Ole BartelsSimon LiebFahrstühle

Fahrstuhl und Fantasie

Fahrstuhl und Fantasie Der Imaginationsraum zwischen Fleisch und Stahl Erschienen in: Fahrstühle Von: Ole Bartels, Simon Lieb

Es gibt Räume außerhalb aller Orte, andere Räume mit anderen Regeln, die sich von ihrer Umgebung entscheidend abheben, nicht in ihr Gefüge passen. Zum Beispiel übriggebliebene Räume, bloße Schnipsel von Flächen, wie die verwaisten Grünstreifen zwischen Autobahnkreuzungen, oder ganz überladene, überzeichnete und geordnete Räume, wie das Casino, in dem die Zeichen der Spielautomaten auf fremde Länder verweisen und die Fenster strategisch angebracht werden. Und dann gibt es reale Räume, die manchmal gar keine Orte sein wollen, und vielleicht gerade deshalb in besonderem Maße mit allerlei Fantasie vollgestopft werden – wie den Fahrstuhl.

Plakativ erkennbar ist diese Dynamik zwischen realer und imaginativer Ebene des Fahrstuhls beispielsweise in der sogenannten BlowUp-Collage zum Fahrstuhl, einer Reihe des arte-YouTube-Kanals, in der regelmäßig Zusammenschnitte ikonischer Filmszenen hochgeladen werden, welche die Darstellungsfacetten eines bestimmten Gegenstands oder Orts im Film zusammenfassen sollen.

Bill Murray gähnt gelangweilt im Film Lost in Translation
Abbildung 1: Bill Murray gähnt gelangweilt im Film Lost in Translation (Bildquelle: Screenshot Arte BlowUp Video „Der Fahrstuhl im Film“: https://youtu.be/PdNLZNomwUE).1

Schaut man sich den entsprechenden Zusammenschnitt zum Thema Der Fahrstuhl im Film2 an, ist nämlich vor allem eins auffällig: Der extreme Wandel der gezeigten Bilder. Während der Zusammenschnitt zu Beginn noch aus Szenen wie Bill Murrays etwas müder Fahrstuhlfahrt in Lost in Translation oder leicht angespannter awkward silence zwischen Ralph Fiennes und seinen Liftboys im Grand Budapest Hotel besteht, verprügelt wenige Minuten später schon James Bond spektakulär einen Schurken, und im letzten Drittel dominieren schließlich Blutmassen und Horror das Geschehen. Neben dieser Eskalation von Angst und Gewalt kommt natürlich auch die sexuelle Seite nicht zu kurz, im Verlaufe des Zusammenschnitts dürfen wir diverse Paare bei zunehmend intensivem Körperkontakt beobachten. Wir kennen alle die etwas abwartenden, ausharrenden, latent angespannten Fahrstuhlfahrten. Doch Exzess von Sex, Gewalt und Horror im Fahrstuhl? Wohl doch eher eine Seltenheit. Und dennoch sind es diese Szenen, in denen der Fahrstuhl in den imaginativen Welten der Unterhaltung regelmäßig auftaucht. Die bewegte Kabine scheint regelrecht ein filmischer Lieblingsort für die Eskalation diverser Triebe zu sein.

Blutiger Fahrstuhl-Horror in The Shining
Abbildung 2: Blutiger Fahrstuhl-Horror in The Shining (Bildquelle: Screenshot Arte BlowUp Video „Der Fahrstuhl im Film“: https://youtu.be/PdNLZNomwUE).

