die Regierung des EU-Mitglieds Ungarn hat soeben Bücher von antisemitischen Ultranationalisten wie Ferenc Herczeg oder Albert Wass zur Pflichtlektüre an den Schulen des Landes erklärt, um eine neue Generation von europäischen Faschisten heranzuziehen. Und der Vorsitzende des Landesverbandes Thüringen der AfD erklärte im März, er möchte seine Gegner „ausschwitzen“.8
References
- K. Theweleit (2016), „‘Homophobie‘ – keine Ahnung, was das ist”, in: WestEnd, 13. Jg., Heft 2, S. 91.
- R. Breyton (2020), „Ich möchte mir nicht ausmalen, was dann passiert“, in: Die Welt, 16. März 2020; https://www.welt.de/politik/deutschland/article206562429/Corona-in-Griechenland-Dringender-denn-je-Lager-zu-evakuieren.html
- R. Griffin (2000), “Interregnum or Endgame? The Radical Right in the ‘Post-Fascist’ Era”, in: Journal of Political Ideologies, 5. Jg., Heft 2, S. 163–78. https://doi.org/10.1080/713682938.
- Zur Wiederentdeckung und Neuausgabe von Klaus Theweleits “Männerphantasien”, vgl. C. Amlinger (2020), “Männerkörper und Textfantasien“, in: Merkur, 74. Jg., Heft 850, S. 65–74; https://volltext.merkur-zeitschrift.de/article/pdf/5e4bbdaa4396614b398b457f/mr_2020_03_0065-0074_0065_01
- Zur Mauermetaphorik vgl. K. Freistein, F. Gadinger und C. Unrau (2020), „From the Global to the Everyday: Anti-Globalization Metaphors in Trump’s and Salvini’s Political Language”, Global Cooperation Research Papers 24, Käte Hamburger Kolleg Duisburg; https://www.gcr21.org/publications/gcr/research-papers/from-the-global-to-the-everyday-anti-globalization-metaphors-in-trumps-and-salvinis-political-language
- K. A. Wittfogel (1957), Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven, S. 157.
- So der Ausdruck des Juristen Reinhard Merkel bei einer Diskussion im KWI im Oktober 2019.
- Vgl. F. Klaus (2020), „Höcke will Menschen ‚ausschwitzen‘, die Disziplin und Einheit nicht leben“, in: Thüringische Landeszeitung, 16. März; https://www.tlz.de/politik/hoecke-will-menschen-ausschwitzen-die-disziplin-und-einheit-nicht-leben-id228706911.html
SUGGESTED CITATION: Heins, Volker M.: Droht ein neuer Faschismus?, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/droht-ein-neuer-faschismus/], 04.05.2020