Die arte-Collage zum Fahrstuhl im Film zeigt uns also einen real vertrauten Fahrstuhl angespannten Ausharrens einerseits – und eine imaginative Variante des Fahrstuhls andererseits, in der die totale fantastische Grenzüberschreitung die Oberhand hat. Um sich einer Erklärung anzunähern, wie dieses extreme Spannungsverhältnis zwischen realem und imaginativem Fahrstuhl zu Stande kommt, lohnt die genauere Betrachtung dessen, was den Fahrstuhl als Ort ausmacht und warum der Fahrstuhl ein Ort ist, der eigentlich gar keiner sein möchte. Überlegt man sich nämlich, was den vollkommenen Fahrstuhl auszeichnen würde, würde man wohl auf eine Art Beamer kommen, der uns ohne jedes Verharren in Zeit und Raum von Stockwerk A auf Stockwerk B bringen würde – was Fahrstühle (Stand jetzt) aber nicht sind, sodass eben dieses Verharren in Raum und Zeit zu Stande kommt. Durch dieses kleine, gewissermaßen unvollkommene Raumzeit-Loch, das der Fahrstuhl erzeugt, sind wir, wenn auch nur für ein paar Sekunden, zum Abwarten und Aushalten in einer kleinen Kabine verdammt. Eine Raumzeit, die „über“ ist, die eigentlich nicht existieren will, und es dennoch tut.
Folgt man den Ausführungen des Soziologen Richard Sennett in seinem Buch Fleisch und Stein3, ist das für uns als moderne Menschen ein ziemlich schwer zu ertragender Zustand, da der moderne Mensch stetiger Reizüberflutung ausgesetzt ist und sich deshalb permanent nach Reizschutz sehnt. Demnach bauen wir Städte so, dass Körper möglichst voneinander abgeschottet und intime Begegnungen minimiert sind. Der Fahrstuhl stellt da mit seinem erzwungenen Verharren in intimer Nähe von fremden Körpern eine unerwünschte Ausnahme dar.
Die Reaktion auf diese erzwungene Intimität ist dann das, was Foucault wohl als die disziplinarische Ordnung4 des Fahrstuhls bezeichnen würde. So eine Ordnung durchleben etwa die Charaktere von Bill Murray oder Ralph Fiennes, wenn sie in den genannten Filmszenen in ausharrender Anspannung oder erzwungenem Schweigen auf und ab fahren. Eine Ordnung als ein implizierter Regelkatalog, der angibt, in welcher Form die Körper den Prozess der Fahrstuhlfahrt zu vollführen haben.
Diesen Normkatalog des Fahrstuhls hat nun ein weiterer Soziologe, Stefan Hirschauer, detailliert beschrieben.5 Nicht nur die Frage, wo wir stehen, sondern beispielsweise auch die Frage, wie wir uns dahin begeben, also wer in welcher Reihenfolge an welche Stelle geht, wohin wir dabei schauen oder auch welche Geräusche wir während der Fahrt machen (oder eben nicht) sind streng geregelt. Als Passagier*in bedeutet das: Sind die Türen des Fahrstuhls zu, wird die Position des Körpers absolut. Der ruhig- und abgestellte Leib verharrt an Ort und Stelle, die Blicke finden ihre Linien, an die sie sich anschmiegen, bis die Kabine sich schließlich wieder öffnet, die Körper ihre Positionen verlassen dürfen und die Spannung langsam wieder abfällt. Das Verharren in Zeit und Raum bedeutet auch: Während der Fahrt gibt es nichts zu tun. Und wenn das Tun das Sein bestimmt, wird während der Fahrt versucht, nicht zu sein – und dafür wird viel getan. Um dieses Paradox etwas konkreter zu formulieren: Alle Aktivität zielt ab auf die Erzeugung von Passivität6, von Unkörperlichkeit, von Fremdheit. Für die kurze Spanne des Fahrstuhl-Fahrens entsteht der Versuch eine soziale Beziehungslosigkeit zu erzeugen, welche versucht die eigene Präsenz zu negieren und die eigene Anwesenheit auf den Zustand bloßen Existierens zu marginalisieren.

Was dann zu der Frage führt, wieso wir diesen flüchtigen und dennoch verdichteten Ort des so hochangespannten Nicht-Seins, des Nicht-Tuns und des Abwartens in der Fantasie mit so viel präsenter Existenz, Handlung und Lust füllen – worauf sich vermutlich antworten lässt: Gerade deswegen. Die erzwungene Affektarmut des sich Abwesend-Machens, der Versuch einen möglichst leeren Raum zu erzeugen, eröffnet Raum für all die Eskapaden, Aktivitäten und Beschäftigungen, die außerhalb der strengen Ordnung des Fahrstuhls möglich wären. Oder, ganz simpel gesagt: Je stärker das Verbot, je klarer die Grenze, desto größer die Lust und die Faszination an ihrer Überschreitung.

Ryan Gosling setzt zum Fahrstuhl-Knutschen in Drive an – Übrigens nur als Ablenkung, um einen weiteren Passagier kurz darauf kaltmachen zu können.
Abbildung 3: Ryan Gosling setzt zum Fahrstuhl-Knutschen in Drive an – Übrigens nur als Ablenkung, um einen weiteren Passagier kurz darauf kaltmachen zu können (Bildquelle: Screenshot Arte BlowUp Video „Der Fahrstuhl im Film“: https://youtu.be/PdNLZNomwUE).

Foucault hat die Ambivalenz solcher besonderen Orte, die durch eine strikte Ordnung gekennzeichnet sind und doch auch ganz andere Orte sind, als Heterotopien7 bezeichnet. Unter diesem Begriff versammelt er real existierende Orte, die eine bestimmte Ungreifbarkeit teilen, die gewissermaßen als in der Schwebe gehaltene Orte gelten können, weil sie sich signifikant von den Räumen im Gefüge um sie herum abheben. Sie sind der heterogene Rest in einem homologen Raumgefüge. Andere Beispiele hierfür wären z.°B. Friedhöfe, Bordelle, Schiffe, Theater oder Irrenanstalten. Foucault zufolge teilen gerade diese Orte ein so hohes Imaginationspotenzial, weil sich in ihnen gewisse Dinge, Praktiken und Subjekte sammeln, die in der sonstigen räumlichen Ordnung mit aller Kraft ausgeklammert und verdrängt werden, die also sonst „keinen Ort“8 haben – so ähnlich ist es auch beim Fahrstuhl der Fall. Auch hier drängt uns das Verharren im Korsett einer implizierten Ordnung die Existenz von intimen Affektmöglichkeiten auf, an denen wir in der räumlichen Ordnung des Alltags ansonsten nur allzu gerne vorbeihasten. Die moderne Stadt soll eben nicht gespürt werden, wie Sennett argumentieren würde. Passagier und Passant soll man sein, anstatt Begegnung und Berührung zu erfahren.
Das explosive Potential dieses Imaginationsraums Fahrstuhl liegt – nicht nur im Film – in den Momenten der Grenzüberschreitung: Hier ist es oft ein kleiner, aber performativer Akt, der in die Ordnung des Fahrstuhls eingreift und dadurch den Einbruch der Utopie in den Realraum ermöglicht. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen der Grenzüberschreitung: Während ein Flirt die etablierte Ordnung der Distanz nur teilweise konterkariert, die Grenze eher umspielt, als sie zu brechen, stellt Sex im Fahrstuhl die Grenzüberschreitung par excellence dar. Die Ordnung, die sich abmüht, um Begegnung zu vermeiden, schlägt in ihr Gegenteil um. Einen weiteren Ordnungsbruch stellt ein technischer Defekt dar: Der Fahrstuhl bleibt stecken, die Türen öffnen sich nicht, das Licht geht aus. Der Raum selbst streikt, und nötigt die Mitfahrenden zur Kommunikation. Der Fahrstuhl besitzt sogar seinen eigenen utopischen Gegenstand: der berühmt-berüchtigte Stopp-Knopf im Fahrstuhl. Per Knopfdruck eine flüchtige Berührung andauern lassen, die Türen verschlossen halten. Ein Traum – aber eben nur das, kaum ein Fahrstuhl besitzt ihn wirklich. Der Stopp-Knopf im Fahrstuhl, ein durch und durch mythisches Objekt.

Abbildung 4: Der berühmt-berüchtigte Stopp-Knopf kommt in einer actiongeladenen Kampfszene im Film Merantau zum Einsatz (Bildquelle: Screenshot Arte BlowUp Video „Der Fahrstuhl im Film“: https://youtu.be/PdNLZNomwUE).

Es ist ein Spiel zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Und obwohl die Ordnung wohl den Regelfall darstellt, ist es doch nie unmöglich, dass hin und wieder etwas Utopie durchbricht, sich das Imaginative materialisiert oder der Apparat versagt. Der Fahrstuhl als Ort, der keiner sein will, der sich Mühe gibt, so gut es geht zu verschwinden – und gerade deshalb im Fantastischen bemerkenswert präsent ist. Als Oberfläche für Exzess oder Abstinenz; als ein Ort, in dem immer wieder das Andere erscheinen kann. Dabei gilt im Fahrstuhl stets: Je geordneter der Raum, desto stärker das Potenzial der Transgression.

References

  1. Alle Abbildungen in diesem wissenschaftlichen Blogartikel werden als Bildzitat nach §51 UrhG verwendet.
  2. Arte-Youtube-Kanal: Serien und Filme, BlowUp: „Der Fahrstuhl im Film“: https://youtu.be/PdNLZNomwUE (letzter Zugriff: 18.05.2022).
  3. Sennett, Richard (1995): Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin: Berlin Verlag. S. 426.
  4. Foucault, Michel (2008): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Surveiller et punir, 1975), in: Michel Foucault. Die Hauptwerke, GA, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 701-1021, hier: S. 922.
  5. Hirschauer, Stefan (2005): On Doing Being a Stranger: The Practical Constitution of Civil Inattention. In: Journal for the Theory of Social Behaviour, 35(1). S. 41-67. https://doi.org/10.1111/j.0021-8308.2005.00263.x.
  6. Sennett, Richard (1995): S. 415.
  7. Foucault, Michel (1992): Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig. S. 34-46., hier: S. 39.
  8. Ibid.

SUGGESTED CITATION: Bartels, Ole; Lieb, Simon: Fahrstuhl und Fantasie. Der Imaginationsraum zwischen Fleisch und Stahl, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/fahrstuhl-und-fantasie/], 01.08.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220801-0830

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